Montag, 20. Juli 2009

Mein hübscher Ritter von der traurigen Gestalt

Den einzigen Regenschirm, den ich je wirklich besessen habe, schenkte mir ein Obdachloser.

Es war Winter und ich fuhr mit einem der letzten Züge in der Ringbahn nach Hause. Ein Mann ging durch die Reihen und versuchte die Obdachlosenzeitung zu verkaufen. Er hatte dunkle Locken. Er sah sanft aus und hübsch. Ich kaufte ihm in Exemplar ab.

„Kann er denn nicht von Hartz IV leben?“, fragte neben mir eine pummelige Blondine, „ das gibt es doch für jeden?“ Es klang nicht einmal gehässig, eher nach ehrlichen Interesse. Ich frage mich immer, wie man sich wohl fühlt, wenn man seinen Namen für eine Sozialleistungskürzung hergeben musste, die jeder hasst.

„Die können nicht, die sind am Boden“, versuchte ich Verständnis für die Situation von Obdachlosenzeitungen bei der pummeligen Frau neben mir zu wecken, „krank oder Drogenprobleme.

Mir blieb keine Zeit mehr zu überprüfen, ob ich sie damit überzeugen konnte. Ich war an meiner Haltestelle angekommen und musste aussteigen. Erst als ich auf dem Bahnsteig stand, bemerkte ich, dass der junge Zeitungsverkäufer mit mir ausgestiegen war. Er trat wütend gegen die Tür des abfahrenden Zuges.

„Ihr versteht einfach gar nichts!“, brüllte er.

Dann wandelte er sich schlagartig vom tobenden Obdachlosenzeitungsverkäufer zum vollendeten Gentleman. Es regnete und er bot mir seinen Schirm an. Ich winkte entsetzt ab.

„Ein Mann kann eine Frau einfach nicht im Regen stehen sehen“, behauptete er. Nachdem wir beide weiter ein bisschen auf unserem jeweiligen Standpunkt beharrt hatten und darum herum getanzt waren, nahm ich den Schirm schließlich an. Eine Frau kann einfach keine Ritterlichkeit ausschlagen, die von Herzen kommt, ganz gleich in welcher Verfassung der Ritter daher kommt.

Auf dem Weg aus dem Bahnhof schilderte mir mein Ritter seine Verfassung. Er erzählte vom Tod seiner Frau und wie er dadurch unter die Räder gekommen war: Alkohol, Drogen, keine Arbeit mehr, kein zu Hause. Seine Schwiegereltern kümmerten sich um sein Kind. Er hoffte, bald wieder auf die Beine zu kommen.

Auch als sich unsere Wege trennten, wollte er seinen Schirm nicht wieder annehmen. Ich wünschte ihm Glück. Er lud mich ein, einmal in das Obdachlosencafé bei mir um die Ecke zu kommen, wo er manchmal übernachtete.

Ich habe mich nie dahin getraut. Wie konnte ich wissen, ob ich ihn dort treffen würde? Und die anderen Gäste würden mich bestimmt nicht da haben wollen. Ich, die ich schön im Warmen wohne, mit einem Dach überm Kopf und einer Familie darunter.

Der Schirm ist schon lange kaputt, aber wegwerfen konnte ich ihn nicht. Immer, wenn ich ihn sehe, muß ich an den Ritter denken, der ihn mir überließ. Ein bisschen schlechtes Gewissen bekomme ich davon, und ein bisschen empfinde ich Zärtlichkeit.

Hoffentlich hat er inzwischen ein Dach über dem Kopf, vielleicht ja sogar zusammen mit seinem Sohn.

Samstag, 7. März 2009

Hundstage

Email aus Paris, Herbst 2003

Schon wieder habe ich etliche Monate lang nicht über den Stand der Dinge an der Seine berichtet. Zumindest für den Sommer kann ich zu meiner teilweisen Entlastung anführen, dass unsere „canicule“, zu deutsch „Hundstage“, nicht nur rund 11 000 ältere Pariser dahinraffte, was Mitarbeiter von Bestattungsinstituten dazu zwang, die wohlverdiente Sommerfrische in der Bretagne abzubrechen, während sich der Staatspräsident seelenruhig weiter in Kanada ausruhte. Auch der private Computer verweigerte meinen emsigen Schreibfingern mehrfach die Gefolgschaft, und schaltete sich kurzerhand selbst aus, anstatt zu schmelzen. Es erscheint mir sehr passend, dies als künstliche Intelligenz zu bezeichnen.

So schlau wie der Computer waren meine Eltern indes nicht. Sie standen pünktlich an dem heißesten Wochenende seit der Schlacht von Verdun in der Passage Alexandrine auf der Matte und wollte anlässlich des 60. Geburtstages meiner Mutter bespaßt werden. Nur um zu veranschaulichen, wie heiß es wirklich war, weise ich darauf hin, dass selbst das Geburtstagskind gelegentlich den Schatten aufsuchte und Sonnenstrahlen ungenutzt auf den Asphalt sinken ließ, anstatt die knackige Bräunung aus sechs Jahrzehnten noch ein wenig zu vertiefen. Nur wer sie kennt, weiß, was das bedeutet!


Immerhin gelang es uns, das Geld, das wir durch geschicktes Umgehen einer großen Geburtstagsfeier mit zahlreichen Gästen gespart hatten, bei einem einzigen Mahl zu verjubeln. Das das Restaurant, das Julien mir empfohlen hatte, eher vornehm sein müsse, schwante mir zum ersten Mal, als uns die freundliche Touristenführerin während unserer Bootstour auf der Seine - die leider kaum die erhoffte, erfrischende Brise mit sich brachte -zunächst auf Notre-Dame zu unserer Rechten und dann auf das berühmte Restaurant „Tour d‘ Argent“ zu unserer Linken aufmerksam machte. Der Verdacht sollte sich erhärten, als wir in Hoffnung auf einige Minuten in klimaanlagengekühlter Luft mit dem Taxi vor dem Restaurant vorfuhren, wo uns formvollendet ein Herr empfing, der dazu verdammt war, der Hitze im Livrée zu trotzen. Als der Kellner mir kurz darauf zuhauchte, der Sommelier würde nicht lange auf sich warten lassen, traten mir Schweißperlen auf die Stirn, die wenig mit den Hundstagen zu tun hatten. Ich verwünschte mich insgeheim, weil ich mir nie die Frage gestellt hatte, wofür die Franzosen eigentlich das Geld ausgeben, das sie sparen, indem sie ihre Wohnungen nie renovieren und schwor mir, das nächste Mal genauer nachzufragen, wenn sie mir ein exzellentes Restaurant für den Geburtstag meiner Mutter empfehlen.

Zwischenzeitlich hellte sich das Gesicht meiner Mutter ein wenig auf, weil sie feststellte, dass ihre Speisen keine Preise hatten. Die Freude war indes nur von kurzer Dauer, denn wie sich herausstellte, handelte sich um die Damenkarte. Meinem Vater hingegen wurde sehr deutlich mitgeteilt, welche Kosten entstünden, wenn wir uns für das Entenconfit an Holundersoße mit Steinpilzgarnierung entschieden. Am Ende zwang uns die Damenkarte dazu, uns so weit wie möglich aber doch möglichst unauffällig über unsere großzügige Tafel zu lehnen und uns bevorzugte Speisen und dazugehörige Preise zuzuzischen, bis wir ein Menü zusammengestellt hatten, mit dem wir einigermaßen ungeschoren das Restaurant wieder verlassen konnten. Zum Glück gelang es mir auch, mich nicht von dem Sommelier, der genaugenommen eine Dame war, in eine Diskussion über die Qualität ihrer Weine hineinziehen zu lassen, von denen einige im Wert einem Kleinwagen glichen. Ich bestellte höflich aber bestimmt den billigsten Rebsaft, den ich auf der Karte finden konnte. Jetzt hege ich heimlich den Wunsch, dieses vornehme Restaurant bei passender Gelegenheit mit Silke aufzusuchen, nur um zu sehen, was mit der Damenkarte geschieht, wenn kein Herr dabei ist, um die Preise zu beobachten.

Am Ende ging das Geburtstagsessen aber trotz schwindelerregender Preise doch noch in die Familienannalen als eines der ganz großen gemeinsamen Erlebnisse ein. Wir bestellten alle drei die Ente, die seit Zeiten Heinrich des Dritten in diesem Restaurant serviert wird und schon Richelieu bei seinen Banketten häufig als Hauptspeise diente. Seit etlichen Jahrzehnten wird jede Ente, die diese edle Küche verlässt, gezählt und der dazugehörige Gast bekommt eine Karte mit ihrer Nummer als Andenken mit auf den Weg. Auf die Art und Weise konnte mein Vater nach der Heimkehr seine Nummer mit einem Erbstück der Nachbarn vergleichen, deren Opa während der Besetzung von Paris im II. Weltkrieg die Ente im Tour d‘ Argent auch schon sehr gut geschmeckt hatte.


Wegen der Hitze kann man meinem Vater auch kaum vorwerfen, dass er in Bermudashorts, Sandalen und Baseballkappe deutlich als Supertourist erkennbar durch Paris lief, wenn er nicht gerade im Tour d‘Argent Ente aß. Dennoch stand dieses Kostüm zweifelsohne für all das, wovon das städtische Personennahverkehrsunternehmen RATP spricht, wenn es seine Fahrgäste mahnt, sie mögen Taschendiebe nicht in Versuchung führen.

Fast zwingend und gleichsam durch eigenes Verschulden wurde mein Vater denn auch an der Haltestelle „Nation“ beim Einsteigen in die Linie 9 von zwei jungen Männern angerempelt, die sofort die Metro verließen, als er sich doch schließlich mit verdutztem Gesichtsausdruck in den Wagen gekämpft hatte. Weder die RATP noch die Taschendiebe hatten jedoch mit der Zivilcourage ihrer französischen Mitbürger gerechnet. Am anderen Ende des Wagens machte uns im selben Augenblick ein Fahrgast auf den infamen Diebstahl mit spitzen „Voleur, voleur“ –Schreien aufmerksam– „ Haltet den Dieb“ . Und so nahmen wir sofort unterstützt von dem Franzosen die Verfolgung des jugendlichen Missetäters auf, anstatt nichtsahnend nachhause zu fahren und den Verlust des Portemonnaies erst Stunden später zu bemerken. Dem Franzosen gelang durch beherztes Einbeziehen der Passanten zwar nicht, die zivile Festnahme des Diebes zu erreichen, denn der wand sich schnell aus seiner Jacke, an der er festgehalten wurde. Aber doch ließ er dabei immerhin das Portemonnaie fallen. Und so ging aus diesem Abenteuer die deutsch-französische Freundschaft deutlich gestärkt hervor, ohne dass dies irgendjemanden auch nur einen Zent gekostet hätte, wenn man von dem Dieb absieht, der seine Jacke verlor.

Auch gesundheitlich überstanden meine Eltern diesmal ihren Besuch vergleichsweise gut. Zwar sah sich meine Mutter, an Pflastertreten nicht gewöhnt, schon nach wenigen Tagen gezwungen, neues Schuhwerk zu erstehen, das binnen kürzestem blutgetränkt war. Aber wenn man dies damit vergleicht, dass mein Vater nach dem vorigen Besuch unter Thromboseverdacht ins Krankenhaus gefahren werden und danach noch zehn Tage lang einen sogenannten Zinkleinverband tragen musste, ist dies ein spürbarer Fortschritt.


Samstag, 28. Februar 2009

Sommerbesuche

Der Sommer in Paris zeigt sich weiter von seiner Schokoladenseite, und außer den streikenden Künstlern habe ich nur eine einzige Klage vorzutragen, diese aber ist schwerwiegend: Es gibt keine Eisdielen in Paris, und schon gar keine italienischen!

Um ein lächerlichen Klassiker wie eine Kugel Schokolade und eine Kugel Vanille in der Waffel zu finden, muss man kilometerweit laufen, von Stracciatella haben die hier noch nie etwas gehört und an Priapismus mit Rabatten für Schwangere - an der Elbe ein Standardprogramm - ist gar nicht zu denken. Auf keinen Fall sollte man für den Fußmarsch zur Eisdiele eine ausreichende Ration Wasser und genügend Wegzehrung vergessen. Was waren das noch für Zeiten, als man mich nur auf die Müggenkampstraße hinunterzurufen brauchte, wenn man ganz vorne in der Eiszeit-Schlange stand!

Da hilft es natürlich auch nicht weiter, dass aufgrund der anhaltenden Künstlerstreiks sämtliche Theaterstücke und Konzerte ausfallen, bis hin zu den Freiluftlichtspielen in Avignon. Gegen Streiks im Öffentlichen Personennahverkehr kann man sich wenigstens noch mit dem Fahrrad wehren. Wie man auf systematischen Kulturabbau reagiert, liegt hingegen völlig im Dunkeln. Ich habe vorsichtshalber " Das trunkene Schiff" von Rimbaud auswendig gelernt, und warte im übrigen darauf, dass die Gemälde im Louvre in den Streik treten.

Ansonsten treffen ich mich so oft es geht mit den hübschen Frauen, die in alle Welt ausgeschwärmt sind, um ihr Glück zu suchen. Neulich machte Sabrina nach einem längeren Brasilienaufenthalt auf der Durchreise von Hamburg nach Washington hier Station. Leider war das Wohnzimmer gerade voll mit italienischen Volkswirten, die hier ihre Forschungsergebnisse vortragen wollten, aber mit denen sind wir eigentlich lässig klargekommen, wenn man davon absieht, dass sie uns öfter mal in Nachtklubs abhanden kamen. Auf der Fete bei meinem Nachbarn, dem Architekten, der sich hier mit seiner schrillen Brille ein szeniges Loft eingerichtet hat, machte ich mich leider ein wenig lächerlich, indem ich in spontaner Empörung aus vollem Halse "nein" rief, als er mir anbot, ich dürfe mir auch das durchgestylte Schlafzimmer gerne ansehen. Aber bei den Franzosen kann man ja nicht vorsichtig genug sein.

Sabrina murrte und knurrte zwar ein wenig, als sie sich nach durchzechter Nacht mit meinen Nachbarn – denen ohne Brille - bei 30 Grad im Schatten durch den Bois de Vincennes joggen sah, wurde aber am Nachmittag bei der Radtour durch einen doppelten Salto vollends dafür entschädigt. Diesen vollführte ein junger Mann, welcher sich leichtsinnig auf ihre Schönheit anstatt auf die stillgelegten Schienen vor ihm konzentriert hatte. Wir waren so entsetzt von der Herzlosigkeit seiner Freunde, die in meinem Angebot, einen Krankenwagen zur Hilfe zu rufen, lediglich ein günstige Gelegenheit sahen, mehr über unsere Mobiltelefonnummer zu erfahren, dass wir mit fliegenden Rockschößen die Flucht ergriffen. Hinterher haben wir uns aber doch ein bisschen geschämt. Ab einem doppelten Salto muss man die Telefonnummer eigentlich hergeben, darüber sind sich hier in Frankreich alle einig.

Um den Besucherspieß endlich mal umzudrehen, machte ich mich anlässlich des Sturms auf die Bastille auf, den Ärmelkanal zu überqueren. Dabei musste ich feststellen, dass es schwieriger ist, den Eurostar nach London zu besteigen als nach dem 11. September in die USA einzureisen. Als ich nach der dritten Paßkontrolle kurz vor dem Röntgengerät für die Handtasche wütend "Eurooooopa ohne Grenzen" bellte, fand ich zum Glück in dem französischen Grenzbeamten eine verwandte Seele. Er warf verzweifelt die Arme in die Luft und rief: "Das Vereinigte Königreich hat nicht unterschrieben". Warum treten die eigentlich nicht aus, wenn denen immer alles nicht passt?

Wenn Sabrina glaubt, ich sei eine anspruchsvolle Gastgeberin, dann hätte sie mal Schlucki sollen. Das Tempo, mit dem ich das ganze Wochenende über zwischen Märkten und Museen hin- und hinter Frisbeescheiben im Hydepark herlief, habe ich nur aufrechterhalten können, weil Schlucki mich zwischendurch immer wieder in ihren offen Cabrio einlud (ein alter Fiat Spider aus den achtziger Jahren, und ich soll sagen, dass er TRAUM heißt), und mich auf der linken Straßenseite quer durch London kutschierte. Während ich geduldig gewartet hatte, bis die Nachbarn klingelten, bevor ich Sabrina im Laufschritt in den Bois de Vincennes jagte, erinnerte mich Schlucki bereits morgens um zehn nach einer durchtanzten Nacht mit durchdringender Stimme an meine soziale Verpflichtungen und hetzte mich ein Stunde lang durch ein sündhaft teures Schwimmbad für Anwälte und Börsenmakler in der Londoner City.

Eines der großen Highlights des Wochenendes war die Hochzeitgesellschaft, der wir auf verschiedenen Etappen der Festlichkeiten gleich einem Leitmotiv immer wieder begegnen sollten. Dabei durfte ich mich einmal mehr davon überzeugen, dass nur Engländerinnen diesen unvergleichlichen Mut zur Hässlichkeit haben, ohne den man ihre Hutkreationen beim besten Willen nicht zur Schau tragen könnte. Bei der dritten oder vierten Begegnung ließ ich mir von den englischen Hochzeitsgästen sagen, dass sie sich unter einer deutschen Hochzeit "lots of beer and frivolities" vorstellten. Bei Lichte betrachtet, ist das auch nichts anderes, als was uns unser Freund Stefano Stefani unterstellt, aber irgendwie kam das bei dem Engländer freundlicher rüber.

Noch immer bin ich mir nicht ganz darüber im klaren, ob es nicht ein folgenschwerer Fehler war, aus lauter Ungeübtheit den Heiratsantrag auszuschlagen, den mir ein betrunkener Engländer in einem Londoner Nachtclub (früher "Diskothek") spontan unterbreitete. Man weiß ja nicht, wann das nochmal wiederkommt, und ob überhaupt und so. Schlucki meint, das war genau richtig so. Den Aston Martin, mit dem englische Bräute vor die Kirche vorzufahren pflegen, hätten wir im Leben nicht mehr organisieren können. Auch liegen wir seit dem Wochenende darüber im Clinch, ob der Bagel aus dem 24-Stunden-Bagelshop morgens um sechs und das hauseigene Spiegelei nur wenige Minuten später wegen der vorausgegangenen Gin und Tonics der beste Bagel und das beste Spiegelei aller Zeiten waren, oder ob beide dieses Etikett auch im nüchternen Zustand bekommen hätten. Na ja, Hauptsache sie waren gut. Und am nächsten 14. Juli gehen wir einfach auf einen Feuerwehrball nach Paris, da können nicht so viele Unklarheiten entstehen. Aber bis morgens um sieben! Und um neun wecke ich alle auf, damit wir Fußball spielen gehen können.

Montag, 26. Januar 2009

New York Revisited

Email aus New York, Juli 2002

Allen widrigen Umständen zum Trotz habe ich mich ohne Thrombose und mit verheilender Kniewunde an der gestrengen US-Einwanderungsbehörde als Touristin vorbei schleichen können, und bin auch schon in mein dunkles, dafür aber wunderbar kühles Kellerloch in Park Slope eingezogen. Der italienische Vermieter meines Hauptmieters hat es sich nicht nehmen lassen, mich mit aus den knappen Shorts heraushängender Unterhose zu begrüßen, aber abenteuerliche Wohnungen in New York können mich nun mittlerweile wirklich nicht mehr schrecken. Außerdem darf ich hoffen, täglich beim Einkaufen auf Paul Auster zu treffen. Also bin ich hoch zufrieden.

Bevor ich jedoch meine New-York-Abenteuerberichte endgültig wieder aufnehme, darf ich nicht versäumen, allen denjenigen, die nicht dabei sein durften, von meinen letzten Hamburg-Abenteuern zu berichten – bin mir gar nicht sicher, ob man so tolle Sachen in New York überhaupt erleben kann. Zugegeben sind auch einige auf dem Verteiler, die dabei waren, aber auch für die dürfte ein schriftlicher Bericht nützlich sein. Das kann man zu den Akten heften und hervorholen, falls im Alter einige Erinnerungen schon verblasst sein sollten, wenn man seinen Enkeln von den eigenen, wilden Jugendjahren berichtet, .

Was meine mündliche Doktorprüfung angeht, hatten wir eigentlich immer alle N. mit seiner Loya Jirga für das schwache Glied in der Kette gehalten. Ich will nicht behaupten, daß uns die Nachrichten über die Rangeleien um das künftige afghanische Staatsoberhaupt und daraus resultierende Verzögerungen der Verhandlungen genauso in Atem gehalten hätten wie die Fußballweltmeisterschaft, aber was mich angeht, kam es dem schon sehr nahe, und das lag sicher nicht an meinem mangelnden Interesse für Fußball.

Bei aller Sorge um Ns pünktliche Ankunft in Hamburg hatten wir allerdings völlig außer Acht gelassen, zu was Sonja und ich fähig sein können, wenn wir zusammen losziehen, und welche Folgen das haben kann. Die Schnittwunden, die ich mir bei meinem ebenso kühnen wie illegalen Sprung von unserem Paddelboot aus in das Stadtparkschwimmbad zuzog, hielten wir zunächst für eine Bagatelle, die sich leicht mit Kleenex behandeln ließe. Kein Anlaß jedenfalls auf einige Tannenzäpfle-Biere auf dem Baumaterial am Schulterblatt thronend zu verzichten. Daß die Wunde am nächsten Tag noch unverdrossen weiter blutete führten wir auf meine ausgesprochen schlechte Blutgerinnung zurück.

Erste Zweifel kamen in mir erst auf, als ich mich kurz davor wähnte, mich aus dem geliebten dienstaglichem Oberseminar mit Erbrechen und einer anschließenden spektakulären Ohnmacht zu verabschieden. Mit letzter Kraft konnte ich mich noch in die Praxis von Professor Klaport (oder Klapdorf) im Curio-Haus retten, denn kurz vor so wichtigen akademischen Prüfungen – so dachte ich mir – sollte man sich nur von allerhöchster Stelle behandeln lassen. Daß der Professor ein Internist ist, schien mir eine zu vernachlässigenden Kleinigkeit sein, sollte sich später jedoch als schwerwiegendes Problem herausstellen, denn Internisten – habilitiert oder nicht – säubern grundsätzlich Schnittwunden nicht ordentlich, wie mir später der Arzt im Praktikum in der Eppendorfer Notaufnahme zu verstehen gab, als ich mit meinem Beinumfang bereits mit jedem ausgewachsenen Elefantenbullen konkurrieren konnte.

In die Eppendorfer Notaufnahme schickte mich der sichtlich überforderte Professor passenderweise eine Stunde, bevor ich N. am Flughafen abholen sollte, nachdem er sich drei Tage lang darauf beschränkt hatte, die Schnittwunde kritisch, jedoch ansonsten untätig zu beäugen. Zunächst hielt ich dies lediglich für ein logistisches Problem, zu dessen Lösung ich zum ersten Mal in meinem Leben gerne Mobiltelefonbesitzerin gewesen wäre. N. kam entgegen allen Erwartungen pünktlich an und hatte allen Angebote von Karzai, afghanischer Wirtschaftsminister oder Botschafter bei den Vereinten Nationen zu werden, widerstanden.

Nachdem ich ihn glücklich im Hotel Vorbach abgeliefert und die Ärzte im Praktikum mich zunächst mit ihren Säuberungstinkturen nur mäßig gequält, dafür umso heftiger mit mir geflirtet hatten, fuhr ich zunächst voller Optimismus nach Hause. Auch die Explosion meiner letzten Büchse Tomaten, nahm ich lediglich zum Anlass, eine gewagte Auberginen-Weißwein-Soße zu meinen Spaghetti zu kochen. Nichts ließ mich annehmen, daß es sich um einen Unglückstag handeln könnte. Erst als mein Bein gegen Mitternacht wie schon erwähnt auf Elefantenbullengröße geschwollen war, sah ich mich veranlaßt durch einen Anruf im Elternhause dort für gehörige Panik zu sorgen, indem ich darauf beharrte, daß ich sicherlich an einer Thrombose leiden müsse.

Nachdem ich sichergestellt hatte, daß meine Eltern in dieser Nacht gewiß kein Auge mehr zutun würden, wiederholte ich den Anruf im UKE, wo mich die jugendlichen Ärzte sofort wieder zu sich bestellten und mich in die Obhut eines Sadisten übergaben, der meinem Charme jedenfalls nicht genug verfallen war, daß er sich davon hätte abhalten lassen, solange mit einer Schere in meiner Wunde herumzustochern, bis ich mir wünschte, ich hätte die Sache auf sich beruhen lassen. Daraufhin wurde ich noch mit einer Gipsschiene und Krücken versehen und schon war ich fit für meine Disputation am nächsten Tag.

Immerhin ist es mir gelungen mit meinem Auftritt auf Krücken Sabina lässig an die Wand zu spielen, die sich bekanntlich seinerzeit von einem Grippe/Bronchitis-Krankenlager aus zur Prüfung schleppte. N. schoß noch auf dem Weg vom Hotel Vorbach in den Wiwi-Bunker Fotos von mir, die er Sunbae zeigen wollte, weil ich nach Jahrzehnten an der Uni seine erste Studentin war, die als Invalide zur Prüfung kam. Irina und Isabella überlegen nun verzweifelt, wie sie Sabina und mich noch toppen könnten. Angesichts dessen, daß die Professoren zur Notenfindung den Raum verließen, anstatt mich rauszuschicken, bleibt den beiden eigentlich nur noch, die Prüfungskommission ins Krankenhaus zu bestellen.

Ns Vortrag im HWWA war jedenfalls sehr interessant und auch der Spargel hat am Abend vorzüglich geschmeckt. Außerdem bin ich jetzt stolze Besitzerin einer Luftmatratze, auf der sich demnächst in Paris alle meine Freunde einquartieren wollen, und einer Digitalkamera, mit deren Hilfe ich illustrierte Abenteuerberichte aus New York verschicken kann. Ich sehe es schon förmlich vor mir, wie ich bei jedem romantischen Stelldichein erst einmal die Kamera zücke, damit meine Freunde in Hamburg auch live dabeisein können.

Bei meiner Abschiedsfeier war ich zum Glück schon wieder so flott auf den Beinen, daß ich kräftig dabei helfen konnte, gemeinsam mit meinen tanzwütigen Gästen einen Tag vor der Wohnungsübergabe noch meinen Holzfußboden zu zerstören. Trotzdem ein rauschendes Fest! Die Wohnungsübergabe gelang allerdings nur dank Fannis aufopferungsvollem Einsatz mit dem Poliermittel und etlicher Botendienste durch Gesine und Bernhard. Meine Nerven habe ich nur notdürftig bewahren können, weil Sonja (die echte Sonja!) mir beiseite stand als Nachmieter und Hausverwalter sich eine halbe Stunde eher als geplant in der Müggenkampstraße einfanden. Danke Euch allen!

Inzwischen habe ich auch das Trauma überstanden, in einem Flugzeug voller Österreicher das Weltmeisterschaftsendspiel zu verlieren, indem ich mir immer wieder vor Augen geführt habe, wieviel schlimmer es gewesen wäre, KLM oder British Airways zu fliegen.


Sonntag, 4. Januar 2009

Passage Alexandrine

Email aus Paris März 2003

Mittlerweile ist es ja doch ein paar Sonnabende her, dass ich Euch das Neueste aus der anderen Hälfte des alten Europas berichtet habe. Zu meiner Entschuldigung kann ich anbringen, dass es sich diesmal nicht als Abenteuerberichterstatterin auf Zeit vor Ort bin, sondern mich bis auf
weiteres hier zu Hause zu fühlen und mir ein Nest zu bauen habe. Das kann einen schon einmal ein paar Wochen in Anspruch nehmen.

Der Einsatz beginnt sich auszuzahlen. Ferdinand und Benjamin von gegenüber haben eine große Dachterasse, auf der sie ununterbrochen Aperitif ausschenken und großen Gruppen lärmender Franzosen mehrgängige Diners servieren. Da lohnt es sich schon einmal, in einen Frankenwein zu investieren, um sich näher zu kommen. Auch Hugo, mein Nachbar von der anderen Straßenseite winkte mich vergangene Woche ans Fenster, um mich auf einen Aperitif zu sich einzuladen. Jetzt weiß ich, dass er sich gemeinsam mit anderen Nachbarn verschworen hat, den Bürgermeister unseres Arrondissements einzuladen, um ihm vorzuführen, wie laut die Kinder in der Halfpipe nebenan sind. Für mich hingegen sind Halfpipe und Bolzplatz die einzige Entschädigung dafür, dass mein Grundig-Fernseher mit dem französischen Dekodierungssystem nicht fertig wird. Es gibt immer spektakuläre Unfälle zu beobachten, oder junge, verantwortungslose Väter, die lieber mit ihren Kumpels einen auf Zinedine Zidane machen, anstatt über ihre Kleinstkinder zu wachen, während die sich ohne Rollschuhe und Helm zwischen lauter Teenagern in Kampfausrüstung die Halfpipe hinunterstürzen. Ich habe erhebliche Zweifel, dass die Mutter ahnt, was sich da jeden Sonntag vor meinem Küchenfenster abspielt.

Jedenfalls sind Hugos' und meine nachbarschaftlichen Verhältnisse etwas unter Spannung geraten, als ich ihm vorhielt, ob es ihm denn lieber sei, wenn die Kinder mit Drogen dealten. Immerhin ist das leiser als Rollschuhfahren. Aber wir haben dann gottlob doch noch die Kurve bekommen. Es gelang ihm, mich sehr mit der Geschichte zu erheitern, wie seine Mutter
ihm in einem Brief vorhielt, er lebe in Todsünde, als sie Verdacht schöpfte, dass er nicht die ganze Zeit mit seiner Freundin im Katechismus liest, wenn er bei ihr übernachtet.

Im Mélac, meinem Haus- und Hofweinkeller nebenan, bekomme ich inzwischen auch ohne die schwangere Nina Bratsch ohne größeren Widerstand eine Karaffe Wasser, seit ich die betont unfreundlichen und bevormundenden Kellner gemeinsam mit meinen Eltern mit dem Konsum eine Flasche französischen Weins je Schnapsnase beeindruckt habe. Der Gemüsehändler aus Djerba begrüßt mich inzwischen mit Handschlag und verabschiedet mich jedesmal mit einem Bund Petersilie. Er fand es so lustig, daß ich "petersile" verlangte, obwohl es doch "persil" heißt. Das wiederum will mir komisch vorkommen, aber es ist mir zu kompliziert, ihm das zu erklären. Am Sonnabend kam er eigens aus eine hölzernen Bodenluke gekrochen, um sich danach zu erkundigen, wie es vergangene Woche in der mit Federica
Normandie war.

Christelle, Filmregisseurin von Beruf, wohnt auch um die Ecke. Natürlich habe ich sie auf einer Vernissage kennen gelernt. Sie zeichnet sich neben ihrem interessanten Beruf vor allem dadurch aus, dass sie die einzige bekennende germanophile Französin auf der Welt ist. Ihr gefallen nicht nur die deutsche Sprache und Literatur, sondern auch die deutsche Geschichte, was ich zum ersten Mal im meinem Leben höre. Ich freute mich aber so über die Zuneigung,
dass ich davon absah nachzuhaken. Während der Fußballmeisterschaft ging sie zum Entsetzen ihres Freundes so weit, eine Deutschlandfahne vor ihrem Fenster zu hissen.

Außer strenggläubigen Katholiken frequentiere ich als Ausgleich eine Gruppe strenggläubiger, wenn auch nicht orthodoxer Juden. Wie man es von ihnen erwartet, verfügen sie alle über viel Intelligenz, Bildung und Mutterwitz, und sie feiern und tanzen gerne. Das macht die Freundschaft sehr anregend und bereichernd und gleicht kleinere Unannehmlichkeiten aus, wie die, dass einige von ihnen sonnabends den Telefonhörer nicht abheben, weil sie keine Elektrizität benutzen dürfen. Auch kommt es gelegentlich vor, dass sie bei einer Einladung zum Abendessen nur den Reis verzehren, weil sie mir nicht glauben wollen, dass mein Hühnchen koscher ist. Zum Glück konnten wir nicht feststellen, wie es sich mit Rotbarsch verhält, und so zeigten sich meine Gäste einmal liberal und aßen auf Verdacht. Alleine hätte ich mir nun doch
nicht zugetraut, den ganzen Rotbarsch zu verzehren.

Elise und Julie sind hingegen ganz weltlich, essen und trinken alles und zwar nicht zu knapp, und stürzen sich ohne nennenswerte Proteste aus dem Elternhaus in zahlreiche Liebesabenteuer, meistens mit feurige Salsatänzern aus Kuba oder den Antillen. Ihre Freunde laden mich auf Grillfeste in die Vorstadt ein und Ostern haben wir essend, trinkend und diskutierend auf dem
Bauernhof von Elises Oma verbracht.

Essen und Trinken nehmen die Franzosen überhaupt sehr ernst. Das musste vor allem mein polnischer Kollege Andreij leidvoll erfahren, als er im Weinkeller den Käse auf das Baguette legte, anstatt das Brot zu öffnen und ihn hineinzulegen. Der schrille Entsetzensschrei von Olivier und Julie, der wie aus einem Munde kam, hallt mir heute noch in den Ohren. Alina, die sich zu dem Zeitpunkt mit Martin kurzfristig ein Liebesnest in Clichy gebaut hatte, half mir anschließend, mir den Schrecken gemeinsam mit den Kellnern aus dem Leibe getanzt. Aber Andreij konnte sich nie wieder so richtig erholen, jedenfalls ist er seither nicht mehr mit uns ausgegangen.

Berichtenswert erscheint mir auch noch, dass die Franzosen nach jahrzehntelangen erbittertem Widerstand vollständig und ohne Bedingungen vor der Dominanz der englischen Sprache kapituliert haben. Dies zeigte sich mir unlängst eindrucksvoll in der Metro, wo ein französischer Bettler am anderen Ende des Wagens eine längere Geschichte zum Besten gab, um seine Bedürftigkeit zu veranschaulichen. Offensichtlich nahm er dennoch nicht viel ein, denn als er bei mir ankam, murmelte er, er müsse Englisch lernen, die Leute verstünden ihn einfach nicht, wenn er französisch rede. Er tat mir so leid, dass ich doch noch schnell fünfzig Zents zückte.