Samstag, 7. März 2009

Hundstage

Email aus Paris, Herbst 2003

Schon wieder habe ich etliche Monate lang nicht über den Stand der Dinge an der Seine berichtet. Zumindest für den Sommer kann ich zu meiner teilweisen Entlastung anführen, dass unsere „canicule“, zu deutsch „Hundstage“, nicht nur rund 11 000 ältere Pariser dahinraffte, was Mitarbeiter von Bestattungsinstituten dazu zwang, die wohlverdiente Sommerfrische in der Bretagne abzubrechen, während sich der Staatspräsident seelenruhig weiter in Kanada ausruhte. Auch der private Computer verweigerte meinen emsigen Schreibfingern mehrfach die Gefolgschaft, und schaltete sich kurzerhand selbst aus, anstatt zu schmelzen. Es erscheint mir sehr passend, dies als künstliche Intelligenz zu bezeichnen.

So schlau wie der Computer waren meine Eltern indes nicht. Sie standen pünktlich an dem heißesten Wochenende seit der Schlacht von Verdun in der Passage Alexandrine auf der Matte und wollte anlässlich des 60. Geburtstages meiner Mutter bespaßt werden. Nur um zu veranschaulichen, wie heiß es wirklich war, weise ich darauf hin, dass selbst das Geburtstagskind gelegentlich den Schatten aufsuchte und Sonnenstrahlen ungenutzt auf den Asphalt sinken ließ, anstatt die knackige Bräunung aus sechs Jahrzehnten noch ein wenig zu vertiefen. Nur wer sie kennt, weiß, was das bedeutet!


Immerhin gelang es uns, das Geld, das wir durch geschicktes Umgehen einer großen Geburtstagsfeier mit zahlreichen Gästen gespart hatten, bei einem einzigen Mahl zu verjubeln. Das das Restaurant, das Julien mir empfohlen hatte, eher vornehm sein müsse, schwante mir zum ersten Mal, als uns die freundliche Touristenführerin während unserer Bootstour auf der Seine - die leider kaum die erhoffte, erfrischende Brise mit sich brachte -zunächst auf Notre-Dame zu unserer Rechten und dann auf das berühmte Restaurant „Tour d‘ Argent“ zu unserer Linken aufmerksam machte. Der Verdacht sollte sich erhärten, als wir in Hoffnung auf einige Minuten in klimaanlagengekühlter Luft mit dem Taxi vor dem Restaurant vorfuhren, wo uns formvollendet ein Herr empfing, der dazu verdammt war, der Hitze im Livrée zu trotzen. Als der Kellner mir kurz darauf zuhauchte, der Sommelier würde nicht lange auf sich warten lassen, traten mir Schweißperlen auf die Stirn, die wenig mit den Hundstagen zu tun hatten. Ich verwünschte mich insgeheim, weil ich mir nie die Frage gestellt hatte, wofür die Franzosen eigentlich das Geld ausgeben, das sie sparen, indem sie ihre Wohnungen nie renovieren und schwor mir, das nächste Mal genauer nachzufragen, wenn sie mir ein exzellentes Restaurant für den Geburtstag meiner Mutter empfehlen.

Zwischenzeitlich hellte sich das Gesicht meiner Mutter ein wenig auf, weil sie feststellte, dass ihre Speisen keine Preise hatten. Die Freude war indes nur von kurzer Dauer, denn wie sich herausstellte, handelte sich um die Damenkarte. Meinem Vater hingegen wurde sehr deutlich mitgeteilt, welche Kosten entstünden, wenn wir uns für das Entenconfit an Holundersoße mit Steinpilzgarnierung entschieden. Am Ende zwang uns die Damenkarte dazu, uns so weit wie möglich aber doch möglichst unauffällig über unsere großzügige Tafel zu lehnen und uns bevorzugte Speisen und dazugehörige Preise zuzuzischen, bis wir ein Menü zusammengestellt hatten, mit dem wir einigermaßen ungeschoren das Restaurant wieder verlassen konnten. Zum Glück gelang es mir auch, mich nicht von dem Sommelier, der genaugenommen eine Dame war, in eine Diskussion über die Qualität ihrer Weine hineinziehen zu lassen, von denen einige im Wert einem Kleinwagen glichen. Ich bestellte höflich aber bestimmt den billigsten Rebsaft, den ich auf der Karte finden konnte. Jetzt hege ich heimlich den Wunsch, dieses vornehme Restaurant bei passender Gelegenheit mit Silke aufzusuchen, nur um zu sehen, was mit der Damenkarte geschieht, wenn kein Herr dabei ist, um die Preise zu beobachten.

Am Ende ging das Geburtstagsessen aber trotz schwindelerregender Preise doch noch in die Familienannalen als eines der ganz großen gemeinsamen Erlebnisse ein. Wir bestellten alle drei die Ente, die seit Zeiten Heinrich des Dritten in diesem Restaurant serviert wird und schon Richelieu bei seinen Banketten häufig als Hauptspeise diente. Seit etlichen Jahrzehnten wird jede Ente, die diese edle Küche verlässt, gezählt und der dazugehörige Gast bekommt eine Karte mit ihrer Nummer als Andenken mit auf den Weg. Auf die Art und Weise konnte mein Vater nach der Heimkehr seine Nummer mit einem Erbstück der Nachbarn vergleichen, deren Opa während der Besetzung von Paris im II. Weltkrieg die Ente im Tour d‘ Argent auch schon sehr gut geschmeckt hatte.


Wegen der Hitze kann man meinem Vater auch kaum vorwerfen, dass er in Bermudashorts, Sandalen und Baseballkappe deutlich als Supertourist erkennbar durch Paris lief, wenn er nicht gerade im Tour d‘Argent Ente aß. Dennoch stand dieses Kostüm zweifelsohne für all das, wovon das städtische Personennahverkehrsunternehmen RATP spricht, wenn es seine Fahrgäste mahnt, sie mögen Taschendiebe nicht in Versuchung führen.

Fast zwingend und gleichsam durch eigenes Verschulden wurde mein Vater denn auch an der Haltestelle „Nation“ beim Einsteigen in die Linie 9 von zwei jungen Männern angerempelt, die sofort die Metro verließen, als er sich doch schließlich mit verdutztem Gesichtsausdruck in den Wagen gekämpft hatte. Weder die RATP noch die Taschendiebe hatten jedoch mit der Zivilcourage ihrer französischen Mitbürger gerechnet. Am anderen Ende des Wagens machte uns im selben Augenblick ein Fahrgast auf den infamen Diebstahl mit spitzen „Voleur, voleur“ –Schreien aufmerksam– „ Haltet den Dieb“ . Und so nahmen wir sofort unterstützt von dem Franzosen die Verfolgung des jugendlichen Missetäters auf, anstatt nichtsahnend nachhause zu fahren und den Verlust des Portemonnaies erst Stunden später zu bemerken. Dem Franzosen gelang durch beherztes Einbeziehen der Passanten zwar nicht, die zivile Festnahme des Diebes zu erreichen, denn der wand sich schnell aus seiner Jacke, an der er festgehalten wurde. Aber doch ließ er dabei immerhin das Portemonnaie fallen. Und so ging aus diesem Abenteuer die deutsch-französische Freundschaft deutlich gestärkt hervor, ohne dass dies irgendjemanden auch nur einen Zent gekostet hätte, wenn man von dem Dieb absieht, der seine Jacke verlor.

Auch gesundheitlich überstanden meine Eltern diesmal ihren Besuch vergleichsweise gut. Zwar sah sich meine Mutter, an Pflastertreten nicht gewöhnt, schon nach wenigen Tagen gezwungen, neues Schuhwerk zu erstehen, das binnen kürzestem blutgetränkt war. Aber wenn man dies damit vergleicht, dass mein Vater nach dem vorigen Besuch unter Thromboseverdacht ins Krankenhaus gefahren werden und danach noch zehn Tage lang einen sogenannten Zinkleinverband tragen musste, ist dies ein spürbarer Fortschritt.