Mittwoch, 23. Januar 2013

Dreißigkrise erstmal verschoben


Email aus New York - Sommer 2003

Vielen Dank Euch allen für die zahl- und einfallsreichen Segenswünsche, Ratschläge und Aufmunterungen zum runden Geburtstag, der deutlich intensiver und tiefsinniger kommentiert wurde als alle früheren Wiegenfeste zusammen.

Die elektronischen Nachrichten, umsäumt von fernmündlichen Highlights der - nichts für ungut - immer etwas aktiveren Kreischziegen, reichten von einem schmeichelhaften Hinweis eines Gratulanten darauf, daß ich immer alles zu erreichen schiene, was ich mir in den Kopf setze, und ihm daher nur noch übrig bliebe, mir Gesundheit und einen guten Start in Paris zu wünschen, über offenbar tiefempfundene Gratulationen dazu, daß mir durch meinen geschickt geplanten Amerika-Aufenthalt nun das erniedrigende Treppenfegen am Rathaus unter johlendem Applaus meiner "Lieben" erspart bliebe, bis zu den Ausführungen eines (überforderten oder zu kurz gekommenen?) Kollegen über die rege Libido dreißigjähriger Frauen, mit der Männer mit zunehmenden Lenzen immer weniger mithalten könnten.

Der krönende Abschluß der Reigen der Gratulanten war, wie sollte es anders sein, meine Mutter, die mir nach einem längeren Vortrag über die Wetterlage am 6. August 1972, die komplikationsfreie Geburt und das einhellige Entzücken sämtlicher Hebammen und sporadischer Krankenhausbesucher über das Ergebnis, ebenso tief und fest wie unaufgefordert versprach, den "Freundin"-Artikel mir dem Titel "Jung, erfolgreich und unzufrieden: Die neuen Dreißigjährigen" zu studieren, um mich bei unserem nächsten Telefonat über dessen Inhalt unterrichten zu können.

Natürlich darf man sich dem Zeitgeist nicht komplett entziehen, und deswegen habe ich sehr ernsthaft und intensiv darüber nachgedacht, ob es jetzt nicht geradezu meine Pflicht sei, eine allumfassende bridgetjonesmäßige Dreißigkrise hinzulegen, in Panik über mein unausgefülltes Berufsleben zu verfallen und heimlich Lebensläufe während der Arbeitszeiten zu verfassen, um dieses Problem zu bekämpfen. Dazu müßte ich dann Alkoholeinheiten und Kalorien zählen (was ist eigentlich eine Alkoholeinheit?), um der ausufernden Pfunde Herr zu werden, und umgehend jede Party, auf der nach meinem brachliegenden Liebesleben gefragt wird, mit einem Nervenzusammenbruch verlassen. Aber Problem 1 und 2 erschienen mir augenblicklich für unaufgesetzt wirkende Panik nicht akut genug, zumal ich in New York vor lauter Aktivität wieder einmal kaum richtig zum Essen gekommen bin, und ich mich eher etwas schwach auf den Beinen fühle. Aus Problem 3 ließe sich hingegen sicherlich etwas Größeres machen, nicht zuletzt weil mir Gesas Mutter angesichts meiner Ausbildung und sonstiger Qualifikationen nur minimale Chancen auf dem Heiratsmarkt einräumt. Auf der anderen Seite legte mir eine sehr erfahrene Nachbarin beim Galao im Transmontana unlängst sehr überzeugend dar, daß man noch keinen echten Anlaß zur Sorge hätte, solange die Leute noch direkt nach dem mangelnden Partner fragen. Schlimm würde es erst, wenn nur noch hinter vorgehaltener Hand darüber getuschelt würde. Außerdem finden sich in letzter Zeit öfter Einladungen zum Weintrinken nach Hoboken, blumige Komplimente und liebevoll zusammengestellte CDs mit damit verknüpften Einladungen an italienische Strandparadiese ein. Nachdem ich über ein Jahr lang vergeblich darauf gewartet hatte, daß die jungen Männer in Scharen gewaltsam in mein dunkles Büro im Hamburger WiWi-Bunker eindringen, während ich mich ausschließlich Problem 1 widmete, geben mir auch schon solche Kleinigkeiten großen Auftrieb. Also habe ich mich dazu entschlossen, mich an die Heldinnen der neuen "Sex and the City" Staffel zu halten, die hier gerade angelaufen ist. Ich will mich darum bemühen, schön, lebensfroh, beruflich erfolgreich und gegebenenfalls promiskuitiv zu sein. Wenn sich die Sache mit dem Lebenspartner in fünf Jahren nicht von selbst erledigt hat, kann ich mit der Panik ja nochmal neu ansetzen.

Pünktlich zu meinem Geburtstag flog Silke nach einer dramatischen Diss-Abgabe, einer durcharbeiteten und zwei durchfeierten Nächten in New York ein. Nun will ich nicht behaupten, daß die Ankunft reibungslos verlief, aber immerhin im Ergebnis erfolgreicher als die von Sandra und Birgit. Jedenfalls gelang es uns irgendwie, schwer bepackt mit Picknick-Material an dem See im Central Park aufzulaufen, den ich für meine Feier ausgewählt hatte, noch bevor sämtliche Geburtstagsgäste den malerischen Ort mit Blick auf ein Miniaturschloß und Wolkenkratzer wieder verlassen hatten. Die ebenso zahlreichen wie raffinierten Salate, die ich unter Yvonnes strenger Aufsicht am Vorabend liebevoll zusammengestellt hatte, wurden hoch gelobt, ebenso wie die Größe und die Internationalität der Geburtstagsgesellschaft. Tatsächlich palaverten wir auf allen möglichen Sprachen wild durcheinander, tranken Wein, lachten, scherzten und schlugen die Laute, bis uns die Parkwächter unterstützt von den Ratten aus dem Park verjagten.

Nach einem Absacker in einer naheliegenden Bar, mußte ich die übernächtigte Silke durch die schwerste F-Zug-wird-zum-G-Zug-und-ich-folge-blind-einem-Brooklyner-der-selbst-keine-Ahnung-hat-Krise seit meiner Ankunft im wesentlichen tragen. Seither haben wir uns jedoch glänzend amüsiert, waren mit Maurizio, Luca und Ana in Harlem im Jazzclub und in Coney Island mit den Russen baden, wo wir uns von einem lettischen Theologiestudenten, der einmal ein Auslandssemester in einem russisch-orthodoxen Bischofssitz bei München (?) verbracht hatte, Pelmeni servieren ließen. Zum Glück schläft Silke so lange, daß ich auch am Wochenende noch alle meine Arbeiten erledigen kann, bevor ich sie und ihren Unternehmungsgeist nach Kräften unterstütze.

Alle, die sie kennen, ahnen schon, daß sie das Image der müden Silke unter keinen Umständen auf sich beruhen lassen wollte. Also sind wir am Sonnabend nach dem obligatorischen PS1-Techno mit integriertem Kunstgenuß nach Brooklyn in die Smith Street geeilt, wo die italienische NYU-Community nicht nur geschlossen wohnt, sondern auch gerne lärmend und wild gestikulierend zum Essen ausgeht. Dort sind wir blind ihren Menüvorschlägen gefolgt, was sich als wesentlich erfolgreicher herausstellen sollte, als Brooklynern auf F-Zug-Odysseen zu folgen. Leider lehnten es zumindest die Paare mit eifrigen Vertröstungen auf das kommende Wochenende kategorisch ab, Silke und mir ins East Village zum Tanzen zu folgen. Am Sonntag beim Frühstück gestanden sie mir hinter vorgehaltener Hand, daß sie Angst vor Silkes offensichtlich großer Motivation gehabt hatten. Verständlich.

Nur Paolo wartete mit einer amerikanischen und einer russischen Freundin an der Bleeker Street auf uns, so daß die italienischen Buschtrommeln es bereits am nächsten Morgen bis an die Smith-Street kommuniziert hatten, daß wir auf dem Weg von Carroll Gardens nach Manhattan einen netten jungen Mann namens Derrick kennengelernt hatten. Natürlich bei F-Zug-Unregelmäßigkeiten! Er sollte sich als sehr wertvoller Szenekenner entpuppen, wenn er uns auch allesamt in den A-Zug in Richtung Far Rockaway anstatt nach Manhattan lotste. Nachdem er uns zahlreiche Tanz- und Trink-Hotspots empfohlen hatte, waren wir jedoch bereit, darüber hinwegzusehen, und luden ihn ein, uns auf einen Drink zu folgen.

Derrick arbeitet für AT&T im Mobilfunkbereich. Neben seinen Szenetipps hat uns sehr seine Erklärung dafür erfreut, warum die Europäer anders als in allen anderen Hochtechnologiebereichen im Mobilfunk einen gewissen Vorsprung vor den Amerikanern haben. Staunend durften wir erfahren, dies sei darauf zurückzuführen, daß es für die Europäer besonders lohnend war, ein Mobilfunknetz einzurichten, während die Amerikaner doch bereits überall schon Kabel verlegt hatten und daher auf ein funktionierendes Festnetz zurückgreifen konnten. Am nächsten Tag analysierten wir, daß Derrick wohl von einigen ländlichen Gebieten Finnlands auf das europäische Ganze geschlossen haben müsse. Da uns allen gelegentlich nicht ganz zulässige Verallgemeinerungen unterlaufen, haben wir es ihm nachgesehen, zumal sich sein Szenetipps als erstklassig erweisen sollten.

Nachdem wir uns im Tapis Rouge so lange die Füße zusammen mit geschmeidigen Afroamerikanern wund getanzt hatten, bis es Silke zu grabschig wurde, beschlossen wir uns auf die Suche nach einer geeigneten Bar für einen Absacker zu machen. Das kann kaum später als drei Uhr gewesen sein. Trotzdem sollte sich die Suche als äußerst schwierig erweisen, und dies obwohl wir uns in Manhattans Nr. 1 Vergnügungsviertel befanden. Wir irrten solange verzweifelt auf der Suche nach der 10th Street Lounge umher, bis Silke einen etwa mittezwanzigjährigen Blondschopf mit einem wildgemusterten Polyesterhemd aus einem Taxi zog, das ihn und seine Freunde wohl mit ähnlichen Absichten wie unseren gerade in dieser Gegend absetzte. Es bedurfte kaum großer Mühen, ihn davon zu überzeugen, seine Freunde stehenzulassen und stattdessen uns auf unseren Absacker zu begleiten.

Nur war die 10th Street Lounge natürlich geschlossen, was soll man auch anderes erwarten in New York City, wenn die Nacht gerade erst angefangen hat. Auch eine längere Taxifahrt nach Tribeca ins Sugar sollte sich in alkoholischer Hinsicht als vollkommen fruchtlos erweisen. Dafür erzählte uns Chris, der sich uns als koksender Investmentbanker empfahl, eine spannende Geschichte, wie er von einem angeblichen Undercover-Polizisten in der Vornacht beim Drogenkonsum beobachtet und danach um 900 US-Dollar erleichtert wurde. Natürlich sicherten wir ihm sofort unsere Sympathie und die Übernahme aller anfallenden Taxi- und Getränkekosten zu, was ihm wiederum peinlich zu sein schien. In Tribeca überschütteten wir ihn solange mit Hohn und Spott über "the City that never sleeps", in der man um halb vier noch nicht einmal mehr ein Bier bekommt, bis er verzweifelt bei einem Delivery Service anrief, und mit der Zusatzerklärung, daß er zwei junge deutsche Damen zu versorgen hätte, zwei Sechser-Packs Brooklyn Lager orderte. Als Silke schließlich in seiner vollkommen verwahrlosten Investment-Banker-Junggesellenwohnung in Lagerfeuermanier die Bierflaschen entschlossen mit dem Feuerzeug öffnete, brach der sichtlich ermüdete, wenn auch bestens unterhaltene Mann, endgültig zusammen.

Ich versuchte ihm noch das Versprechen abzunötigen, daß er im nächsten September beim Messiahs-Sing-In in der Avery Fisher Hall mitsingen würde. Entrüstet verwahrte er sich dagegen, daß ich sein Leben ändern wolle, das nun einmal nur aus Arbeiten und Ausgehen bestünde. Dabei hatte ich eigentlich nur in die Gestaltung eines einzigen Abends eingreifen wollen. Nach ein paar matten Versuchen, uns mit seinen Drogengeschichten zu beeindrucken, gestand er uns schließlich unter Tränen - na, ja, beinahe jedenfalls- , daß er eigentlich nur deswegen so viel kokst, trinkt und ausgeht, weil er schüchtern ist und hofft, auf diese Art und Weise eine Frau kennenzulernen und sich zu verlieben, um endlich nicht mehr koksen, trinken und ausgehen zu müssen.

Immerhin erwies er sich als vollendeter Gentleman und begleitete uns morgens um sieben zur U-Bahn, die uns völlig überraschend auf direktem Wege sicher nach Hause brachte.

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