Samstag, 19. Januar 2013

Über Viren und die menschliche Eitelkeit/acht Millionen geschundene 11.-September-Seelen


Email aus New York, Sommer 2002

Nachdem es etliche Klagen über zusammenbrechende Mailboxen gab, alle Leser mit hotmail-account die letzte, reich bebilderte Nachricht nicht erhalten haben, und Malte Bedenken äußerte, die knallharte digitale Realität könne eventuell hinter meinen blumigen Schilderungen zurückbleiben, habe ich mich entschieden, mich doch wieder mehr auf meine Qualitäten als Geschichtenerzählerin zu konzentrieren und allenfalls ab und zu noch einmal ein besonders gelungenes Foto zu schicken. Ich sage mir "Schuster bleib bei Deinen Leisten", denn schließlich will ich nicht so enden wie Daimler Benz, die jedesmal auf die Nase fallen, wenn sie versuchen sich zu diversifizieren.

Nun habe ich aus Angst vor Viren, drei Jahre lang von jeder Datei, die meine Doktorarbeit betraf, völlig umsonst Sicherheitskopien gemacht : Eine auf dem Desktop, eine auf dem Notebook, eine auf dem Server und eine mußte mein Vater jeden Abend auf seinem Computer ablegen, ohne genau zu wissen, was er da tut. Jetzt hat es mich getroffen. Ein Wurm schlich sich auf meinem Computer ein, den mir Werner Bönte geschickt hatte, wahrscheinlich als Dank dafür, daß ich immer seine Aufsätze lese und mit meinen intelligenten Kommentaren Schwung in seine wissenschaftliche Karriere bringe.

Ich habe keinerlei Anhänge geöffnet und mich auch sonst völlig korrekt verhalten. Die Betreffzeile war sofort verdächtig, dennoch wollte ich eben mal "previewen", wie man im Hacker-Slang sagt, um zu sehen, ob es doch etwas Wichtiges ist. Schon war es passiert. Das Virenkiller-Programm ließ sich aus irgendeinem Grund nicht installieren, was ich sogleich auf die üblen Machenschaften des Virus zurückführte. Nach mehreren Stunden hektischen Recherchierens im Internet und etlichen panischen Anrufen bei Luca und Malte, der zur Ruhe mahnte, hatte ich dann auch irgendwann den Namen des Virus, genauer handelte es sich um einen Wurm, herausgefunden und mich über die Besonderheiten seiner Übeltaten informiert. Eigentlich gab es im Internet auch Anleitungen, wie man ihn manuell entfernen kann, aber so richtig konnte ich mit alledem nichts anfangen. Nachdem Alejandro anfing, mir von seiner Grippe zu erzählen, als ich ihn um Hilfe bei dem Kampf gegen den Virus bat, kam ich zu dem Schluß, daß hier Fachmann ranmuss und machte mich auf zu Computer Services am Astor Place.

Ich sollte bei dieser Gelegenheit kurz anfügen, daß hier trotz 30 Grad Celsius Außentemperatur jeder Grippe hat, weil sich die Amerikaner einen Spaß daraus machen, mit ihrer Klimaanlage Büros und U-Bahnen auf Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt zu bringen und dafür Straßen und U-Bahn-Schächte auf 40 Grad zu heizen. Neulich erzählte Anna, daß 1.) die Frau von Francesc mit Winterpulli und HEIZKÖRPER ins Büro geht und daß 2.) der angehende Vermieter ihrer Freundin mit einem entnervten "Oh you Europeans with your windows" reagierte, als sie sich erkundigte, ob man vielleicht die Fenster auch öffnen könne. Das ist dann immer unser Einsatz, verzweifelt die Hände gen Himmel zu strecken und in ein lautes europäisches Wehklagen über die Sünden und Perversionen der Amerikaner auszubrechen. Das ist unser Lieblingsspiel, wir machen das mindestens einmal am Tag. Insgeheim stelle ich mir vor, daß die alten Germanen Ähnliches taten, wenn sie mit ihren Keulen in Rom zu Besuch waren, und die Patrizier dabei beobachteten, wie sie mit Pfauenfedern in ihrem Hals kitzelten, um nachher noch ein bißchen weiter essen zu können. Man fühlt sich dann einfach nicht mehr so schäbig dabei, auf den Bäumen zu leben. Ist es das?

Aber zurück zum Thema: Auf der Reeperbahn fällt es mir ab und zu mal schwer, junge Männer zu bezirzen, aber wenn ein feindlicher Virus droht meine getane Arbeit zu zerstören und künftige Schaffenskraft zu hemmen, dann kann ich zu Höchstformen auflaufen. Sicher ist es nicht die Aufgabe von NYUs Computer Services Abteilung Viren von den privaten Computer illegal eingereister Gäste zu entfernen, doch der Chinese am Empfang war im Handumdrehen mein und Schwups hatte ich einen Termin am nächsten Tag, für den er sich ein geschlagene Stunde Zeit nahm, um gemeinsam mit mir dem Virus den Garaus zu machen.

Da ich nun schon so ein persönliches Verhältnis zu ihm geknüpft hatte, faßte ich die Gelegenheit beim Schopfe, um mich über ein Rätsel aufklären zu lassen, das meiner Freundin Ines keine Ruhe läßt: Was veranlaßt Virenprogrammierer zu ihren Missetaten? Das sei doch nicht so, daß man dadurch zu Ruhm und Ehren gelangen könnte, argumentiert Ines leidenschaftlich und wild gestikulierend - fast wie ein Italiener, der sich über Amerika aufregt – so wie wenn man einen Aufsatz im „American Economic Review“ veröffentlicht. Und doch ist es genau das, erklärte mir der Chinese. "Recognition" gab er als Motivation an. Als ich einwandte, daß doch niemand wissen könne, wer den Virus programmiert hat, antwortete er "your peers will know". Also, Ines, weißt Du jetzt Bescheid? Für den „American Economic Review“ interessieren sich schließlich auch nur die anderen Torfköpfe, die davon träumen, dort zu veröffentlichen. Wenn man ein bißchen abstrakt denkt, ist alles im Leben im Grunde das gleiche.

Eine interessante Studie über die menschliche Eitelkeit konnten wir auch am Mittwoch anfertigen, als ich mit Sophie aus Starnberg zu "Spice" ging, einer Tanzveranstaltung auf einem Bootssteg in Chelsea. Dort fegte ein ausgesprochen gutaussehender Türke in unserem Alter wie ein junger Salsa-Gott über die Tanzfläche. Er sollte sich nur wenig später als Sophies Doktorvater entpuppen. Zunächst tanzte er etliche gewagte Salsas mit seiner Doktorandin, nicht ohne sie dabei fallen zu lassen. Ich hoffe, daß ist kein böses Omen für ihre Diss, aber ich glaube nicht. Das sieht alles sehr chefig aus, was sie da macht. Dann beklagte er sich darüber, er würde immer bemitleidet, wenn er seinen Beruf angibt. Hochschullehrer zu sein, ist hier in Amerika nur wenig prestigeträchtiger als Highschool-Lehrer und vor allem auch nicht sehr viel lukrativer. Auch wenn wir uns das immer anders vorstellen, in Amerika gibt es 20 bis 50 Elite-Universitäten, für die man ein toller Hecht sein muß, um dort unterrichten zu dürfen, und an denen die Professoren gut verdienen. An den restlichen 6000 Universitäten arbeiten dem Türken zufolge nur arme Teufel. Und irgendwie gelingt es dem bemitleidenswerten Kerl wohl nicht, seinen Gesprächspartnern unterzujubeln, daß er zu der ersten Kategorie gehört.

Ich wollte schon Mitleid mit ihm haben, weil ich befürchtete, daß er immer in der Einkommensklasse zwischen 20.000  und 30.000 Dollar eingeordnet wird (auch darüber klagte er), und dann trotz angenehmer äußerer Erscheinung keine Schnitte beim schönen Geschlecht hat. Aber dann wollte Sophie von ihm die schmutzigen Details der Cocktail-Party anläßlich der Society of Economics Design Konferenz erfahren. Als er lahm behauptete, es gäbe nichts Interessantes zu berichten, konfrontierte sie ihn kurzerhand mit den Knutschflecken, mit denen er offenbar bei seinem Vortrag aufgelaufen war.

Zum einen bin ich jetzt sehr beeindruckt, denn ich kann mir beim besten Willen keinen meiner Professoren Salsa tanzend vorstellen und noch viel weniger mit Knutschflecken auf einer Konferenz. Zum anderen glaube ich jetzt Ines Schilderungen aufs Wort, daß wissenschaftliche Konferenzen hauptsächlich zum Trinken und Flirten genutzt werden, und daß man bei letzterem Vergnügen sich als Frau eindeutig auf der kurzen Marktseite bewegt. Ich freue mich jetzt doppelt auf Venedig und Lissabon. Sophie meint übrigens, sie hätte jetzt eine Menge für unser beider Vergnügen getan und nächstes Mal müsse ich nun N. mit zum Tanzen bringen. Ich habe versprochen, dies bei unserem nächsten wissenschaftlichen Gespräch anzuregen, aber meistens kann ich mich sowieso nicht durch die Phalanx afghanischer Gesandter und finster dreinblickender Warlords bis zu seinem Büro kämpfen. Hinzu kommen noch gewisse Zweifel, ob N. die Salsa-Schritte so beherrscht wie sein junger Kollege, aber davon habe ich Sophie nichts erzählt.

Am Donnerstag war ich im Pfiff, wo Luca kellnert und nahm etliche Drinks mit einem jungen Mann zu mir, der sich mir als westfälischer Bauer vorstellte. Er würde nur vorübergehend eine Fett-Eiweiß-Diät machen - das ist jetzt die neueste Entdeckung in Amerika – in der langen Frist bräuchte er dann aber wieder Kartoffeln. Beruflich macht der westfälische Bauer übrigens Direktmarketing. Unter anderem vermarktet er das Acht-Minuten-Dating, bei dem man mit acht verschiedenen Menschen des anderen Geschlechts jeweils acht Minuten reden muß, um dann schnell zu entscheiden, ob man eine Freundschaft, eine Liebesbeziehung, eine Geschäftsbeziehung oder gar nichts mit ihnen anfangen will.

Danach schüttete mir Lucas Chef, der ein westfälischer Bildhauer und im Nebenberuf Gastronom ist, sein Elftes-September-Herz aus. Er schilderte alle Details, wie er das erste Flugzeug kommen sah, zunächst noch an ein Unglück glaubte, dann aber das zweite kam, und wie innerhalb von fünf Sekunden der erste Turm zusammenbrach. Um dies zu veranschaulichen, zählte er immer wieder bis fünf. Dann die nächsten Tage, wie man ihn nicht mehr nach SoHo zu seiner Wohnung lassen wollte, weil er Ausländer war, wie ihn die Polizei diskriminierte und so weiter und so fort. Und nun kommen die Auswärtigen nicht mehr in sein Restaurant, sondern bleiben schön in Brooklyn und New Jersey. Das glaube ich sofort, denn heute kommt mich Jenny besuchen, die nach dem elften September nie wieder in New York war. Sie ist völlig außer sich vor Angst. Ich weiß gar nicht, was sie hier erwartet, außer daß man leider die Türme nicht mehr sehen kann.

Persönliche Geschichten vom elften September hört man hier von fast jedem, mit dem man länger als eine halbe Stunde spricht. Am 4. Juli haben wir am Grill Stunden damit verbracht. "Everyone has their story - there are eight million of them" meinte Brians englischer Mitbewohner zufrieden, als er mit seiner fertig war. Die Ausländer sind übrigens sehr viel gelassener als die Amerikaner, wahrscheinlich haben die einfach nicht genug Katastrophenerfahrung. Umso weniger verstehe ich, warum Bush so heiß darauf ist, den Irak anzugreifen.

Nachdem Dave nun jahrelang das amerikanische System gegeißelt hat und so stolz darauf war, Israeli und Deutscher zu sein, aber kein Amerikaner, will er sich nun doch einbürgern lassen Seine Begründung: " I wanna kick Osama Bin Laden’s ass".

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