Email aus New York - Sommer 2003
Vielen Dank Euch allen für die zahl- und einfallsreichen
Segenswünsche, Ratschläge und Aufmunterungen zum runden Geburtstag, der
deutlich intensiver und tiefsinniger kommentiert wurde als alle früheren
Wiegenfeste zusammen.
Die elektronischen Nachrichten, umsäumt von fernmündlichen
Highlights der - nichts für ungut - immer etwas aktiveren Kreischziegen,
reichten von einem schmeichelhaften Hinweis eines Gratulanten darauf, daß ich
immer alles zu erreichen schiene, was ich mir in den Kopf setze, und ihm daher
nur noch übrig bliebe, mir Gesundheit und einen guten Start in Paris zu
wünschen, über offenbar tiefempfundene Gratulationen dazu, daß mir durch meinen
geschickt geplanten Amerika-Aufenthalt nun das erniedrigende Treppenfegen am
Rathaus unter johlendem Applaus meiner "Lieben" erspart bliebe, bis
zu den Ausführungen eines (überforderten oder zu kurz gekommenen?) Kollegen
über die rege Libido dreißigjähriger Frauen, mit der Männer mit zunehmenden
Lenzen immer weniger mithalten könnten.
Der krönende Abschluß der Reigen der Gratulanten war, wie
sollte es anders sein, meine Mutter, die mir nach einem längeren Vortrag über
die Wetterlage am 6. August 1972, die komplikationsfreie Geburt und das einhellige
Entzücken sämtlicher Hebammen und sporadischer Krankenhausbesucher über das
Ergebnis, ebenso tief und fest wie unaufgefordert versprach, den
"Freundin"-Artikel mir dem Titel "Jung, erfolgreich und
unzufrieden: Die neuen Dreißigjährigen" zu studieren, um mich bei unserem
nächsten Telefonat über dessen Inhalt unterrichten zu können.
Natürlich darf man sich dem Zeitgeist nicht komplett
entziehen, und deswegen habe ich sehr ernsthaft und intensiv darüber
nachgedacht, ob es jetzt nicht geradezu meine Pflicht sei, eine allumfassende
bridgetjonesmäßige Dreißigkrise hinzulegen, in Panik über mein unausgefülltes
Berufsleben zu verfallen und heimlich Lebensläufe während der Arbeitszeiten zu
verfassen, um dieses Problem zu bekämpfen. Dazu müßte ich dann Alkoholeinheiten
und Kalorien zählen (was ist eigentlich eine Alkoholeinheit?), um der
ausufernden Pfunde Herr zu werden, und umgehend jede Party, auf der nach meinem
brachliegenden Liebesleben gefragt wird, mit einem Nervenzusammenbruch
verlassen. Aber Problem 1 und 2 erschienen mir augenblicklich für unaufgesetzt
wirkende Panik nicht akut genug, zumal ich in New York vor lauter Aktivität
wieder einmal kaum richtig zum Essen gekommen bin, und ich mich eher etwas
schwach auf den Beinen fühle. Aus Problem 3 ließe sich hingegen sicherlich
etwas Größeres machen, nicht zuletzt weil mir Gesas Mutter angesichts meiner
Ausbildung und sonstiger Qualifikationen nur minimale Chancen auf dem
Heiratsmarkt einräumt. Auf der anderen Seite legte mir eine sehr erfahrene
Nachbarin beim Galao im Transmontana unlängst sehr überzeugend dar, daß man
noch keinen echten Anlaß zur Sorge hätte, solange die Leute noch direkt nach
dem mangelnden Partner fragen. Schlimm würde es erst, wenn nur noch hinter
vorgehaltener Hand darüber getuschelt würde. Außerdem finden sich in letzter
Zeit öfter Einladungen zum Weintrinken nach Hoboken, blumige Komplimente und
liebevoll zusammengestellte CDs mit damit verknüpften Einladungen an
italienische Strandparadiese ein. Nachdem ich über ein Jahr lang vergeblich
darauf gewartet hatte, daß die jungen Männer in Scharen gewaltsam in mein
dunkles Büro im Hamburger WiWi-Bunker eindringen, während ich mich
ausschließlich Problem 1 widmete, geben mir auch schon solche Kleinigkeiten
großen Auftrieb. Also habe ich mich dazu entschlossen, mich an die Heldinnen
der neuen "Sex and the City" Staffel zu halten, die hier gerade
angelaufen ist. Ich will mich darum bemühen, schön, lebensfroh, beruflich
erfolgreich und gegebenenfalls promiskuitiv zu sein. Wenn sich die Sache mit
dem Lebenspartner in fünf Jahren nicht von selbst erledigt hat, kann ich mit
der Panik ja nochmal neu ansetzen.
Pünktlich zu meinem Geburtstag flog Silke nach einer
dramatischen Diss-Abgabe, einer durcharbeiteten und zwei durchfeierten
Nächten in New York ein. Nun will ich nicht behaupten, daß die Ankunft
reibungslos verlief, aber immerhin im Ergebnis erfolgreicher als die von Sandra
und Birgit. Jedenfalls gelang es uns irgendwie, schwer bepackt mit
Picknick-Material an dem See im Central Park aufzulaufen, den ich für meine
Feier ausgewählt hatte, noch bevor sämtliche Geburtstagsgäste den malerischen
Ort mit Blick auf ein Miniaturschloß und Wolkenkratzer wieder verlassen hatten.
Die ebenso zahlreichen wie raffinierten Salate, die ich unter Yvonnes strenger
Aufsicht am Vorabend liebevoll zusammengestellt hatte, wurden hoch gelobt,
ebenso wie die Größe und die Internationalität der Geburtstagsgesellschaft. Tatsächlich palaverten wir auf allen möglichen Sprachen wild durcheinander,
tranken Wein, lachten, scherzten und schlugen die Laute, bis uns die
Parkwächter unterstützt von den Ratten aus dem Park verjagten.
Nach einem Absacker in einer naheliegenden Bar, mußte ich
die übernächtigte Silke durch die schwerste F-Zug-wird-zum-G-Zug-und-ich-folge-blind-einem-Brooklyner-der-selbst-keine-Ahnung-hat-Krise
seit meiner Ankunft im wesentlichen tragen. Seither haben wir uns jedoch
glänzend amüsiert, waren mit Maurizio, Luca und Ana in Harlem im Jazzclub und
in Coney Island mit den Russen baden, wo wir uns von einem lettischen
Theologiestudenten, der einmal ein Auslandssemester in einem
russisch-orthodoxen Bischofssitz bei München (?) verbracht hatte, Pelmeni
servieren ließen. Zum Glück schläft Silke so lange, daß ich auch am Wochenende
noch alle meine Arbeiten erledigen kann, bevor ich sie und ihren
Unternehmungsgeist nach Kräften unterstütze.
Alle, die sie kennen, ahnen schon, daß sie das Image der
müden Silke unter keinen Umständen auf sich beruhen lassen wollte. Also sind
wir am Sonnabend nach dem obligatorischen PS1-Techno mit integriertem
Kunstgenuß nach Brooklyn in die Smith Street geeilt, wo die italienische
NYU-Community nicht nur geschlossen wohnt, sondern auch gerne lärmend und wild
gestikulierend zum Essen ausgeht. Dort sind wir blind ihren Menüvorschlägen
gefolgt, was sich als wesentlich erfolgreicher herausstellen sollte, als
Brooklynern auf F-Zug-Odysseen zu folgen. Leider lehnten es zumindest die Paare
mit eifrigen Vertröstungen auf das kommende Wochenende kategorisch ab, Silke
und mir ins East Village zum Tanzen zu folgen. Am Sonntag beim Frühstück
gestanden sie mir hinter vorgehaltener Hand, daß sie Angst vor Silkes
offensichtlich großer Motivation gehabt hatten. Verständlich.
Nur Paolo wartete mit einer amerikanischen und einer
russischen Freundin an der Bleeker Street auf uns, so daß die italienischen
Buschtrommeln es bereits am nächsten Morgen bis an die Smith-Street
kommuniziert hatten, daß wir auf dem Weg von Carroll Gardens nach Manhattan
einen netten jungen Mann namens Derrick kennengelernt hatten. Natürlich bei
F-Zug-Unregelmäßigkeiten! Er sollte sich als sehr wertvoller Szenekenner
entpuppen, wenn er uns auch allesamt in den A-Zug in Richtung Far Rockaway
anstatt nach Manhattan lotste. Nachdem er uns zahlreiche Tanz- und
Trink-Hotspots empfohlen hatte, waren wir jedoch bereit, darüber hinwegzusehen,
und luden ihn ein, uns auf einen Drink zu folgen.
Derrick arbeitet für AT&T im Mobilfunkbereich. Neben
seinen Szenetipps hat uns sehr seine Erklärung dafür erfreut, warum die
Europäer anders als in allen anderen Hochtechnologiebereichen im Mobilfunk
einen gewissen Vorsprung vor den Amerikanern haben. Staunend durften wir
erfahren, dies sei darauf zurückzuführen, daß es für die Europäer besonders
lohnend war, ein Mobilfunknetz einzurichten, während die Amerikaner doch
bereits überall schon Kabel verlegt hatten und daher auf ein funktionierendes
Festnetz zurückgreifen konnten. Am nächsten Tag analysierten wir, daß Derrick
wohl von einigen ländlichen Gebieten Finnlands auf das europäische Ganze
geschlossen haben müsse. Da uns allen gelegentlich nicht ganz zulässige
Verallgemeinerungen unterlaufen, haben wir es ihm nachgesehen, zumal sich sein
Szenetipps als erstklassig erweisen sollten.
Nachdem wir uns im Tapis Rouge so lange die Füße zusammen
mit geschmeidigen Afroamerikanern wund getanzt hatten, bis es Silke zu
grabschig wurde, beschlossen wir uns auf die Suche nach einer geeigneten Bar
für einen Absacker zu machen. Das kann kaum später als drei Uhr gewesen sein. Trotzdem
sollte sich die Suche als äußerst schwierig erweisen, und dies obwohl wir uns
in Manhattans Nr. 1 Vergnügungsviertel befanden. Wir irrten solange verzweifelt
auf der Suche nach der 10th Street Lounge umher, bis Silke einen etwa
mittezwanzigjährigen Blondschopf mit einem wildgemusterten Polyesterhemd aus
einem Taxi zog, das ihn und seine Freunde wohl mit ähnlichen Absichten wie
unseren gerade in dieser Gegend absetzte. Es bedurfte kaum großer Mühen, ihn
davon zu überzeugen, seine Freunde stehenzulassen und stattdessen uns auf
unseren Absacker zu begleiten.
Nur war die 10th Street Lounge natürlich geschlossen, was
soll man auch anderes erwarten in New York City, wenn die Nacht gerade erst
angefangen hat. Auch eine längere Taxifahrt nach Tribeca ins Sugar sollte sich
in alkoholischer Hinsicht als vollkommen fruchtlos erweisen. Dafür erzählte uns
Chris, der sich uns als koksender Investmentbanker empfahl, eine spannende
Geschichte, wie er von einem angeblichen Undercover-Polizisten in der Vornacht
beim Drogenkonsum beobachtet und danach um 900 US-Dollar erleichtert wurde.
Natürlich sicherten wir ihm sofort unsere Sympathie und die Übernahme aller
anfallenden Taxi- und Getränkekosten zu, was ihm wiederum peinlich zu sein
schien. In Tribeca überschütteten wir ihn solange mit Hohn und Spott über
"the City that never sleeps", in der man um halb vier noch nicht
einmal mehr ein Bier bekommt, bis er verzweifelt bei einem Delivery Service
anrief, und mit der Zusatzerklärung, daß er zwei junge deutsche Damen zu versorgen
hätte, zwei Sechser-Packs Brooklyn Lager orderte. Als Silke schließlich in
seiner vollkommen verwahrlosten Investment-Banker-Junggesellenwohnung in
Lagerfeuermanier die Bierflaschen entschlossen mit dem Feuerzeug öffnete, brach
der sichtlich ermüdete, wenn auch bestens unterhaltene Mann, endgültig
zusammen.
Ich versuchte ihm noch das Versprechen abzunötigen, daß er
im nächsten September beim Messiahs-Sing-In in der Avery Fisher Hall mitsingen
würde. Entrüstet verwahrte er sich dagegen, daß ich sein Leben ändern wolle,
das nun einmal nur aus Arbeiten und Ausgehen bestünde. Dabei hatte ich
eigentlich nur in die Gestaltung eines einzigen Abends eingreifen wollen. Nach
ein paar matten Versuchen, uns mit seinen Drogengeschichten zu beeindrucken,
gestand er uns schließlich unter Tränen - na, ja, beinahe jedenfalls- , daß er
eigentlich nur deswegen so viel kokst, trinkt und ausgeht, weil er schüchtern
ist und hofft, auf diese Art und Weise eine Frau kennenzulernen und sich zu
verlieben, um endlich nicht mehr koksen, trinken und ausgehen zu müssen.
Immerhin erwies er sich als vollendeter Gentleman und
begleitete uns morgens um sieben zur U-Bahn, die uns völlig überraschend auf
direktem Wege sicher nach Hause brachte.
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