Email aus New York, Sommer 2002
Heute ist eine große Premiere denn erstmalig wird mein
Bericht von den Ergebnissen erster Gehversuche mit der digitalen Kamera
begleitet. Von einem illustrierten New York Bulletin will ich lieber nicht
sprechen, denn noch tue ich mich mit dem Licht etwas schwer und insbesondere
meine Nachtaufnahmen lassen noch sehr zu wünschen übrig. Unten eine kleine
Kostprobe aufgenommen während eines Freilichtkinobesuchs in Midtown Manhattan.
Freue mich über alle Tips, wie man meine Aufnahmen verbessern könnte.
Dennoch ist es ein großes Glück, daß ich meine Berichte
nunmehr illustrieren kann, denn so kann ich Euch einen sehr anschaulichen
Eindruck davon vermitteln, zu welcher Blüte der amerikanische Patriotismus nach
dem 11. September gelangt ist. Nicht nur mein morgendlicher Weg zur U-Bahn ist
von amerikanischen Flaggen gesäumt, sondern auch mein Vermieter John mit seinem
Hang zu allzu knappen Shorts und sein Nachbar lassen ihre Flaggen um die Wette
flattern. Damit ich auf keinen Fall vergesse, daß der American Spirit
unzerstörbar ist, hat mir John auch gleich noch eine Flagge über den Kopf
gehängt. Hierbei muß ich betonen, daß es sich bei meiner Haustür nicht etwa um
den prunkvollen weißen Eingang mit der Zahl 1661 handelt. Ich taste jeden Abend
im Dunkeln die Türe links unten ab und versuche die Schlüssellöcher zu finden.
Dabei schicke ich Stoßgebete in den Himmel, daß keine Maus gemeinsam mit mir
das Kellerloch betritt. John war nämlich so geschickt, zwar eine Lampe vor
meiner Tür zu montieren, diese läßt sich aber nur von innen ein- und
ausschalten. Und da ich keineswegs den Ehrgeiz habe, es den Amerikanern in
Sachen Energieverschwendung gleichzutun, verzichte ich darauf, morgens das
Licht anzuschalten und verlasse mich lieber nachts auf meinen Tastsinn.
Der Nachteil, daß man das Außenlicht nur von innen anstellen
kann, wird allerdings hinlänglich dadurch ausgeglichen, daß ich dafür Johns
Licht in seinem Treppenhaus anstelle, wenn ich versehentlich den falschen
Schalter erwische. Hierauf machte mich John vergangene Woche erbost mit einem
nächtlichen Anruf aufmerksam. Bei dieser Gelegenheit konnte ich mich wieder
einmal davon überzeugen, daß die Amerikaner augenscheinlich nichts davon
halten, Häuser mit soliden Türen oder Wänden zu bauen. Ich konnte allen Ernstes
hören, wie John die Tasten seines Telefons betätigte, bevor es bei mir
klingelte. Im Grunde genommen hätte er mir sein Anliegen auch ohne Telefon
vortragen können.
Zur Entlastung der New Yorker Bürger in Sachen ostentativen
Patriotismus sollte ich hinzufügen, daß die Bürger von Park Slope Stadtmeister
im Flagge zeigen sind. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß diese
Gegend zwar als "Best Literary Neighborhood" bekannt ist, aber die
Literaten hier scheinen alle WASPs zu sein. Für Nichteingeweihte: White
Anglo-Saxon Protestants. Aber abgesehen davon, daß mir meine Nachbarn manchmal
zu weiß sind und zu hitzig Flagge zeigen, ist Park Slope sehr schön: Lebendig,
voller Cafés und Restaurants und mit einem wunderschönen Park ausgestattet, in
dem ich es fertig gebracht habe, gestern Abend anläßlich eines Freiluftkonzerts
ohne Ausnahme alle meine Freunde zu verpassen. Na ja, dafür bin ich heute
bestens ausgeschlafen...
Heute morgen habe ich bereits meine nachbarschaftlichen Verhältnisse
gepflegt, indem ich einer jungen Frau im Waschsalon zuraunte, daß ihr Schild
aus dem knappen Oberteil hinge - sie war sehr dankbar. Weniger gut gelang mir
die Nachbarschaftspflege mit einer jungen Frau, die nicht nur das Schild,
sondern gleich ein Viertel ihrer Unterhose hervorlugen ließ, vermutlich um ihre
Tätowierung gleich darüber zur Geltung zu bringen. Nein, natürlich habe ich sie
nicht darauf aufmerksam gemacht. Ich bin weltgewandt und erfahren und weiß, daß
solcherlei Outfit bei den jungen Leuten in Mode ist. Ich wollte sie lediglich
in eine Diskussion über die New Yorker Müllprobleme verwickeln und mich darüber
empören, daß Bürgermeister Bloomberg das Recyceln von Plastik und Flaschen
einstellen ließ, wie in meiner New York Times zu lesen war. Daraufhin ergriff
sie ohne ein Wort des Abschieds die Flucht, obwohl wir doch gerade erst so
gemütlich auf den Stühlen vor dem Waschsalon Platz genommen hatten. Vielleicht
hätte ich doch lieber über Ecstasy sprechen sollen...
Den amerikanischen Nationalfeiertag grillte ich bei hundert
Prozent Luftfeuchtigkeit gemeinsam mit dem Fleisch in einem Brooklyner
Hinterhof und ließ mich von den dort ansässigen Muskelpaketen darüber
aufklären, ob wann, wie oft und unter welchen Umständen ihre Ehefrauen die Polizei
rufen, wenn sie sich mit ihnen streiten. Danach jagte ich mit NYU-Studenten aus
Kansas und Mobile, Alabama, auf dem Dach von Brians Haus Flaschenraketen in die
Luft, offenbar um dem 4.-Juli-Feuerwerk ein bißchen Dampf zu machen, während
Brians Mitbewohner aus London verärgert in seinen nichtvorhandenen Bart
grummelte, er wolle diesen "White Trash" auf seinem Dach haben. Wer
mich etwas besser kennt, ahnt schon, daß ich an der Böllerei nicht einmal
passiv beteiligt war, aber wenigsten wißt ihr jetzt, daß ich schon bestens in
Brooklyn integriert bin.
Um die Integration zu beschleunigen, habe ich auch bereits
mit Sandra aus Starnberg, die an der NYU promoviert und passenderweise im
puertoricanischen Teil Williamsburgs mit ihrem chilenischen Freund lebt, in
ihrer Nachbarschaft Tango getanzt. Wegen Männermangels übernahm ich galant die
Führung. Sophie zeigte sich allerdings ein bißchen verhalten, da die Drehung,
die wir einstudieren sollten, in einer kunstvollen Verhakelung unserer Beine
bestand und daher im hohen Maße erotisch war. Dennoch hatten wir eine Menge
Spaß und haben nun vor, uns demnächst auf Outdoor-Tango-Safari zu begeben.
Ansonsten sehe ich meine alten Freunde alle wieder, war
schon mit Elio im Central Park in der Freilichtoper, mit Yvette, Helena und
David malayisch essen, mit einer bunten Mischung aus Italienern, Japanern und
Peruanern am Strand in Long Island und mit meinem alten argentinischen
Mitbewohner Lucas im Central Park. Danach dürstete uns sehr nach einem Aperitif.
Leider begingen wir dabei den großen Fehler, unsere erste Gelegenheit hierzu in
der 52. Straße links liegen zu lassen, in der Hoffnung wir könnten noch etwas Besseres
finden. Dieser Wunsch erfüllte sich allerdings erst nach einem mehrstündigen
Fußmarsch durch ganz Manhattan im East Village zu einer Uhrzeit, zu der die
meisten Menschen schon den Digestiv hinter sich haben. Wir merken uns für
später: Die Amerikaner halten nicht viel vom Aperitif.
Lucas bereitet übrigens gerade eine Demo-Version einer
wöchentlichen Fashion-und-Celebrities-Sendung vor, die er an einen Latino-Sender
verkaufen will. Luli, seine Mitbewohnerin, macht sich demnächst nach Mexico
City auf. Nachdem sie sich mehrere Jahre in New York mit Hip-Hop-Tanzstunden
und Gesangsunterricht auf ihre Karriere als Popstar vorbereitet hat, ist sie
nun zu dem Schluß gekommen, daß sie das Feld von hinten aufrollen und erstmal
in Lateinamerika ein Star werden sollte, bevor sie den US-amerikanischen Markt
erobert. Aber seit ich strikt Maltes Rat befolge, immer zu antworten "I
work with models", wenn ich nach meiner Profession gefragt werde, komme
ich im künstlerischen New York bestens klar.
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