Sonntag, 24. August 2008

Entdecke Deinen Kiez - Dichtung und Wahrheit

Mein Stadtviertel hat einen schlechten Ruf.

"Gleichgestaltet", urteilen die Kreuzberger abfällig und sind stolz auf die verschleierten Frauen in ihrer Straße und deren Söhne, die mit Goldkette, viel Gel im Haar und wuchtigen Oberarmmuskeln zu hämmernder Musik Luxuswagen durch das Viertel steuern, während ihre Schwestern neben Studium und Beruf in progressiven Parteien oder Verbänden Integrationsarbeit leisten. Die Kreuzberger sind stolz auf diese Nachbarn, und das ist nicht schwer zu verstehen. Aber in der Regel dürfen sie nicht einen von denen auch nur ihren Bekannten nennen.

"Westdeutsche Kleinstädter", höhnt Kai. Er muss es wissen. Schließlich ist er selber einer und fühlt sich wie wir alle in der Großstadt ungemein befreit.

"Bionade-Biedermeier", titelt ein westdeutsches Wochenblatt, dessen Artikel in den letzten zwanzig Jahren zwar deutlich kürzer, aber deswegen noch lange nicht weniger langweilig geworden sind. Die Autorin ist sicher mächtig stolz auf ihre Alliteration. Der Schatz hält sie für eine Eimsbüttlerin, die jeden Sonnabend in der gleichen Portugiesen-Bar verbiestert ihren Galao trinkt und nichts lieber täte, als sich eine große Sonnenbrille aufzusetzen und sich frei zu fühlen zwischen den all gutaussehenden, nicht mehr ganz so jungen Leuten hier, die seit neuestem Vollbärte tragen, oder - wenn sie das nicht können - immer noch die Miniröcke über Leggins aus dem letzten Jahr. Dazu, wenn möglich, einen schwangeren Bauch. Statt des immergleichen Galao hätte sie die Wahl zwischen schnieken Cafés mit Kaffee und Kuchen, großräumigen ausländischen Restaurants mit Brunch-Mozzarella und Tomaten bis sechs Uhr abends und einräumigen Bars, die Milchschaumkaffee und aufwändige Sandwiches auf Holzstühlen und Sesseln vor der Tür anbieten. Deren Gäste schreiben auf ihren Labtops oder versperren den Bürgersteig mit ihren Kinderwagen. Anstatt zu arbeiten verfolgen sie Projekte - zum Beispiel Artikel schreiben für dieses Wochenblatt. Es sei denn sie fahren morgens doch klammheimlich zum Dienst, um spätestens bis neun Uhr einzustechen. Denn unser Viertel ist nicht zuletzt eines der bedeutensten Beamtenghettos der Stadt.

Früher wohnten hier Kommunisten, die im Widerstand kämpften. Gleich um die Ecke ist Hans Rosenthal aufgewachsen, bis ihn jemand vor den Nazis in einer Gartenlaube versteckte. Und während der Teilung haben sich die Denker und Bohemiens in den langsam zerfallenden Altbauwohnungen Nächte lang diskutiert und selbst gedichtete Lieder gesungen.

Nach dem Mauerfall übten die Einschußlöcher in den Häuserfassaden, die vielen leeren Wohnungen mit Außentoiletten und Kohleheizungen und all die Freiräume dazwischen eine magische Anziehungskraft auf Studenten und Lebenskünstler aus, die sich von der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft abgrenzen wollten, aus der sie kamen. Oder auf russische Abenteurer, die vorher in Moskau in halb so großen Wohnungen zusammen mit drei Familien gewohnt hatten. Sie alle zusammen besetzten Wohnungen, die niemandem gehörten, veranstalteten Picknick auf den Dächern und Pillenexzesse, feierten wilde Partys und spielten Konzerte in den Innenhöfen.

Inzwischen ist die Zeit über das Viertel hinweg gezogen. Durch die Straßen fahren Touristenbusse, deren Insassen die vielen Bars und Cafés bestaunen sollen. Die Häuser sind fein renoviert und ihre Insassen sind mit den Studenten von damals gealtert. Sie sind zu Geld gekommen und haben die Bewohner von einst gnadenlos mit Hilfe von Mietpreissteigerungen über die Danziger Straße vertrieben. Sie kaufen nur Ökolebensmittel und Ökostrom, melden ihre Kinder mit zwei beim Yoga an und mit drei beim Mandarin-Unterricht. Wenn diese hochgebildeten Kleinen wegen Überfüllung der nächst gelegenen Schule eine erste Klasse zusammen mit lauter bis an die Zähne bewaffneten Araber-Kindern im Wedding besuchen sollen, strengen sie Gerichtsprozesse an.

Neulich traf ich am ein dickes Ehepaar im Alter meiner Eltern aus meiner Heimtastadt, die sich im Viertel eine Eigentumswohnung gekauft haben, um öfter mal die schicken Restaurants und Theater besuchen zu können. Ganz gleich wie weit man reist, seiner Herkunft entkommt eben nicht so leicht...

Und die Ausländer im Viertel sind nichts als ein Abbild unserer selbst, nur mit einer anderen Muttersprache. Bürgerkinder aus reichen Industrieländern, die die billigen Mieten dankbar annehmen - denn alles ist relativ - um hier nach Freiräumen zu suchen und sich auszuprobieren. Amerikanische Buchhändler, französische Sängerinnnen und Gastronomen und Italienerinnen, die sich entnervt von den niedrigen Löhnen in ihrer Heimat hier als Lehrerin verdingen. Wir nennen sie gerne Edelkanacken. In unserem Flirt-Kaiser's ist Deutsch nur eine Sprache von vielen. Aber richtig ist auch, dass der vietnamesische Gemüsehändler und der Döner-Verkäufer nicht im Viertel wohnen.

An all diesen Vorurteilen ist mehr als nur ein Kern Wahrheit. Aber wer nur das sieht, weiss nichts davon, was in unserem Viertel los ist.

Sie ahnen nicht von Karina, der Flamenco-Lehrerin, die mit ihrem charmanten Österreicher im dritten Stock lebt und an ihr Kind nur Mutterliebe läßt. Sie wissen nichts von Clara, die im fünften seit Jahren an ihrer Kollektion hochwertiger Mode-Accessoires arbeitet und bald ein großer Star sein wird, wenn sie endlich damit an die Öffentlichkeit tritt. Und sie wissen nichts von Molly und Polly im zweiten, die schon vor dem Mauerfall hier wohnten. Bestimmt erledigten sie auch damals bereits die Aufgaben der Concierge und fragten jeden Nachbarn, den sie im Treppenhaus trafen, nach allen näheren Lebensumständen aus. Von der Tomatenzucht im Sandkasten und dem Partytisch im Hof und von den Teenagern, die hinter den Fahrradständern Wasserpfeiffe rauchen, wissen sie ohnehin nichts.

Sie wissen nichts von dem vitalen, unverdrossenen Unternehmergeist, der im Viertel herrscht, beseelt von unerschütterlichem Optimismus auch die abwegigste Idee noch zu vermarkten sucht und sich von keinem Rückschlag auf der Welt den Mut nehmen läßt. Schon der dritte Psychotherapeut mit heilpraktischer Ausbildung hat sich in der Straße niedergelassen und das ganze Viertel wimmelt nur so vor Angeboten für fernöstliche Massagepraktiken, Entspannungstechniken und Heilbäder. "Wovon wollen die sich hier entspannen", staunt ein Kollege im Büro immer, der sonst in London zuhause ist.

Obwohl unsere Straße eine der ruhigsten des Viertels ist und niemand ernsthaft auf Laufkundschaft hoffen kann, hat sofort ein Töpferin das Geschäft nebenan übernommen, als die Vorgängerin aufgeben musste, die szenige Büstenhalter und praktische Wickelhemden mit Tragevorrichtungen für Windeln und Flaschen für Schwangerschaft und Stillzeit entworfen hatte. An der Ecke habe sich zwei Avantgardisten niedergelassen, die in einem riesigen Schauraum eine Handvoll vom letzten Schrei ausstellen und so tun, als verkauften sie die Ware für 700 Euro das Stück. Jedesmal, wenn sich doch ein potenzieller Käufer mal in die Nähe des Ladens verirrt, müssen sie fluchartig ihren Zigaretten- und Bierposten auf der Straße verlassen und hinter der Kasse vorgeben, sie seien erfolgreiche Geschäftsmänner. Schon in der zweiten Woche mussten sie Sonderangebote machen.

An einem Ende der Straße schenkt eine Schwulenkneipe an die härteren Jungs der Szene aus. Einen privaten Filmclub gibt es, dessen Wesen es uns nie richtig gelungen ist zu ergründen. Am anderen Ende hat eine Galerie eröffnet, die in Berlin und St. Petersburg esoterische Kunstwerke ausstellt. Und ein paar Schritte weiter an der Allee betreibt eine bildschöne, türkische Geschwistergruppe ein großräumiges mexikanisches Restaurant. Es geht wie die Pest. Ihre Gäste sind nicht die westdeutschen Kleinstädter aus dem Viertel, die eher Kneipen im Wohnzimmerformat bevorzugen, sondern die Einwohner von ehedem und deren Kinder, die immer noch gerne vom Norden über die Alleen abends ins Viertel kommen, um sich zu amüsieren. Bei der Fußballeuropameisterschaft hatten sie einen Flachbildschirmfernseher auf der Straße aufgebaut. Das Spiel Türkei gegen Deutschland haben wir alle zusammen mit den Freunden der Gastwirte geguckt, die im türkischen Schlachtenbummlerlook angereist waren. Beim Siegtreffer für Deutschland wechselten sie spontan die Seiten und wir hatten eine Menge Spaß zusammen.

Auf der anderen Seite der Allee verkauft Holger portugiesische und deutsche Weine und bringt den Bewohnern des Viertels am Wochenende das Kochen bei. Er erzählt gerne, dass er sich jetzt mehr um die Familie kümmern will und einen Rhythmus mit Anspannung und Entspannung sucht. Um das zu verwirklichen, hat er erst einmal mit der Anspannung angefangen und nebenan noch einen Laden aufgemacht, der Mittags aufwändig selbst gemachte deutsche Gerichte für fünf Euro verkaufen will an die Architekturbüroberater, die Webdesigner und Werbetexter im Viertel, die selbst auch keine Kunden haben.

Drei Straßen weiter zeigt ein Kunstkino deutsche Filme über Underdogs. Vor Filmbeginn müssen sie sich bei den sechs Zuschauern für die Unterbrechung in der Mitte des Films entschuldigen, wenn sie die Rolle wechseln. In der gleichen Straße glaubt einer, er kann mit dem Verkauf von Wasserpfeiffen und Pharaonenstatuen sein Geld verdienen. Wenn er aufgibt, wird jemand den Laden übernehmen, der dort namibische Kunstobjekte verkauft - das weiß ich jetzt schon.

Und das ganze Viertel ist voll von Läden, in denen gut aussehende, sympathische, junge Männer Fahrräder reparieren. Ein Traum!

Der Schatz glaubt, der Sizilianer, der auf der Hauptstraße ein Restaurant betreibt, braucht eine halbe Stunde, um seine Baskenmütze so schief zu justieren, bevor er zur Arbeit. Seine Kollegen haben uns aus Versehen Fisch gebracht anstatt der Kalbsleber - der köstlichste Fehler unseres Lebens. Um alles wieder richtig zu stellen, kam eine Kostprobe der Kalbsleber gleich hinterher. Natürlich stand nur die auf der Rechnung und den Wein haben sie uns erst berechnet, nachdem wir sie strengstens dazu aufgefordert hatten. Aber die Stimmung war erstklassig. Als der Schatz - nachdem er mir das ganze Essen über von dem Paten erzählt hatte - den Sizilianer fragte, wer in der Stadt Canolli machen könnte, meinte der sein Vater, kein Problem, wir sollten nur vorher Bescheid sagen. Nur den richtigen Ziegenkäse zu finden, sei in der Stadt sehr schwer.

Von dem russischen Theater, den Tanz- und Theaterbühnen im Viertel habe ich noch gar nichts erzählt.

Ja, wir sind das, was sie in Frankreich Bobos nennen - Bürgerbohemiens. Oft auch einfach nur bürgerlich. Aber wir wohnen trotzdem gerne hier.

Ich habe auch in Eimsbüttel gerne gewohnt. Der Galao war lecker und die natas do ceu erst! Der Fischladen sucht in ganz Berlin seinesgleichen. Und in der Müggenkampstraße hat ein sympathischer Libanese noch zu meiner Zeit ein gemütliches Lesecafé mit leckerem Kuchen aufgemacht, aber wahrscheinlich nach sorgfältiger Marktstudie und nüchternem Abwägen aller Risiken. Er ist heute noch erfolgreich.

Den ganzen chaotischen, kreativen, unternehmerischen, optimistischen Rest gibt es dort nicht.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich bin von Deinem Blog begeistert. Wo hast Du gelernt, so zu schreiben? Ich mag gar nicht mehr aufhören, all die Geschichten zu lesen. Klasse. Mehr! Viel mehr!

Spreeräuber hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.