Samstag, 17. November 2007

Pariser Streiks 2003

Wie jeder weiß, sind Franzosen spätestens von Mitte fünfzig an vornehmlich mit Boules spielen beschäftigt, und dabei wünschen nicht gestört zu werden. Wenn sie eins nicht leiden können, dann ist es, wenn die Regierung ihnen mit Reformen der Alterssicherung kommt, die nur eins zum Ziel haben: Sie davon abzuhalten. Um ihrem Ärger darüber gebührend Ausdruck zu verleihen, streikten sich die Gewerkschaften und ihre Anhänger den Frühling über immer mehr in Ekstase und legten gelegentlich auch mal Feuer.

Susanne kam zum 1.-Mai-Wochenende eigens aus Kreuzberg zur Schulung angereist. Im nächsten Jahr will sie nun, die nie ein Wort französisch in der Schule gelernt hat, die Maifeierlichkeiten in Berlin mit unserem kämpferischem Retraîte-Lied, der französischen Ruhestandshymne, anheizen.

Mit der Metro kann man nur fahren, wenn man viel Glück und Geduld hat. Deswegen sause ich seit Wochen mit meinem schnellen Stevens-Fahrrad jeden Morgen an zahlreichen Monumenten vorbei einmal quer durch Paris – Place des Vosges, Hotel de Ville, Louvre, Place de la Concorde, ein schneller Blick auf den Eiffelturm umwölkt von frühmorgendlichen Nebelschwaden und dann ab durch die Mitte zur OECD am Bois de Boulogne. Dabei biete ich den brutalen Pariser Autofahrern die Stirn, wenn auch von unerschrocken keine Rede sein kann. Am schlimmsten sind die reichen, jungen Frauen aus dem 16. Arrondissement mit ihren deutschen Luxuswagen. Gerne überholen sie auf engen Kreuzungen von rechts oder schießen aus Garageneinfahrten heraus und schneiden den Radfahrerinnen aus Deutschland den Weg ab, nur um ihnen danach auch noch einen Vogel zu zeigen. Dem gehen gelegentlich wütende Gesten und zahlreiche Unflätigkeiten in deutscher Sprache voraus. Ich weiß nicht, wie gut diese Damen Deutsch sprechen, aber anscheinend verstehen sie ganz gut, was ich ihnen zu sagen haben.

Mein persönlichen Streikhöhepunkt erlebte ich am Mittwoch, als ich eine ganze Gruppe von Freunden in mein Arrondissement gelockt hatte, um ein Theaterstück anlässlich des Festivals "Onze Bouge" (Das Elfte in Bewegung) anzusehen. Nachdem wir alle völlig abgehetzt, Madame Corbeau noch im Büroanzug, in freudiger Erwartung Platz genommen hatten, präsentierte sich das Ensemble kostümlos und ungeschminkt auf der Bühne und verkündete feierlich, sie hätten nach langen Diskussionen die ÄUßerst schwierige Entscheidung getroffen, aus Solidarität zu streiken. Die Diskussionen dieser Künstler stelle ich mir so ähnlich vor wie die meiner Pädagogen von "Educación para todos", die auch schon mal zu dem Schluss kamen, es sei eurozentrisch und repressiv, von lateinamerikanischen Kindern zu verlangen, sich zu waschen.

Da meine analytisch veranlagte Cousine von der Firma Siemens nach meiner letzten email diagnostizierte, ich hätte sieben achtel von der Freizeit gesprochen und ein achtel vom Beruf – und im geheimen zog sie daraus wohl alle möglichen unzulässigen Schlüsse – will ich mich diesmal ein wenig auf die Arbeit konzentrieren. Genauer auf das Alora-Interdirektorats-Fußballturnier, bei dem ich mich zu einer Organisations-weit bekannten Mittelstürmerin und Spitzentorjägerin meiner Mannschaft gemausert habe. Das zahlt sich auch im engeren Sinne beruflich aus. Denn nachdem es mir im allerletzten Spiel mit einem spektakulären Treffer aus dem vollen Lauf gelang, der Mannschaft von Wissenschaft und Technologie doch noch einen Sieg zu bescheren, so dass wir Dritter und damit Pokalträger anstatt Vierter und Letzter wurden, verlangte Martin Schaaper von meinem Abteilungsleiter, er solle dafür Sorge tragen, dass ich bliebe. Martin Schaaper ist jener Holländer, der genetisch bedingt alle Deutschen hasst, aber offenbar doch nur dann, wenn sie Tore gegen Holland anstatt für sein Direktorat zu schießen.
Die Trainer des siegreichen Teams von Arbeitsmarkt und Soziales offenbarten mir beim OECD-Sommerfest, daß sie eigens eine Strategie entwickelt hätten, wie man mich stoppen könnte, und ein besorgter Unbekannter schenkte mir vorgestern Knieschützer. Die lagen auf meinem Schreibtisch, als ich von einer Besprechung wiederkam.

Meine Nachbarn sind weiterhin die besten Nachbarn der Welt. Sonnabends gehen wir entweder alle zusammen zum Markt oder wir gehen im Bois de Vincennes joggen. Mindestens zweimal die Woche finde ich eine Nachricht an der Tür, ich solle auf ihren Balkon kommen, sie würden grillen, ich bräuchte mich um nichts zu kümmern, und wenn mein Fahrrad kaputt ist, reparieren sie es mir. Bei der "Fête de la Musique" habe ich den gesamten Rest der Nachbarn kennen gelernt, weil alle Tische und Stühle in die Passage stellten und bis morgens um vier zusammen scherzten, lachten und die Laute schlugen. Jetzt ruft Thierry immer aus dem Fenster, wenn ich vorbeilaufe, und erklärt mir, Karine habe gerade vom Schwimmbad aus angerufen, die Kinder hätten Hunger, und ob ich mich meinte, er solle Melone in den Salat tun.

Von einem mir namentlich nicht bekannten Nachbarn, oder einem der sich in unserem Stadtviertel verlaufen hatte und wohl unter Drogensucht leidet, bin ich vor einigen Wochen nachts vor meiner Haustür ausgeraubt worden. Abgesehen davon, dass es sich um einen Räuber handelte, war er jedoch fast genauso höflich wie die anderen Nachbarn, nur etwas nervöser. Er siezte mich ordnungsgemäß, und gab mir sogar mein Handy zurück, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ich ihm streng nach Lonely-Planet-Vorschriften für den Umgang mit bewaffneten Überfällen in Entwicklungsländern widerstandslos mein gesamtes Bargeld gegeben. Weil das oft gefragt wird, sollte ich hinzufügen, dass ich nicht zu sagen vermag, ob der Mann bewaffnet war. Er war muskulös genug, dass ich es auf einen Zweikampf auch ohne Waffen nicht ankommen lassen wollte. Aber ich muss jetzt dringend einen Brief an Lonely-Planet schreiben, dass mir die Brasilianer aus den Elendsvierteln von Rio de Janeiro, die Streetgangs aus den Bronx , die kolumbianischen Guerilleros und die mexikanischen Drogenbarone nie auch nur ein Haar gekrümmt haben. Jedoch ist mein Vater mal am hellichten Tage am Maschsee ausgeraubt worden und ich in Paris. Wirklich gefährlich ist es nur in der Europäischen Union.

Der Neffe von meinem marokkanischen Tante-Emma-Laden an der Ecke, der manchmal dort aushilft, promoviert in Anthropologie, wie sich herausstellte. Jetzt verstehe ich auch, warum er sofort mit Kennermiene ausrief "Ah, sie sind Deutsche", als ich mit meine Jutesack aufschlug. Mit seinem Onkel besprach ich unlängst die Wahlen für die Vertreter im Zentralrat der französischen Muslime, die zum Entsetzen des Imam von Paris und aller nicht-muslimischen Franzosen in den meisten Départements die Islamisten gewannen. Jetzt will Sarkozy, der gemäßigte Innenminister, der auch gerne im Land der Liebe die Prostitution abschaffen würde, dass der Imam von Paris den Zentralrat leitet. Aber der ist nicht gewählt worden, und das ist keine Demokratie, findet mein marokkanischer Tante-Emma-Ladenbesitzer. Er selbst hat allerdings nicht mitgewählt. Politik interessiert ihn nicht, sagt er, und religiös ist er auch nicht. Das einzige, was wirklich zählt im Leben ist seiner Meinung nach das Geld.

Meine Abteilung zieht dieses Wochenende nach La Défense in ein Hochhaus um, wo ich mit Mosahid, einem britischen Statistiker bengalischer Herkunft ein Büro teile. Er hat mich beim Abschiedsumtrunk darauf vorbereitet, dass es noch nie eine Kollegin von ihm länger als drei Wochen mit ihm in einem Büro aus gehalten hätte. Ich weiß nicht so genau, was er tut, vielleicht verlangt er, dass ich in Burka zur Arbeit komme, oder er betet fünfmal am Tag in Richtung Mekka. Die Tatsache, dass er wie alle anderen Moslems natürlich auch, ein Terrorist ist, hätte den Vorteil, dass ich wisse, worauf ich mich einzustellen hätte, wenn er mit Fallschirm zur Arbeit kommt, führte er mir vor Augen. Er ist sich natürlich nicht über meinen kulturellen Hintergrund im Klaren und weiß nicht, dass ich den Fallschirm eher besorgt so interpretieren würde, er wolle bei den nächsten Delegiertenwahlen für den Zentralrat der Muslime 18 Prozent erreichen und sei außerdem suizidgefährdet. Aber wir werden uns schon aufeinander einstellen.

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