Sonntag, 23. November 2008

New York Abenteuer fast komplett

Email aus New York, März 2001

Lucas ist ein Engel. Sein einziger Fehler besteht darin, daß er gelegentlich das Geschirr länger in der Spüle stehen läßt. So etwas darf man natürlich in einem Entwicklungsland nie tun. Das lockt alles möglich Ungeziefer an. Heute morgen hat er die Quittung dafür bekommen. Der arme Kerl tut mir immer noch ganz leid.

Ich bin zur Zeit ein bißchen angespannt, habe viel zu tun, und deswegen bin ich früh aufgewacht und habe mich schnell fertiggemacht, um sogleich behende an die Uni zu eilen. Als ich mich in bester Laune der vollgestellten Spüle näherte, peste eine Kakerlake ungefähr in der Größe der Hell's-Kitchen-Maus durch das Waschbecken, die ich dereinst ohne mit der Wimper zu zucken ins Jenseits befördert hatte. Aber morgens habe ich immer schwache Nerven und in der ersten Schrecksekunde stieß ich einen derart gellenden Entsetzensschrei aus, daß der arme Lucas sofort senkrecht im Bett stand und mitschrie. Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt hatte, daß zwar zwischen seinem und meinem Zimmer eine Tür ist, nicht aber zwischen seinem Zimmer und der Küche. Türen sind eben ein knappes Gut in Amerika. Im "Galapagos" in Williamsburg haben sie sich sogar darauf beschränkt, bunte Tücher vor die Toilettentüren zu hängen, und das will etwas heißen bei den prüden Amerikanern, die ja schon immer einen Herzinfarkt bekommen, wenn man im Zweiteiler ins öffentliche Schwimmbad möchte.

Aber das gehört nicht zum Thema. Was ich sagen wollte, ist, daß ich in meinem ganzen Leben nicht diesen angstverzerrten Gesichtsausdruck von Lucas vergessen werde, als er in mein Schreien einstimmte. Ich wundere mich wirklich, daß der Wasserkäfer nicht gleich vor Schreck gestorben ist. Wie auch immer Lucas und ich brauchten etwa zehn Minuten, um uns zu erholen, dann dauerte es weitere zehn Minuten, bis ich ihm erklärt hatte, was Sache war. Schockzustände sind meinem Spanisch nicht sehr zuträglich, aber cucarracha ist mir dann irgendwie doch noch eingefallen.

Völlig verängstigt fragte mich Lucas schließlich, ob ich wohl den Mut hätte, das Tier zu erlegen (er weiß alles über die Maus), sonst würde er es tun. Mir war klar, daß der Kleine um Jahrzehnte gealtert wäre, hätte ich dazu gezwungen, zum Mörder zu werden. Also befleckte ich wieder selbst meine Hände mit Blut und untermauerte meinen Ruf als Killerlady, nicht ohne laut auf Deutsch zu schreien "hau ab, geh weg, du widerliches Vieh". Für Lucas war ich in dem Moment bestimmt die Inkarnation eines dieser garstigen Nazis, die mit ihrem "Achchchchtung, machchchchch schnell" in keinem Hollywood-Film fehlen dürfen. Danach legte ich mich völlig erschöpft auf den Küchenboden und war fertig mit der Welt. Lucas meinte zufrieden, daß sei nurmehr eine weitere New York Erfahrung für mich, jetzt würde nur noch die Ratte fehlen. Sprach's und schlief auf der Stelle wieder ein.

Wie immer, wenn man irgendwo weg muß, ist es jetzt am schönsten. Alle Italiener sind aus ihren Löchern gekommen, gehen mit mir ins Kino, in die Disco, laden mich zum Brunch ein und jammern, ich solle den New-York-Aufenthalt doch noch verlängern, sie würden Luckus einen Brief schreiben. Aber als ich mich damals im Blauen Barhaus von meinem Hamburgern verabschiedete, mußte ich Christoph Gaggeleier hoch und heilig versprechen, zurückzukommen und nicht einfach wieder abzuhauen, wie damals aus Freiburg. Also wird nichts daraus, ich komme zurück. Außerdem sind sie Italiener hier entzückend, aber irgendwie auch Mutanten. Gingen wir doch neulich um halb neun Uhr abends von der Uni aus etwas essen, um zehn (!) fragte ich, ob wir noch ein Bierchen trinken gehen. Da antwortete Paolo doch nein, er müsse zurück an die Uni. Schließlich ging ich alleine mit Mike ein Bier trinken, dem einzigen Amerikaner im Ph.D. Programm. Er beklagte sich bitter bei mir, denn er sitzt mit drei Italienern in einem Büro. Wenn er morgens kommt, sitzen die schon dort und lernen, und wenn er abends geht, lernen sie immer noch, und was ist überhaupt aus „Dolce Vita“ und „Dolce Farniente“ geworden. Das frage ich mich auch. Vor lauter Verzweifelung tranken wir gleich drei Biere.
Salsa tanzen wir weiterhin, ich jedoch am liebsten mit meinem Russen. Neulich brachte Claudio mich allerdings ein bißchen in Verlegenheit. Ich saß gerade bei N. im Büro, um meine Arbeit zu besprechen, da kommt er herein, um irgendetwas zu fragen. Als N. uns vorstellen möchte und zu diesem Zwecke fragt, ob wir uns denn kennen, meint Claudio: "Ja, aber wir haben noch nicht zusammen Salsa getanzt." N. trug es mit Fassung, und ich versuchte, es ihm gleichzutun.

Letzten Sonntag gaben wir uns endlich auch mal dem Dolce Farniente hin, frühstückten mit Anna, zwei Lucas, Paolo und Giovanna in der Bedford Avenue bei den Polen und unternahmen dann eine Weltreise. Erst die Straße hinunter nach Puerto Rico, da war gerade Siestazeit und nicht viel los, und dann weiter die Straße herunter nach Israel, zu den chassidischen Juden. Lucas kam zwei Stunden später dazu, als er aufgewacht war, genaugenommen hatte ich ihn telefonisch geweckt. In Puerto Rico war gerade Sperrmüll, und jedesmal wenn Lucas ein Sofa sah, wollte er sich drauflegen und Siesta halten. Das beschleunigte den Spaziergang nicht gerade, er machte sich bei uns Ökonomen jedoch damit sehr beliebt, daß er das Schlachtlied seiner Fußballmannschaft sang. Wenn er und seine kongenialen Fans ihren ärgsten Rivalen, das erfolgreichste Team in Argentinien, demoralisieren wollen, singen das ganze Stadion: "Boca wird Meister, wenn die Kühe fliegen und Argentinien die Inflation unter Kontrolle hat." Davon waren wir so selbst beflügelt - denn Lucas meint, das mit den Kühen passiert eher - daß wir zu Fuß die Williamsburg Bridge überquerten, bei herrlichstem Sonnenschein und mit Blick auf ganz Manhattan. Manchmal ist das Leben einfach eben so richtig gut.

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