Sonntag, 13. Januar 2013

Amerikanischer Patriotismus


Email aus New York, Sommer 2002

Heute ist eine große Premiere denn erstmalig wird mein Bericht von den Ergebnissen erster Gehversuche mit der digitalen Kamera begleitet. Von einem illustrierten New York Bulletin will ich lieber nicht sprechen, denn noch tue ich mich mit dem Licht etwas schwer und insbesondere meine Nachtaufnahmen lassen noch sehr zu wünschen übrig. Unten eine kleine Kostprobe aufgenommen während eines Freilichtkinobesuchs in Midtown Manhattan. Freue mich über alle Tips, wie man meine Aufnahmen verbessern könnte.

Dennoch ist es ein großes Glück, daß ich meine Berichte nunmehr illustrieren kann, denn so kann ich Euch einen sehr anschaulichen Eindruck davon vermitteln, zu welcher Blüte der amerikanische Patriotismus nach dem 11. September gelangt ist. Nicht nur mein morgendlicher Weg zur U-Bahn ist von amerikanischen Flaggen gesäumt, sondern auch mein Vermieter John mit seinem Hang zu allzu knappen Shorts und sein Nachbar lassen ihre Flaggen um die Wette flattern. Damit ich auf keinen Fall vergesse, daß der American Spirit unzerstörbar ist, hat mir John auch gleich noch eine Flagge über den Kopf gehängt. Hierbei muß ich betonen, daß es sich bei meiner Haustür nicht etwa um den prunkvollen weißen Eingang mit der Zahl 1661 handelt. Ich taste jeden Abend im Dunkeln die Türe links unten ab und versuche die Schlüssellöcher zu finden. Dabei schicke ich Stoßgebete in den Himmel, daß keine Maus gemeinsam mit mir das Kellerloch betritt. John war nämlich so geschickt, zwar eine Lampe vor meiner Tür zu montieren, diese läßt sich aber nur von innen ein- und ausschalten. Und da ich keineswegs den Ehrgeiz habe, es den Amerikanern in Sachen Energieverschwendung gleichzutun, verzichte ich darauf, morgens das Licht anzuschalten und verlasse mich lieber nachts auf meinen Tastsinn.

Der Nachteil, daß man das Außenlicht nur von innen anstellen kann, wird allerdings hinlänglich dadurch ausgeglichen, daß ich dafür Johns Licht in seinem Treppenhaus anstelle, wenn ich versehentlich den falschen Schalter erwische. Hierauf machte mich John vergangene Woche erbost mit einem nächtlichen Anruf aufmerksam. Bei dieser Gelegenheit konnte ich mich wieder einmal davon überzeugen, daß die Amerikaner augenscheinlich nichts davon halten, Häuser mit soliden Türen oder Wänden zu bauen. Ich konnte allen Ernstes hören, wie John die Tasten seines Telefons betätigte, bevor es bei mir klingelte. Im Grunde genommen hätte er mir sein Anliegen auch ohne Telefon vortragen können.

Zur Entlastung der New Yorker Bürger in Sachen ostentativen Patriotismus sollte ich hinzufügen, daß die Bürger von Park Slope Stadtmeister im Flagge zeigen sind. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß diese Gegend zwar als "Best Literary Neighborhood" bekannt ist, aber die Literaten hier scheinen alle WASPs zu sein. Für Nichteingeweihte: White Anglo-Saxon Protestants. Aber abgesehen davon, daß mir meine Nachbarn manchmal zu weiß sind und zu hitzig Flagge zeigen, ist Park Slope sehr schön: Lebendig, voller Cafés und Restaurants und mit einem wunderschönen Park ausgestattet, in dem ich es fertig gebracht habe, gestern Abend anläßlich eines Freiluftkonzerts ohne Ausnahme alle meine Freunde zu verpassen. Na ja, dafür bin ich heute bestens ausgeschlafen...

Heute morgen habe ich bereits meine nachbarschaftlichen Verhältnisse gepflegt, indem ich einer jungen Frau im Waschsalon zuraunte, daß ihr Schild aus dem knappen Oberteil hinge - sie war sehr dankbar. Weniger gut gelang mir die Nachbarschaftspflege mit einer jungen Frau, die nicht nur das Schild, sondern gleich ein Viertel ihrer Unterhose hervorlugen ließ, vermutlich um ihre Tätowierung gleich darüber zur Geltung zu bringen. Nein, natürlich habe ich sie nicht darauf aufmerksam gemacht. Ich bin weltgewandt und erfahren und weiß, daß solcherlei Outfit bei den jungen Leuten in Mode ist. Ich wollte sie lediglich in eine Diskussion über die New Yorker Müllprobleme verwickeln und mich darüber empören, daß Bürgermeister Bloomberg das Recyceln von Plastik und Flaschen einstellen ließ, wie in meiner New York Times zu lesen war. Daraufhin ergriff sie ohne ein Wort des Abschieds die Flucht, obwohl wir doch gerade erst so gemütlich auf den Stühlen vor dem Waschsalon Platz genommen hatten. Vielleicht hätte ich doch lieber über Ecstasy sprechen sollen...

Den amerikanischen Nationalfeiertag grillte ich bei hundert Prozent Luftfeuchtigkeit gemeinsam mit dem Fleisch in einem Brooklyner Hinterhof und ließ mich von den dort ansässigen Muskelpaketen darüber aufklären, ob wann, wie oft und unter welchen Umständen ihre Ehefrauen die Polizei rufen, wenn sie sich mit ihnen streiten. Danach jagte ich mit NYU-Studenten aus Kansas und Mobile, Alabama, auf dem Dach von Brians Haus Flaschenraketen in die Luft, offenbar um dem 4.-Juli-Feuerwerk ein bißchen Dampf zu machen, während Brians Mitbewohner aus London verärgert in seinen nichtvorhandenen Bart grummelte, er wolle diesen "White Trash" auf seinem Dach haben. Wer mich etwas besser kennt, ahnt schon, daß ich an der Böllerei nicht einmal passiv beteiligt war, aber wenigsten wißt ihr jetzt, daß ich schon bestens in Brooklyn integriert bin.

Um die Integration zu beschleunigen, habe ich auch bereits mit Sandra aus Starnberg, die an der NYU promoviert und passenderweise im puertoricanischen Teil Williamsburgs mit ihrem chilenischen Freund lebt, in ihrer Nachbarschaft Tango getanzt. Wegen Männermangels übernahm ich galant die Führung. Sophie zeigte sich allerdings ein bißchen verhalten, da die Drehung, die wir einstudieren sollten, in einer kunstvollen Verhakelung unserer Beine bestand und daher im hohen Maße erotisch war. Dennoch hatten wir eine Menge Spaß und haben nun vor, uns demnächst auf Outdoor-Tango-Safari zu begeben.

Ansonsten sehe ich meine alten Freunde alle wieder, war schon mit Elio im Central Park in der Freilichtoper, mit Yvette, Helena und David malayisch essen, mit einer bunten Mischung aus Italienern, Japanern und Peruanern am Strand in Long Island und mit meinem alten argentinischen Mitbewohner Lucas im Central Park. Danach dürstete uns sehr nach einem Aperitif. Leider begingen wir dabei den großen Fehler, unsere erste Gelegenheit hierzu in der 52. Straße links liegen zu lassen, in der Hoffnung wir könnten noch etwas Besseres finden. Dieser Wunsch erfüllte sich allerdings erst nach einem mehrstündigen Fußmarsch durch ganz Manhattan im East Village zu einer Uhrzeit, zu der die meisten Menschen schon den Digestiv hinter sich haben. Wir merken uns für später: Die Amerikaner halten nicht viel vom Aperitif.

Lucas bereitet übrigens gerade eine Demo-Version einer wöchentlichen Fashion-und-Celebrities-Sendung vor, die er an einen Latino-Sender verkaufen will. Luli, seine Mitbewohnerin, macht sich demnächst nach Mexico City auf. Nachdem sie sich mehrere Jahre in New York mit Hip-Hop-Tanzstunden und Gesangsunterricht auf ihre Karriere als Popstar vorbereitet hat, ist sie nun zu dem Schluß gekommen, daß sie das Feld von hinten aufrollen und erstmal in Lateinamerika ein Star werden sollte, bevor sie den US-amerikanischen Markt erobert. Aber seit ich strikt Maltes Rat befolge, immer zu antworten "I work with models", wenn ich nach meiner Profession gefragt werde, komme ich im künstlerischen New York bestens klar.

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