Montag, 4. Oktober 2010

Perpignan, die Katalonin

Heute Nachmittag wollen wir uns Perpignan ansehen, die einstmals stolze Haupstadt von Nordkatalonien. Katalonien ist eine von mehreren Grenzregionen, deren spanischer Teil um Unabhängigkeit und deren französischer Teil um Aufmerksamkeit vom Rest des Landes kämpft. Der Schatz hält den spanischen Separatismus – wie alle anderen Separatismen auch - für nichts als Wohlstandschauvinismus. Die wollen den ärmeren Regionen des Landes einfach nichts abgeben genau wie die Norditaliener und die Flamen, sagt er und schnaubt dabei wütend durch seine sozialistischen Nüstern. Ich will das nicht auschließen aber immerhin geben sich die Spanier Mühe, ihre materialistischen Ziele mit Folklore zu verbrämen: Volkstänze, lokale Köstlichkeiten, Regionalsprachen, von denen entweder niemand weiß, woher sie kommen, oder die kaum als bessere Dialekte taugen, und Bombenlegen. Die französische Seite dieser Regionen gehört in der Regel zu den Armenhäusern des Landes und hat kein Interesse daran, sich in die Freiheit zu tanzen oder gar zu bomben. Sie setzt ihre Folklore in den Sommermonaten ein in der Hoffnung Touristen aus anderen Teilen Frankreichs ein bisschen mehr Geld aus der Tasche zu locken. Der französische Finanzausgleich besteht bekanntlich daran, alles Geld – ähnlich wie allen Frischfisch und alle Züge – nach oder zumindest über Paris zu schicken. Rückflüsse können die Regionen nur mit Geschäftstüchtigkeit oder List erwirken.

Auf dem Weg zum Zug geraten wir auf dem staubigen Dorfplatz, wo sonntags Markt gehalten wird, in eine Tanzveranstaltung. Sie soll den Stadtbewohnern Gelegenheit bieten, zusammen mit den Touristen ihre Katalanität zu feiern. Rätselhaft erscheint mir, warum dabei zum Donauwalzer aufgespielt wird. Der Schatz erklärt das damit, dass die Habsburger einst in Katalonien regiert hätten. Er kümmert sich nicht um meinen Einwand, dass das deutlich vor Johann Strauss' Zeiten war, und fordert mich statt dessen ohne weitere Umschweife wie beiläufig zum Tanz auf. Gerade so als wenn er damit nicht einen Bann bräche, der seit Jahren auf unseren Reisen lastet: In Jalta verpassten wir es am Ufer des Schwarzen Meeres zu den Klängen einer Kurkapelle zu tanzen. In Chile trauten wir es uns nicht zu, am Nationalfeiertag die Cueca-Schritte der Einheimischen nachzuahmen. Auf einer Milonga in Buenos Aires kamen wir uns nach nicht mehr als einer kläglichen Einführungsstunde in einer Berliner Schwulentanzschule zu amateurhaft vor, um uns unter die Tangoprofis zu mischen und selbst beim jährlichen Sommerfest von Paris Plage verpassten wir es, am Seineufer inmitten einer gut gelaunten Menge aus allen Altersklassen Rock' n Roll zu tanzen. Hier aber an der französischen Mittelmeerküste drehen wir uns schneller und geschickter als alle einheimischen Senioren. Danach erreichen wir knapp, aber beschwingt von unserem Mut den Zug nach Perpignan.

Die Bahnhofsstraße von Perpignan ist ein wahres Aushängeschild für die Stadt. Hier liefern sich Kebabverkäufer erbitterte Preiskriege und zahnlose Bettler strecken uns ihre tiefbraunen Arme entgegen, während sie etwas von einem Euro lallen. Eine Romamutter plaudert mit einer Gruppe finster dreinblickender Männer und schiebt dabei einen Kinderwagen hin und her, in dem eine ausschließlich mit verdreckter Windel bekleidete Vierjährige sitzt und an ihrem Schnuller nuckelt.

Bahnhofsviertel sind seltend anziehend sagen wir uns und machen uns schleunigst auf den Weg zum Tourismusbüro, das uns reichhaltig mit Informationsmaterial über die laufende Fotojournalismusausstellung ausstattet, die Fachleute aus aller Welt anlockt. Die bieten mit ihren Akkreditierungsschildern um den Hals und ihrer sorgfältig ausgesuchten Garderobe einen bemerkenswerten Kontrast zu der verarmten Bevölkerung der Stadt.

48 Stunden Neukölln ist nichts dagegen. Das ist die Veranstaltung, bei der sich pensionierte 68er-Lehrer aus Charlottenburg und Bundesbeamte mittleren Alters aus dem Prenzlauer Berg einmal im Jahr in den Kiez wagen, den Berliner aus mehr als 160 Nationen ihre Heimat nennen, wie der Bezirksbürgermeister nicht müde wird zu betonen. Die pensionierten und noch aktiven Beamten vergraben ihr Gesicht tief im Programmheft, um bizarre, moderne Kunstwerke in Kiezkneipen, an Straßenecken und in leer stehenden ehemaligen Postämtern aufzuspüren, die ortsansässige Künstler kreiert haben, ohne dass es ihnen dabei gelungen wäre, ihren Nachbarn einen Sinn dafür zu vermitteln. Sexy gekleidete Mädchen mit Schleier begegnen den Vogelstimmeninstallationen am Straßenrand mit einigem Unverständnis. Auch die Flashmob-artigen Performances von nur mit Lidltüten bekleideten Künstlern rufen eher Kopfschütteln bei den Ortsansässigen hervor. Die amüsieren sich lieber damit, Kunstliebhaber aus anderen Teilen der Stadt zu erschrecken, indem sie den Freigänger mimen:

„ Ey Alter isch muss jetzt auflegen. Isch muss um sechs wieder in Knast sein.“

Die Kontraste von Perpignan spotten dieser Idylle.

Gemeinsam mit vereinzelten Akkreditierungsschilderjournalisten verlieren wir uns im Quartier St. Jacques, dem einstigen Judenghetto, das sich heute die Roma mit Maghrebinern teilen. Wenn das, was sich hier abspielt, ein Schauspiel sein soll, um Fotojournalisten zu erschrecken, dann haben die Roma von Perpignan den Büchnerpreis verdient. Ihre Häuser sind Schmuckstücke aus dem 18. Jahrhundert mit gußeisernenen Balkonen. Sehr pittoresk für den außen stehenden Betrachter, doch die letzte Renovierung fand mit Sicherheit vor dem letzten Weltkrieg statt. Ein Mädchen im Grundschulalter läuft nur mit Unterhose bekleidet und mit Schnuller im Mund auf der Straße herum, während die Erwachsenen auf Stühlen und Bänken am Straßenrand sitzen und gleichgültig die Szenerie betrachten. Der Schnuller scheint ihr das unvermeidliche Accessoire aller unbekleideten Kinder unter zehn zu sein. Derweil machen Zehnjährige mit frisierten Mopeds auf Fußgänger Jagd. Ich überlege, ob sie die von dem konservativen Bürgermeister haben, dem vorgeworfen wird, die Stimmen der Roma mit Kühlschränken und Mopeds gekauft zu haben, während ich hilflos versuche, die Straßenkarte mit dem Straßenbild in Einklang zu bringen. Ein hoffnungsloses Unterfangen: Zwar haben alle Straßen gleich zwei Namen, einen französischen und einen katalanischen, aber von denen stimmt keiner mit denen auf der Karte überein. Als die Verwirrung perfekt ist, springt ein etwa fünfjähriger Junge, der frühzeitig seine Milchzähne verloren hat, hinter einem Auto hervor, hält uns eine Zigarette entgegen und verlangt nach Feuer. Hinter ihm stimmt ein tief dunkler Roma mit stattlichem Bauch ein dröhnendes Gelächter an. Der Schatz spricht von Kreisen, die sich immer enger um uns schließen und verlangt,das Viertel zu verlassen. Auf dem Weg kommen wir an einem sozialen Wohnungsbau vorbei, in dessen Hof sich knietief der Müll stapelt. Vor der Kirche steht ein Polizist, auf der Bank gegenüber rauchen Zehnjährige.

Dank der Vernachläsigung des Quartier St. Jacques reichte das Geld für eine üppige Begrünung und sorgfältige Renovierung des Klosters, wo die Hauptausstellung stattfindet. Vor dem Gebäude wartet eine Menschentraube auf Einlass: Junge Kunsthungrige ausgestattet mit den Sonnenbrillen der Saison, die ortsansässige Bourgeoisie – er in Anzug mit Krawatte, sie im Seidenkleid – und teils verlotterte, teils exzentrische Fotojournalisten. Ein weißhaariger Mitsechziger im grauen Dreiteiler und mit Strohhut ruft laute Klagen über die Launen der Journalisten in sein Mobiltelefon, die nicht zufrieden zu stellen seien. Wir sind uns einig, dass wir nach unseren Erlebnissen von St. Jacques nicht mehr die Nerven haben, um uns inmitten einer solchen Mengen an Fotos von obdachlosen Familien und Polizeieinsätzen in New Yorks heißesten Vierteln vorbei zu drängen.

Auf dem Weg zur Kathedrale geraten wir dann doch noch in eine Ausstellung, die zehn Jahre Afghanistan dokumentiert. Nicht, dass die Bilder nicht bekannt wären: Spielende Kinder in den Trümmern von Kabul, finstere Warlords in Militärfahrzeugen, die sie wer weiß wo herbekommen haben, und Burkafrauen auf dem Weg zu schwer zu identifizierenden Besorgungen in öden Tälern, wo vor vierzig Jahren Obst wuchs, mit dem Afghanistan ganz Zentralasien versorgte. Im Moment fällt es mir noch schwerer als sonst zu glauben, dass die Obstgärten der Paschtunen einmal wieder blühen, die Gebäude von Kabul wieder stehen und die Frauen außerhalb der Hauptstadt das Alphabet lernen werden. Ebenso habe ich Schwierigkeiten, mir für Perpignans Zukunft eine neue Blüte von Industrie und Handel vorzustellen, die französische und spanische Herrscher einmal wieder dazu brächte, sich um die Vorherrschaft in der Stadt zu schlagen.

Nachdem wir in einer Kirche zu absoluter Ruhe angehalten und in einem Museum mit Hinweis auf Renovierungsarbeiten abgewiesen worden sind, beschließen lassen wir uns erschöpft in einem Café nieder. Diesmal fahren die helmlosen Zehnjährigen mit ihren frisierten Mopeds vom Bürgermeister so schnell sie können gegen Fahrtrichtung in die Einbahnstraße. Hier haben die kleinen Mädchen sogar Hosen an. Eine besonders hübsche Neunjährige hat sich zum Spielen auf der Straße gar als Zigeunerprinzessin verkleidet. Oder will sie eher eine orientalische Bauchtänzerin sein, die einen Kalifen vor dem Schlafen gehen betören soll? Ihr Lidstrich ist so kunstvoll geschwungen wie er mir auch nach zwanzig Jahren Übung nie gelingen würde. Die dunklen Samthaare sind raffiniert mit aufwändig verzierten Spangen aus nachgeahmtem Silber hoch gesteckt. Üppiger Modeschmuck ziert ihren Ausschnitt, auch wenn darunter noch keine Wölbung zu erkennen ist. Ihr bauchfreier Zweiteiler besteht im Wesentlichen aus zarten schwarzen Fransen, mit denen ihre Freundin gerne spielt. Die beiden lungern auf den Pollern am Straßenrand herum, kichern zusammen mit einem kleinen Mädchen im Jeanskleid, das als einzige wie ein Kind aussieht, und spielen mit einer Wasserpunpe herum.

Aus der gegenüberliegenden Gasse kommt ein älteres, blasses Mädchen mit einem Katzenbaby auf dem Arm angelaufen. Ein Siebenjähriger mit gekonnt gegelten Haaren trägt ihr den dazugehörigen Transportkorb hinterher, was ihn nicht davon abhält, sich wie der König der Straßenkinder zu gebärden. Nachdem sich alle Kinder um die Katze versammelt haben, stürzen sich laut bellend die kalbsgroßen Hunde eines Penners auf die kleine Truppe, die sich nicht so recht zwischen Jauchzen und Angstschreien entscheiden kann. Der Penner hat offensichtliche Mühe, die Situation unter Kontrolle zu bekommen.

Derweil hat sich eine 1,90 Meter große Deutsche mit ihrem zerzausten Begleiter am Nachbartisch niedergelassen. Ihre Sonnenbrille hält überflüssigerweise den blonden Kurzhaarschnitt zurück, während sie mit einer breitrandigen, roten Designerbrille die Speisekarte studiert. Sie ist Fotojournalistin bei Stern oder Spiegel, befindet der Schatz. Der verlotterte Begleiter ist das eigentliche Frontschwein ist, das in den Kriegsgebieten dieser Erde durch schlammige Minenfelder robbt, in dem Versuch, den diesjährigen Fotojournalistenpreis zu gewinnen. Die Blonde sitzt derweil in einem warmen Redaktionshaus in Hamburg am Computer und sucht die Bilder aus.

Während der Schatz die zu unseren Tischnachbarn passende Lebensgeschichte erfindet, schreit das Mädchens im Jeanskleid nach seiner Mama, weil es seinen Puppenwagen unter der Wasserpumpe sauber machen will. Auf die Bühne tritt eine blutjunge, dünne Frau mit Ekzemen auf den blassen Wangen, der die Drogensucht buchstäblich ins Gesicht geschrieben ist. Vermutlich hat sie ihren Entzug schon länger hinter sich, meint der Schatz, sonst könnte sie sich nicht so aufmerksam um ihr Kind kümmern. Als die Kleine mit dem Puppenwagen zufrieden ist, macht sich ihre Mutter mit einem schwarzen Bekannten auf den Weg, der rund und gesund aussieht. Er tut ihr bestimmt gut.

Derweil versuchen alle Kinder des Viertels schreiend auf das Foto zu kommen, das ein Fotojournalist mit Schlapphut und Profiausrüstung, der offensichtlich nicht abschalten kann, von der Zigeunerprinzessin und ihrer Freundin machen will. So sehr mich der Look der Straßenkinder befremdet, so sehr gefällt es mir, dass sie auf der Straße herum rennen und spielen. Sie sind alle schlank und können wie selbstverständlich sowohl vorwärts als auch rückwärts laufen, was man unseren rundum mit Computer und Spielkonsolen ausgestatteten Mittelklassekindern gleichen Alters inzwischen gesondert beibringen muss. Neulich ging in Niedersachsen durch die Presse, dass an einem etwas heisseren Sommertag mehrere der übergewichtigen Kinder einer Grundschulklasse beim Schulausflug im Vogelpark Walsrode einen Schwächeanfall erlitten. Das würde diesen Rackern hier nicht passieren.

Die 1,90-Frau aus Hamburg beginnt eine aufgeregte Diskussion mit dem Kellner, der inzwischen ihr Gericht gebracht hat. Offenbar bekommt sie in Eppendorf nur Sushi und Fischfilet serviert: Es behagt ihr nicht, dass ihr Fisch einen Kopf besitzt. Der Kellner reagiert ebenso gelassen wie pragmatisch und köpft den Fisch kurzerhand mit ihrem Besteck, das er danach wieder ordentlich auf ihrer Serviette drapiert.

„ Soll ich den mitnehmen?“, fragt er und deutet nachlässig mit seinem Kopf auf den des Fischs.

Als sie ihm unmissverständlich klar gemacht hat, dass sie sehr darum bitte, nimmt er den Fischkopf mit der Hand von ihrem Teller und transportiert ihn ab. Die Journalistin stellt bei dieser glücklichen Wendung des Dramas unter Beweis, dass sie zwar ete-petete ist, aber nicht zu vornehm für die rustikalen Methoden des Kellners. Hauptsache der Fischkopf ist weg. Sie muss wohl zugereiste Hamburgerin sein.

Wir machen uns auf den langen Weg zum Bahnhof. Auf meine erneuten Versuche, Straßenbild und Straßenkarte in Einklang zu bringen, reagiert eine freundliche Perpignaiserin damit, dass sie von ihrem Fahrrad absteigt und uns begleitet. Als sie an der nächsten Straßenecke nach links abbiegt, lässt sich der Schatz zurückfallen, steckt seine Nase tief in die vollkommen nutzlose Straßenkarte und behauptet hartnäckig, die junge Frau führe uns auf einen Umweg. Sie versucht ihn mit dem Einwand zu überzeugen, dass sie seit 30 Jahren durch diese Stadt navigiere. Ich habe alle Hände voll damit zu tun, ihm klar zu machen, dass man so nicht auf die Liebenswürdigkeit Einheimischer reagiert. Schließlich trottet er uns geschlagen, wenn auch nur widerwillig hinterher. Magali erklärt uns, dass sie in Perpignan die Sonne, das Meer und die Berge haben, aber keine Arbeit. Zuletzt hat sie als Verkäuferin im Supermarkt gearbeitet, jetzt ist sie arbeitslos. Sie bedauert, dass wir nicht länger bleiben können, denn das Programm der Fotojournalismusausstellung sei eigentlich zu schön, um es sich einfach so entgehen zu lassen. Sie selbst ist auf dem Weg zu einer Abendveranstaltung. Die Zigeuner, erzählt sie, wohnen seit Jahrhunderten in der Stadt, aber ihre Geschichte ist sehr traurig. Sie hätten sich nie in das moderne Leben integriert und stürben in Scharen an AIDS oder an Krankheiten, die es in einer reichen Gesellschaft eigentlich nicht mehr geben dürfte. An der Bahnhofsstraße verabschiedet sie sich von uns, nicht ohne sich bei Monsieur zu erkundigen, ob sie sich nun seines Vertrauens sicher sein könne. Sie nimmt uns das Versprechen ab, zur nächsten Fotoausstellung oder im Frühjahr zu den katalanischen Folkloretagen wieder zu kommen.

Auf dem Bahnhof hat sich eine bunte Menge versammelt, darunter der Journalistenkenner im grauen Dreiteiler und mit Strohhut und ein orangegewandeter Pilger, der sich wohl auf dem Weg nach Pushkar, dem heiligen See in Rajasthan verlaufen hat. In der Bahnhofskneipe verweigern sie dem Schatz das Würstchen mit Pommes, das groß am Fenster angeschlagen ist. Er ist empört und behauptet, dass so etwas in Deutschland niemals passieren könnte.

„Ach ja, die Karte“ ruft der Kellner und rudert mit den Armen, wohl als Antwort auf unserem nach langem Warten mehrfach in Zeichensprache vorgetragenen Wunsch nach der Rechnung.

„ Nein“, erwidert der Schatz schnippisch, „ dazu ist es jetzt zu spät. Wir haben lange und häufig genug darum gebeten“. Dann geht er, ohne Trinkgeld zu hinterlassen. Ein bisschen deutsches Flair müssen wir hier auch verbreiten, selbst wenn uns klar ist, dass wir an unsere Landsleute nicht heran reichen.

Zu hause im Badeort spielt noch um Mitternacht eine katalanische Bigband schmissige Weisen und die Senioren sind nicht bereit, die Künstler gehen zu lassen. Eine Zugabe jagt die andere. Einige besonders feurige Folkloristen halten mit hoch gestreckten Armen einen oder mehrere Tanzpartner an der Hand und tippen erst mit der linken Fußspitze vor dem rechten Fuß auf, dann mit der rechten Fußspitze vor dem linken. Ich frage mich, warum die Spanier so ein Theater um ihren Regionalismus machen. Für meine Augen sieht das aus und klingt auch so wie Sevillanas. Das ist der Tanz, den sie im verarmten Andalusien tanzen, der Region, von der sich die spanischen Katalanen so dringend los sagen wollen.

Mittwoch, 29. September 2010

Deutschland am Mittelmeer

Unser kleiner Badeort am Mittelmeer ist ganz entzückend. Eine Templerburg ziert den Hafen. Das Städtchen ist umsäumt von den Hängen der Pyrenäen, an denen seit Jahrtausenden der Weinbau blüht. Kunstdrucke von Matisse, die die Stadtverwaltung überall in den verwinkelten Sträßchen aufgestellt hat, sollen daran erinnern, dass dieser Ort einst die Fauvisten inspirierte. Heute verwirklichen sich hier talentlose Gattinnen von Industriemagnaten gemeinsam und andere Abenteurern. Sie stellen mit ihren Galerien sicher, dass das Städtchen in Prospekten und Reiseführern als Künstlerort auftreten kann.

An unserem Badestrand in windstiller, von milder Septembersonne angenehm erwärmter Bucht herrscht himmlische Ruhe. Zwei, drei Liebespärchen und ein paar Senioren liegen regungslos auf ihrem Handtuch. Wenn jemand die Energie aufbringt, im Wasser ein wenig zu plätschern, verfolgen die am Strand Zurückgebliebenen gebannt jede Bewegung. Neue Wendungen des Bades kommentieren sie verstohlen für den Partner. Selbst die Kinder scheinen lautlos zu spielen.

Und dann kommt sie: Eine deutsche Großfamilie. Großvater, Großmutter, Vater, Mutter, Tochter und Sohn. Und als wenn das nach vierzig Jahren demographischen Niedergangs nicht schon Sensation genug wäre, haben es sich die sechs offenbar zur Aufgabe gemacht, sich das Territorium zu eigen zu machen und am Mittelmeer öffentlich zu demonstrieren, was Deutschland groß, stark und zuweilen gefährlich gemacht hat: Präzision, Organisationstalent und perfekte Vorbereitung.

Die Truppe trägt Gepäck in einem Volumen mit sich, als wollte sie den Dachgepäckträger für einen mehrwöchigen Besuch bei der Familie in Südostanatolien beladen. Als erstes benutzt sie einen Teil des mitgebrachten Materials, um am ein Mehrgenerationenhaus aufzubauen. Auf dem Kopf eine Schirmmütze mit Nackenschutz, die auch für Wüstenexpeditionen geeignet wäre, schlägt der Vater assistiert von Großvater und dem adoleszenten Sohn ein Zelt auf, das jedem Sandsturm standhalten könnte. Die Feinjustierung erfolgt auf Basis heftig umstrittener Vorhersagen des weiteren Sonnenverlaufs. Am Ende wirft die Familienmutter ihrem Mann mit weinerlicher Stimme Ungerechtigkeit vor. Er hat ihrem Bedürfnis, wenigstens aus dem Augenwinkel einen Blick auf das Meer zu erhaschen, bei dem Bau in keiner Weise berücksichtigt. Vor den staunenden Augen der umliegenden Badegäste gibt die Familie eine Zugabe und fängt von Neuem an.

Als das Zelt endlich steht, beginnt das Umkleiden nach deutschen Zeremoniell: Man schlingt ein Badehandtuch um die Hüften, lässt die Unterhose diskret in den Sand gleiten und steigt dann in die Badehose, möglichst ohne dabei das Handtuch zu sehr zu lüften. Trotz größter Sorgfalt bei diesem letzten Schritt stand mein Kollege Christian Schreiber nach dieser Prozedur an einem amerikanischem Badestrand einmal kurz vor der Verhaftung. Aber erstens sind wir hier nicht in Amerika und zweitens haben unsere Helden die Methode längst perfektioniert. Das vermeintliche Badehandtuch ist tatsächlich wie ein Rock geschnitten und mit Gummizug ausgestattet. Kein mühevolles Knüpfen von Knoten über der Hüfte, die sich am Ende doch wieder nur lösen und schwierige Balanceakte erfordern, um die umliegenden Badegäste vor dem ungebetenen Anblick männlicher Blöße zu bewahren. Kein Hochangeln der Badehose mit einer Hand, während die andere verzweifelt die Enden des Badehandtuchs zusammenhält. Statt dessen zieht unser Familienvater seine Umkleidekabine einfach über den Kopf auf die Hüfte, wo sie jetzt sicher sitzt, bis er seine Badehose trägt.

Opa arbeitet beim Umziehen etwas weniger erfinderisch, aber ähnlich effektiv mit einem längeren T-Shirt. Als er endlich in seiner Boxershort-Badehose mit dunkel rot-grünem Karomuster da steht, setzt er sich wie zum Triumph eine breitkrempige Räuber-Hotzenplotz-Mütze auf. Die Einladung zum Bade lehnt er vorerst ab. Erst muss er sich noch einschmieren, belehrt er dröhnend den Badestrand. Danach macht er sich gut gelaunt mit Lichtschutzfaktor 45 an die Arbeit.

Die Frauen legen sich maulend in ihr Zelt. Vater macht sich mit seinem Sohn auf den Weg. In Badeschuhen versteht sich, denn der Strand ist aus Kies und wer wollte freiwillig diese Schmerzen ertragen. Sie gehen surfen, vermutet der Schatz. Ich tippe eher auf zünftigen Sardellenfang.

Nachdem die Männer abmarschiert sind, legt sich der Tumult, und die umliegenden Badegäste lassen ihre Köpfe erschöpft zurück auf das Badehandtuch fallen.

Für den Schatz und mich wird es Zeit, weiter zu ziehen und nach neuen Abenteuern zu suchen. Ein solches Schauspiel bekommen wir hier nicht wieder geboten.

Montag, 27. September 2010

Russkij Berlin

Es ist ein herrlicher Sommertag und um möglichst wenig davon zu verpassen, haben wir uns zum Laufen in unserem Park unter das Volk in unserem Kiez gemischt: Wild tobende Kinder mit ihren Eltern, die auch am frühen Sonntagmorgen nicht darauf verzichten wollten, den scheinbar lässigen, tatsächlich bis ins letzte Detail durchdachten Look anzulegen, mit dem sich weltweit das globalisierte Bürgertum reicher Großstädte zu erkennen gibt; Hartz-IV-Empfänger aus den anliegenden Plattenbauten, die sich beim Spaziergang im Park vielleicht von ihrer Arbeit an der Supermarktkasse erholen; für die Großstadt gänzlich ungeeignete Jagdhunde mit ihren immer missmutigen Haltern und ein vereinzelter Trinker.

Nachdem wir uns so verausgabt haben, brauchen wir Brötchen für das Frühstück auf unserem Sonnenbalkon. Diesmal verraten wir unseren türkische Bäcker mit der warmen Stimme, auf dessen raffiniert geschminkte Töchter ich mich jedes Wochenende freue. Statt dessen gehen wir zu der kleinen, feminineren Bäckerei weiter unten in der Straße.

Ich wäre mit zwei dunklen und zwei hellen Brötchen zufrieden zu stellen, aber der Schatz lässt sich nicht davon abhalten, aus dem Frühstückseinkauf eine Wissenschaft zu machen. Während er sich die Entscheidung zwischen Mürbeteighörnchen, Buttercroissants und Mandelküchlein so schwer wie möglich macht, gehe ich aus dem Geschäft, um mir in der Sonne die Zeit zu vertreiben.

Auf der kleinen Holzbank vor der Bäckerei sitzt ein Russe, der mit seiner Schiebermütze so aussieht wie eine Mischung aus Wladimir Kaminer und Zillegassenjunge. Er unterhält sich mit einem Freund, der auf einem Fahrrad balanciert, während er sich mit einem Bein auf dem Boden abstützt. Beide trinken Dosenbier. Ich mache ihnen keine Vorwürfe. Was gibt es besseres an so einem schönen Tag als einen kleinen Frühschoppen auf der Winsstraße?

Ich schließe meinen Augen und halte mein Gesicht in die Sonne, um mich unauffällig als Sonnenbadende zu tarnen, während ich in Wirklichkeit meine Ohren spitze und angestrengt versuche, der Konversation zu folgen. Ich lerne seit Jahren mit geringem Erfolg Russisch und mir ist jede Gelegenheit zu üben recht.

Der Russe mit der Schiebermütze fragt mich, ob ich aus dem Kiez komme. Ich versuche mich bei meiner Antwort auf Russisch. Er gibt sich pflichtschuldig beeindruckt. Gleichzeitig zürnt er seinem Schicksal, weil wir uns als unmittelbare Nachbarn noch nie begegnet sind. Die beiden wohnen seit 15 Jahren auf der anderen Seite der Danziger Straße. Dimitroffstraße, korrigiere ich mich in Gedanken. Diesen klangvollen Namen aus DDR-Zeiten ist einer unserer Nachbar nicht bereit aufzugeben. Inzwischen habe ich seine Reflexe so stark verinnerlicht, dass ich auf seine Reaktion gar nicht mehr angewiesen bin. Er ist - wie inzwischen fast alle in unserem Kiez - ein Yuppie aus dem Westen und hat in dem einzigen unrenovierten Haus unserer Straße Wein auf seinem Balkon angepflanzt. Er liebt unser Viertel so sehr, dass er zwischenzeitlich kurz mit dem Gedanken spielte, gemeinsam mit seinen Nachbarn das Haus, in dem er wohnt, dem offensichtlich finanzschwachen Eigentümer abzukaufen und es eigenhändig zu renovieren. Die Nachbarn gehören einer Gesellschaft an, die kahlköpfig mit langen, bunten Gewändern durch die Stadt wandeln und Liebe und Harmonie predigen. Ihr Anführer erklärte unserem Nachbarn, dass eine himmlische Eingebung im sagte, die Investition würde sich als fruchtbar erweisen und Glück und Harmonie verheißen. Allerdings konnte die Harmoniegesellschaft abgesehen von der himmlischen Eingebung und den damit verknüpften Erfolgsverheißungen kein weiteres Startkapital mehr beisteuern und das Geschäft platze schließlich.

Unterdessen zeigte sich der Russe enttäuscht davon, dass ich offensichtlich mit meinem Freund unterwegs sei. Nichts kleidet eine Frau offenbar so gut wie ein Betrachter nach Alkoholgenuss in der Hitze. Meinem Aufzug habe ich solche Komplimente sicher nicht zu verdanken. Ich trage schlecht sitzende Hochwasser-Jogginghosen und ein ausgewaschenes Kaki-Hemd mit einem aufgedruckten Holstentorwapppen und einer Aufschrift in dem Stil von „ Hamburger Deern“ oder dergleichen aus den frühen 2000ern. Damals hielt man es für originell, eine Art Charakterisierung oder Markennamen auf der Brust zu tragen, der die Herkunft, die politische Orientierung, die Durchsetzungsstärke oder die sexuelle Freizügigkeit der Trägerin kennzeichnen sollten. Ich kann mich an „ Zicke“, „Berlinerin“, gelegentlich ein präziseres „ Kreuzbergerin“ , „ CCCP“ und ich meine auch an „ Schlampe“ erinnern.

Ich ließ mich von dem Rausch meines Kavaliers jedoch nicht davon abhalten, mich geschmeichelt zu fühlen.

„Ja, du bist zu spät gekommen“, versuchte ich mich in Koketterie.

„ Es ist nie zu spät, im Leben kann noch viel passieren“ korrigierte mich der Russe mit seinem bärigen Baß, offensichtlich mit sich und der Welt im Reinen. Dann setzten sich sein Freund und er auf ihre Fahrräder und führen mit ihren Bierdosen in der Hand schlingernd durch das ruhige, sommerliche Berlin.

Samstag, 1. Mai 2010

Die Bettlerin von Belleville

In lichten Momenten hat sie Humor. Wenn die Chinesen von Belleville in ihren Gemüseladen oder ihr Restaurant zur Arbeit gehen, wenn die sorgsam gekleideten Büroangestellten auf dem Weg zur Metro sind und junge Araber und Afrikaner sich im Vorbeigehen laut klatschend die Hände reichen, ohne sich dabei in die Augen zu sehen, dann ist für sie die beste Zeit.

Ihr Blick ist ausdruckslos, ihre Haut ist fahl und ihre dünnen, glanzlose Haare sind ungekämmt.

„Hätten Sie eine Münze?“, fragt sie die Passanten mit einer eigentümlichen Sprachmelodie, deren Ton gegen Ende des Satzes immer weiter anzusteigen scheint.

„ Ich werde sie doch nicht gleich um einen Schein bitten“, fügt manchmal fast schon ein bisschen kokett hinzu. Dann lächelt sie und entblößt dabei ihre schwärzlichen Zähne. Das sind die guten Tage.

In schlechteren Momenten entgleitet ihr der Humor ihrer kleinen Kombination. Dann bittet sie die Passanten tonlos und ohne weitere Umschweife um einen Schein, manchmal auch ganz ohne vorher ein wenig bescheidener Münzen ins Spiel gebracht zu haben.

Sie ist der beste Beweis, dass eine Frau immer eine Frau bleibt. Wie hat sie mich aus meinen Tagträumen aufgeschreckt, als sie zum ersten Mal vor mir stand und mit der gleichen Geste wie ich gedankenverloren in den Haaren drehte. Die Bettlerin von Belleville mit den wirr abstehenden Haaren und dem ausdruckslosen Gesicht, mein Spiegelbild. Ich blieb sofort stehen und zückte mein Portemonnaie. Seither habe ich es nie mehr geschafft, einfach an ihr vorbei zu gehen, so groß die Eile auch manchmal war. Und dass bei den vielen Bettlern, die man jeden Tag in Paris ignoriert.

Ein andermal bat sie mich um Zigaretten. Als ich erwiderte, dass ich nicht rauche, fasste sie sich erschrocken ins Gesicht.

„Sieht man stark, dass ich rauche?“, fragte sie offensichtlich bestürzt. Auch bei Frauen, die nicht mehr die Kraft oder die Gelegenheit haben, sich morgens zu kämmen, stirbt die Eitelkeit nie ganz.

Ihre Familie sucht Ärzte aus, die sie krank machen, hat sie mir erzählt. Ihre Mutter will sie verhexen.

Ich frage mich, ob sie eine Wohnung hat, und ob jemals jemand mit ihr spricht außer den flüchtigen Passanten auf der rue de Belleville, die sich ein paar Sekunden Zeit für sie nehmen.

Dienstag, 2. März 2010

Der sauberste Sportplatz der Welt

Hinter unserer Siedlung liegt der sauberste Sportplatz der Stadt. Jeden Morgen, wenn ich das Gässchen zwischen den windschiefen Häuschen mit den winzigen Vorgärten hinunter laufe, ist er da: Der Mann von der Pariser Stadtreinigung. Es scheint, als bediente er jeden Tag ein anderes rätselhaftes Gerät, das mal einer Walze, mal einem kleinen Staubsauger gleicht, und offenbar der Pflege des Sportplatzes dienen soll.

Er hat einen untrüglichen Sinn dafür, wann ich vorbei komme. Ganz gleich, an welchem entlegenen Ende des Sportplatzes er unterwegs ist und wie sehr er ihn seine Geräte beschäftigen, hört er mich, dann dreht er sich um und streckt seinen Arm in die Höhe, als ob er seinen hochgewachsenen Körper noch besser zur Geltung bringen wollte. Dann schallt sein Ruf über den ganzen Platz und wie mir scheint auch die Wände der angrenzenden Hochhäuser hinauf. Denn windschiefe Häuschen gibt es bei uns nur etwa fünf an der Zahl. Der Rest ist zwanzigstöckig und in dem schmucklosen beige gehalten, das die hiesigen Stadtväter dem sozialen Wohnungsbau zugedacht haben. Hier sehen greise Flüchtlinge aus dem Kosovo in garagenartigen Behausungen bei offener Haustür fern und die Söhne der Einwanderer aus Nord- und Westafrika lungern auf der Straße herum, um sich die Zeit mit Imponiergehabe aller Art zu vertreiben.

„Hello“, ruft der Mann von der Stadtreinigung und reckt den Arm jedes Mal ein wenig höher, wenn er mich sieht. Anscheinend sieht man auch aus 100 Meter Entfernung, dass ich Ausländerin bin. „Bonjour“, rufe ich dann zurück, um wenigstens einen Punkt daraus zu machen, dass ich eine gut integriert bin.

Im Verlauf der Wochen, kamen wir uns immer näher. Mal lobte der Stadtreinigungsmann meinen Rock, mal fragte er überflüssigerweise, ob ich zur Arbeit ginge. Beim nächsten Mal wollte er wissen, womit ich mein Geld verdiene.

„ Aha, Finanzen“, fasste er meine umständlichen Erklärungen trocken zusammen. Nein, eher Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, versuchte ich, um mich attraktiver zu machen. Auch das stimmt zwar nur näherungsweise, aber in unserem Viertel mit seiner tiefen Kluft zwischen Arm und Reich wollte ich nicht als skrupellose Bankerin da stehen, die kene Scheu hat mit ihrer grenzenlosen Gier einfachen, aber ehrlichen Menschen jede Existenzgrundlage restlos zu zerstören, obwohl die auch schon vorher nicht wussten, wie sie es bis zum Ende des Monates schaffen sollten. Unsere Siedlung ist von den umliegenden Gebäuden hermetisch abgeriegelt und mit verschiedenen Codes und Gegensprechanlagen gegen alle kriminellen Elemente aus dem Viertel abgesichert wie in einem Roman von Nadine Gordimer. Aber manchmal muss ich eben doch auf die Straße und da will ich nicht als attraktive Beute für Entführer auftreten. Dafür muss man wissen, dass mehr als 50% der Franzosen Managerentführungen im Kampf gegen die Globalisierung befürworten.

Der Mann von der Stadtreinigung war von meinen Erklärungen wenig beeindruckt. Er schien weder Finanzen noch die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit für produktive Tätigkeiten zu halten und bot mir statt dessen die Gelegenheit, ein Praktikum bei ihm zu beginnen. Meinen Hinweis, dass das Reinigungsgewerbe nicht im strengen Sinne meiner Spezialisierung entspräche, ließ er nicht gelten. „ ça s'apprend“, ermunterte er mich. Das kann man alles lernen. Zqhrscheinlich damit ich ihm das auch glaube, teilt er mir seit neuestem kleinere, leichtere Aufgaben zu. Neulich drückte er mir eine mit Laub gefüllte Mülltonne in die Hand. Die könne ich doch auf dem Weg nach unten mitnehmen und an den Straßenrand stellen, meinte er. Als ich dann einen rasanten Schlingerkurs einschlug, schien er sein Personalmanagement plötzlich doch zu bereuen, fuchtelte wild mit den Armen und brüllte „attention, attention“ bis er auch den letzten Rentner in den windschiefen Häusern aus dem Schlaf geschreckt hatte.

Neulich kam er mir abends auf dem Gässchen in einen eleganten blauen Mantel gehüllt und einer Art Panamahut auf dem Kopf entgegen und erzählte mir von einer mysteriösen Sportart, die er gerade auf dem Platz ausgeübt hatte. Wenigstens einer, der von seinen Reinigungsarbeiten profitiert.

Für die Männer aus dem sozialen Wohnungsbau gilt das jedenfalls nicht. Als sie letztes Jahr an einem schönen Sonnabendnachmittag im Sommer ein kleines Turnier austrugen und dabei gelegentlich nach einem Mannschaftskameraden riefen, der einen Pass erhalten sollte, oder ein wenig jubelten, kam die Rache der Anlieger schnell und sie war fürchterlich. Noch am gleichen Wochende sammelte eine Nachbarin mit gräulicher Gesichtsfarbe und verkniffenen Lippen auf der Straße Unterschriften für einen Gemeinschaftsbrief an den Bürgermeister, der dem ungezügelten Treiben ein Ende setzen sollte. Es half nicht, dass ich ihr meine Unterschrift verweigerte. Seither habe ich keinen Fußballlärm mehr gehört.

Offenbar macht ein Häuschen mit Vorgarten, so selten es in dieser Stadt auch ist, noch lange nicht glücklich. Nicht einmal zufrieden. Aber das ist für meine Nachbarn, die gerne einmal im Monat ihren Sozialwohnungen entflohen wäre, um sich auf dem saubersten Sportplatz der Stadt auszutoben, sicher nur ein schwacher Trost.