Sonntag, 24. August 2008

Entdecke Deinen Kiez - Dichtung und Wahrheit

Mein Stadtviertel hat einen schlechten Ruf.

"Gleichgestaltet", urteilen die Kreuzberger abfällig und sind stolz auf die verschleierten Frauen in ihrer Straße und deren Söhne, die mit Goldkette, viel Gel im Haar und wuchtigen Oberarmmuskeln zu hämmernder Musik Luxuswagen durch das Viertel steuern, während ihre Schwestern neben Studium und Beruf in progressiven Parteien oder Verbänden Integrationsarbeit leisten. Die Kreuzberger sind stolz auf diese Nachbarn, und das ist nicht schwer zu verstehen. Aber in der Regel dürfen sie nicht einen von denen auch nur ihren Bekannten nennen.

"Westdeutsche Kleinstädter", höhnt Kai. Er muss es wissen. Schließlich ist er selber einer und fühlt sich wie wir alle in der Großstadt ungemein befreit.

"Bionade-Biedermeier", titelt ein westdeutsches Wochenblatt, dessen Artikel in den letzten zwanzig Jahren zwar deutlich kürzer, aber deswegen noch lange nicht weniger langweilig geworden sind. Die Autorin ist sicher mächtig stolz auf ihre Alliteration. Der Schatz hält sie für eine Eimsbüttlerin, die jeden Sonnabend in der gleichen Portugiesen-Bar verbiestert ihren Galao trinkt und nichts lieber täte, als sich eine große Sonnenbrille aufzusetzen und sich frei zu fühlen zwischen den all gutaussehenden, nicht mehr ganz so jungen Leuten hier, die seit neuestem Vollbärte tragen, oder - wenn sie das nicht können - immer noch die Miniröcke über Leggins aus dem letzten Jahr. Dazu, wenn möglich, einen schwangeren Bauch. Statt des immergleichen Galao hätte sie die Wahl zwischen schnieken Cafés mit Kaffee und Kuchen, großräumigen ausländischen Restaurants mit Brunch-Mozzarella und Tomaten bis sechs Uhr abends und einräumigen Bars, die Milchschaumkaffee und aufwändige Sandwiches auf Holzstühlen und Sesseln vor der Tür anbieten. Deren Gäste schreiben auf ihren Labtops oder versperren den Bürgersteig mit ihren Kinderwagen. Anstatt zu arbeiten verfolgen sie Projekte - zum Beispiel Artikel schreiben für dieses Wochenblatt. Es sei denn sie fahren morgens doch klammheimlich zum Dienst, um spätestens bis neun Uhr einzustechen. Denn unser Viertel ist nicht zuletzt eines der bedeutensten Beamtenghettos der Stadt.

Früher wohnten hier Kommunisten, die im Widerstand kämpften. Gleich um die Ecke ist Hans Rosenthal aufgewachsen, bis ihn jemand vor den Nazis in einer Gartenlaube versteckte. Und während der Teilung haben sich die Denker und Bohemiens in den langsam zerfallenden Altbauwohnungen Nächte lang diskutiert und selbst gedichtete Lieder gesungen.

Nach dem Mauerfall übten die Einschußlöcher in den Häuserfassaden, die vielen leeren Wohnungen mit Außentoiletten und Kohleheizungen und all die Freiräume dazwischen eine magische Anziehungskraft auf Studenten und Lebenskünstler aus, die sich von der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft abgrenzen wollten, aus der sie kamen. Oder auf russische Abenteurer, die vorher in Moskau in halb so großen Wohnungen zusammen mit drei Familien gewohnt hatten. Sie alle zusammen besetzten Wohnungen, die niemandem gehörten, veranstalteten Picknick auf den Dächern und Pillenexzesse, feierten wilde Partys und spielten Konzerte in den Innenhöfen.

Inzwischen ist die Zeit über das Viertel hinweg gezogen. Durch die Straßen fahren Touristenbusse, deren Insassen die vielen Bars und Cafés bestaunen sollen. Die Häuser sind fein renoviert und ihre Insassen sind mit den Studenten von damals gealtert. Sie sind zu Geld gekommen und haben die Bewohner von einst gnadenlos mit Hilfe von Mietpreissteigerungen über die Danziger Straße vertrieben. Sie kaufen nur Ökolebensmittel und Ökostrom, melden ihre Kinder mit zwei beim Yoga an und mit drei beim Mandarin-Unterricht. Wenn diese hochgebildeten Kleinen wegen Überfüllung der nächst gelegenen Schule eine erste Klasse zusammen mit lauter bis an die Zähne bewaffneten Araber-Kindern im Wedding besuchen sollen, strengen sie Gerichtsprozesse an.

Neulich traf ich am ein dickes Ehepaar im Alter meiner Eltern aus meiner Heimtastadt, die sich im Viertel eine Eigentumswohnung gekauft haben, um öfter mal die schicken Restaurants und Theater besuchen zu können. Ganz gleich wie weit man reist, seiner Herkunft entkommt eben nicht so leicht...

Und die Ausländer im Viertel sind nichts als ein Abbild unserer selbst, nur mit einer anderen Muttersprache. Bürgerkinder aus reichen Industrieländern, die die billigen Mieten dankbar annehmen - denn alles ist relativ - um hier nach Freiräumen zu suchen und sich auszuprobieren. Amerikanische Buchhändler, französische Sängerinnnen und Gastronomen und Italienerinnen, die sich entnervt von den niedrigen Löhnen in ihrer Heimat hier als Lehrerin verdingen. Wir nennen sie gerne Edelkanacken. In unserem Flirt-Kaiser's ist Deutsch nur eine Sprache von vielen. Aber richtig ist auch, dass der vietnamesische Gemüsehändler und der Döner-Verkäufer nicht im Viertel wohnen.

An all diesen Vorurteilen ist mehr als nur ein Kern Wahrheit. Aber wer nur das sieht, weiss nichts davon, was in unserem Viertel los ist.

Sie ahnen nicht von Karina, der Flamenco-Lehrerin, die mit ihrem charmanten Österreicher im dritten Stock lebt und an ihr Kind nur Mutterliebe läßt. Sie wissen nichts von Clara, die im fünften seit Jahren an ihrer Kollektion hochwertiger Mode-Accessoires arbeitet und bald ein großer Star sein wird, wenn sie endlich damit an die Öffentlichkeit tritt. Und sie wissen nichts von Molly und Polly im zweiten, die schon vor dem Mauerfall hier wohnten. Bestimmt erledigten sie auch damals bereits die Aufgaben der Concierge und fragten jeden Nachbarn, den sie im Treppenhaus trafen, nach allen näheren Lebensumständen aus. Von der Tomatenzucht im Sandkasten und dem Partytisch im Hof und von den Teenagern, die hinter den Fahrradständern Wasserpfeiffe rauchen, wissen sie ohnehin nichts.

Sie wissen nichts von dem vitalen, unverdrossenen Unternehmergeist, der im Viertel herrscht, beseelt von unerschütterlichem Optimismus auch die abwegigste Idee noch zu vermarkten sucht und sich von keinem Rückschlag auf der Welt den Mut nehmen läßt. Schon der dritte Psychotherapeut mit heilpraktischer Ausbildung hat sich in der Straße niedergelassen und das ganze Viertel wimmelt nur so vor Angeboten für fernöstliche Massagepraktiken, Entspannungstechniken und Heilbäder. "Wovon wollen die sich hier entspannen", staunt ein Kollege im Büro immer, der sonst in London zuhause ist.

Obwohl unsere Straße eine der ruhigsten des Viertels ist und niemand ernsthaft auf Laufkundschaft hoffen kann, hat sofort ein Töpferin das Geschäft nebenan übernommen, als die Vorgängerin aufgeben musste, die szenige Büstenhalter und praktische Wickelhemden mit Tragevorrichtungen für Windeln und Flaschen für Schwangerschaft und Stillzeit entworfen hatte. An der Ecke habe sich zwei Avantgardisten niedergelassen, die in einem riesigen Schauraum eine Handvoll vom letzten Schrei ausstellen und so tun, als verkauften sie die Ware für 700 Euro das Stück. Jedesmal, wenn sich doch ein potenzieller Käufer mal in die Nähe des Ladens verirrt, müssen sie fluchartig ihren Zigaretten- und Bierposten auf der Straße verlassen und hinter der Kasse vorgeben, sie seien erfolgreiche Geschäftsmänner. Schon in der zweiten Woche mussten sie Sonderangebote machen.

An einem Ende der Straße schenkt eine Schwulenkneipe an die härteren Jungs der Szene aus. Einen privaten Filmclub gibt es, dessen Wesen es uns nie richtig gelungen ist zu ergründen. Am anderen Ende hat eine Galerie eröffnet, die in Berlin und St. Petersburg esoterische Kunstwerke ausstellt. Und ein paar Schritte weiter an der Allee betreibt eine bildschöne, türkische Geschwistergruppe ein großräumiges mexikanisches Restaurant. Es geht wie die Pest. Ihre Gäste sind nicht die westdeutschen Kleinstädter aus dem Viertel, die eher Kneipen im Wohnzimmerformat bevorzugen, sondern die Einwohner von ehedem und deren Kinder, die immer noch gerne vom Norden über die Alleen abends ins Viertel kommen, um sich zu amüsieren. Bei der Fußballeuropameisterschaft hatten sie einen Flachbildschirmfernseher auf der Straße aufgebaut. Das Spiel Türkei gegen Deutschland haben wir alle zusammen mit den Freunden der Gastwirte geguckt, die im türkischen Schlachtenbummlerlook angereist waren. Beim Siegtreffer für Deutschland wechselten sie spontan die Seiten und wir hatten eine Menge Spaß zusammen.

Auf der anderen Seite der Allee verkauft Holger portugiesische und deutsche Weine und bringt den Bewohnern des Viertels am Wochenende das Kochen bei. Er erzählt gerne, dass er sich jetzt mehr um die Familie kümmern will und einen Rhythmus mit Anspannung und Entspannung sucht. Um das zu verwirklichen, hat er erst einmal mit der Anspannung angefangen und nebenan noch einen Laden aufgemacht, der Mittags aufwändig selbst gemachte deutsche Gerichte für fünf Euro verkaufen will an die Architekturbüroberater, die Webdesigner und Werbetexter im Viertel, die selbst auch keine Kunden haben.

Drei Straßen weiter zeigt ein Kunstkino deutsche Filme über Underdogs. Vor Filmbeginn müssen sie sich bei den sechs Zuschauern für die Unterbrechung in der Mitte des Films entschuldigen, wenn sie die Rolle wechseln. In der gleichen Straße glaubt einer, er kann mit dem Verkauf von Wasserpfeiffen und Pharaonenstatuen sein Geld verdienen. Wenn er aufgibt, wird jemand den Laden übernehmen, der dort namibische Kunstobjekte verkauft - das weiß ich jetzt schon.

Und das ganze Viertel ist voll von Läden, in denen gut aussehende, sympathische, junge Männer Fahrräder reparieren. Ein Traum!

Der Schatz glaubt, der Sizilianer, der auf der Hauptstraße ein Restaurant betreibt, braucht eine halbe Stunde, um seine Baskenmütze so schief zu justieren, bevor er zur Arbeit. Seine Kollegen haben uns aus Versehen Fisch gebracht anstatt der Kalbsleber - der köstlichste Fehler unseres Lebens. Um alles wieder richtig zu stellen, kam eine Kostprobe der Kalbsleber gleich hinterher. Natürlich stand nur die auf der Rechnung und den Wein haben sie uns erst berechnet, nachdem wir sie strengstens dazu aufgefordert hatten. Aber die Stimmung war erstklassig. Als der Schatz - nachdem er mir das ganze Essen über von dem Paten erzählt hatte - den Sizilianer fragte, wer in der Stadt Canolli machen könnte, meinte der sein Vater, kein Problem, wir sollten nur vorher Bescheid sagen. Nur den richtigen Ziegenkäse zu finden, sei in der Stadt sehr schwer.

Von dem russischen Theater, den Tanz- und Theaterbühnen im Viertel habe ich noch gar nichts erzählt.

Ja, wir sind das, was sie in Frankreich Bobos nennen - Bürgerbohemiens. Oft auch einfach nur bürgerlich. Aber wir wohnen trotzdem gerne hier.

Ich habe auch in Eimsbüttel gerne gewohnt. Der Galao war lecker und die natas do ceu erst! Der Fischladen sucht in ganz Berlin seinesgleichen. Und in der Müggenkampstraße hat ein sympathischer Libanese noch zu meiner Zeit ein gemütliches Lesecafé mit leckerem Kuchen aufgemacht, aber wahrscheinlich nach sorgfältiger Marktstudie und nüchternem Abwägen aller Risiken. Er ist heute noch erfolgreich.

Den ganzen chaotischen, kreativen, unternehmerischen, optimistischen Rest gibt es dort nicht.

Mittwoch, 20. August 2008

Lebemänner in New York

Email aus New York, Februar 2001

Mein Heimweh ist überwunden und in Williamsburg habe ich mich wunderbar eingelebt. Ich genieße meinen Blick aus dem Schlafzimmer auf Manhattan und das Gefühl, am Meer zu leben. Wenn ich morgens zur U-Bahn laufe, fliegen die Möwen über meinen Kopf hinweg.

Williamsburg ist wie das Schanzenviertel, jedenfalls, was den Look der Leute angeht. Ich warte immer nur darauf, daß mich jemand anpfeift, ich solle doch zurück nach Eppendorf gehen, so wie es mir dort einst widerfuhr. Ansonsten ist es den Williamsburgern mit dem Hippsein etwas ernster - sie haben alle entweder ein Skateboard unter den Fueßen oder einen Geigenkasten unter dem Arm. Und das nicht nur zur Zierde.

Am Sonnabend wollten Jeanette und ich eigentlich Salsa tanzen gehen. Irgendwie bogen wir aber falsch ab, und ließen uns von Bartender A ( eigentlich Fotograf) auf die "Künstlerloftparty" von Bartender B ( eigentlich "Maler") abschleppen. Leider ließ die Malerei von Bartender B nach meinem Geschmack etwas zu wünschen übrig. Darüberhinaus stellte er sich als dermaßen betrunken heraus, daß ich ihn bei unserem Tänzchen nicht nur führen mußte - was ich zugegebenermaßen ganz gerne tue - sondern im Prinzip auch allein dafür verantwortlich war, daß er sich in der Vertikalen hielt. Das war mir dann doch ein bißchen zu viel. Wobei der mir noch lieber war, als der noch wesentlich betrunkenere junge Man an der Bar, der die Morde der RAF als notwendigen Gewaltakt gegen den Kapitalismus einstufte, allerdings weder Ulrike Meinhof noch Joschka Fischer kannte, dem es auch als Nicht-RAF-Mitglied zur Zeit mühelos gelingt, es mit seinen Straßenschlachten aus der Jugend in die New York Times zu schaffen. Sein Gehalt bezieht der RAF-Sympathisant übrigens vom kommunistischen, amerikanischen Staat - als Geschichtslehrer. Und macht sich jetzt jemand von Euch ein Vorstellung davon, welche Sorgen ich mir um amerikanische Kinder mache?

N. setzte mir neulich beim Mittagessen auseinander, daß die Deutschen mit ihrem Krieg und ihrer Judenverfolgung neben allem andern zwar ihre eigene akademische Basis komplett zerstört, dafür aber die der Amerikaner weit nach vorne katapultiert hätten. Mit anderen Worten, wär der Krieg nicht gewesen, dann müßte Nadiri jetzt mich besuchen und ich bräuchte kein Heimweh zu haben. Wußtet ihr, daß Fritz Machlup nicht nur dermaßen gutaussehend war, daß er immer eine Traube von Frauen hinter sich herzog (auch noch mit achtzig), sondern auch ein derart hingebungsvoller Ökonom, daß er regelmäßig auf Festen um elf Uhr aufsprang, um an die Uni zu fahren und weiterzuforschen? Konsequenterweise ist er auf einer Konferenz tot umgefallen, als er gerade eine Frage stellte. Auch Oskar Morgenstern glänzte an der NYU nicht nur mit der Erwartungsnutzentheorie, sondern auch mit Schönheit und österreichischem Charme. N. bezeichnet die beiden als deutsch, aber das muß ich meiner Tante und meinem Onkel zuliebe korrigieren, die sehr strenge Leser meines Bulletins sind.

Mal sehen, ich heute abend Lucas treffe. Inzwischen habe ich auch richtigen Kaffee gekauft, das heißt, wenn ich wir uns begegnen, kann ich dann auch nicht mehr schlafen. Und sonst finde ich morgens immer ein Zettelchen von ihm. Vorgestern hatte er gekocht. Weil ich es ab und zu mal wage, eine schmutzige Schüssel für ihn mitabzuspülen, hat er einen Zettel an das Geschirr gehängt:

"Spülen verboten - ich mache das!"


Mittwoch, 6. August 2008

Dunkle Kiefernwälder - die Zivilgesellschaft von S.

In das Städtchen S. hatte uns einer dieser harmlosen Sonntagsausflüge geführt, die man morgens in der Berliner S-Bahn damit beginnt, seine mitgeführte Tagesration an Stullen kurz nach dem Einsteigen restlos zu verzehren. Es war der Endpunkt einer romantischen Fahrt durch blitzblank renovierte, wenn auch nahezu unbewohnte Dörfer durch dunkle Kiefernwälder und über weite, mit Klatschmohn gesäumte Felder. Nur selten hatte der märkische Sand dabei das Fortkommen erschwert, besitzen doch die Fahrradwege in dieser Gegend in der Regel der EU-Regionalförderung sei's gedankt Bundestraßenqualität.

Als wir eben vor der geplanten Besichtigung des als malerisch geltenden Städtchens unser wohlverdientes Mineralwasser austrinken wollten, entwickelten sich am anderen Ende des Marktplatzes Tumulte. Ein vermutlich mit verschiedenen Drogen aufgeputschter Mann mit äußerst kurzen blonden Haaren brüllte einen Dunkelhaarigen an und schlug dabei abwechselnd ihn und sein Auto. Einer Frau mittleren Alters, die zu schlichten versuchte, schenkte er keinerlei Beachtung. Oder doch, denn wie sie später berichtete, blieb auch sie von seinen Schlägen nicht verschont. Aus schwer nachvollziehbaren Gründen versuchte der Dunkelhaarige sich mit seiner mangelnden Zahlungsfähigkeit zu verteidigen und wies dabei auf seine Arbeitslosigkeit hin.

Die Bürger von S. schalteten schnell ihre Fernseher aus und versammelten sich am Straßenrand und an ihren offenen Fenstern, um zu staunen, wenn sie sich nicht im angrenzenden Biergarten in der priviligierten Situation befanden, gleichzeitig das Geschehen und die Europameisterschaftspartie Italien gegen Spanien verfolgen zu können. Unsere Versuche, in Erfahrung zu bringen, ob jemand die Polizei gerufen hatte, führten nicht weit. Die meisten reagierten auf Nachfragen gar nicht. Ein älterer Herr forderte mich auf, zwei Männer, die sich vermöbelten doch in Ruhe zu lassen, solange sie keiner Frau etwas täten. Ich fragte mich, ob die Brandenburger sich mit der Annahme einer südländisch-patriarchalischen Geisteshaltung auf die Olivenhaine und die sonnige Ostseeküste vorbereiten wollten, die der Klimawandel womöglich bald in diese Gefilde bringen wird, und betrachtete dabei sorgenvoll das Blut, das inzwischen beiden Kämpfern aus dem Mund floß.

Während ich mich noch in solchen Überlegungen erging, hatte der Schatz schon längst die Polizei von S. angerufen und marschierte entschlossen auf die Gaffer im besten Mannesalter zu, um sie wie aus einer polizeilichen Anleitung zur Gewaltdeeskalation gezielt anzusprechen und zur Hilfe aufzufordern. Nun pfeiffen die Bürger von S. aber auf solche Anleitungen. Sie ziehen das passive Staunen vor. Lediglich der wuchtige Wachmann vor der Sparkasse ließ sich schließlich beim dritten Anlauf davon überzeugen, behilflich zu sein. Es gelang ihm sogar, den Angreifer mit einer imposanten Gorilla-Pose vorübergehend dazu zu bringen, von seinem Opfer abzulassen. Aber schon bald brüllte er wieder wie ein Tier, schlug und trat auf den Dunkelhaarigen ein und bezichtigte die angesichts der Aussichtslosigkeit ihrer eigenen Deeskalationsversuche inzwischen verzagte Frau, die sich als seine Schwiegermutter in spe entpuppte, des Verrats der Familienehre. Ich verwarf die Olivenhaine. Statt dessen tauchten rauhe, kurdische Bergdörfer und finstere Dorfälteste mit zerfurchten Gesichtern vor meinem geistigen Auge auf, während ich immer verzweifelter von einem durchtrainierten Gaffer zum nächsten lief, um sie zunehmend schrill und doch unverändert ergebnislos darum zu bitten, dem langen schlaksigen Brillenträger ohne Muskeltraining und Kampferfahrung dabei zu helfen, ihren Nachbarn ruhigzustellen. Es half auch nichts, dass ich an den Zaunstäben des Biergartens rüttelte - wer gibt schon einen Platz auf, auf dem er auch ohne Fouls gleichzeitig Fußball und Gewalt sehen kann.

Schließlich stürzte ich mich in Panik um meinen Schatz in das Kampfgetümmel - der Kampfhund des Angreifers hatte sich inzwischen eindeutig als altersschwach und zahnlos erwiesen. Das veranlaßte den Angreifer, sich vorübergehend zu beruhigen, meine Hand zu ergreifen und mir seine Gewaltlosigkeit gegenüber Frauen zu beteuern. Ich entschied mich endgültig für Kurdistan. Während ich innnerlich nach taktvollen Wegen suchten, der Schwiegermutter auf der Suche nach einem friedlicheren und moderneren Schwiegersohn Online-Partnersucheforen für ihre Tochter nahezulegen, geriet ich äußerlich in wachsende Panik. Der Schatz hatte offenbar keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als den inzwischen wieder tobenden Angreifer zu Fall zu bringen. Immerhin verfehlten meine gellenden Schreie, man möge doch die Sehhilfe meines Freundes und die damit verbundenen Gefahren in dem Handgemenge nicht völlig vernachlässigen, ihre Wirkung nicht ganz. Als der Angreifer mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, machte er nicht etwa von dem Messer Gebrauch, das ihm aus der Tasche gefallen war, sondern forderte den Schatz auf, es gut sein zu lassen, denn seine Freundin habe Angst. Der blieb trotzdem auf dem Mann knien, bis endlich die Polizei kam. Noch heute schwillt meine Brust vor Stolz, wenn ich an diesen Heldenmut denke!

Die Ankunft der Polizei nutzte ich, um die Bürger von S. wüst zu beschimpfen, sie aufzufordern, sich zu schämen, und die Frage aufzuwerfen, ob sie auch gaffen, wenn eine Frau auf ihrem Marktplatz vergewaltigt wird. Wahrscheinlich stellen sie sich eher hinten an. Der Schatz konnte mich gerade noch davon abhalten, das Geschehene zum Anlaß zu nehmen, lautstark über die politische Haltung der ostdeutschen Landbevölkerung nachzusinnen. Das wäre auch nicht fair gewesen, denn immerhin waren die Schwiegermutter und der Wachmann mutig gewesen, letzterer womöglich allerdings eher von Berufs wegen. Das ist eine dünne Ausbeute, aber es ist nicht nichts.

Am Bahnhof von S. mussten wir schließlich feststellen, dass die helle Haut und die lokale Abstammung der örtlichen Jugend offenbar nicht dabei hilft, besser deutsch zu sprechen als einige Neuköllner, um deren Fähigkeiten und Chancen ich mich gelegentlich in der Berliner U-Bahn sorge. Wir fuhren sehr betrübt nachhause und fragten uns, wie man mit solchen Menschen eine würdige Zivilgesellschaft aufbauen soll. Wahrscheinlich von Grund auf umerziehen, aber wie fängt man das an?

Inzwischen hat Hans zu Bedenken gegeben, dass weder die Zeiten noch die Menschen schlimmer geworden sind. Im Gegenteil, die Bewohner seines westdeutschen Dorfes brauchten in den Siebzigern nicht einmal Alkohol, um brutale Gewalttaten zu begehen. Auch ich muss mich, wenn ich ehrlich bin, an wüste Schlägereien zwischen Nazis und ihren Gegnern auf den Jugend- und Schützenfesten meines westdeutschen Heimatortes erinnern. Doch das mag zwar die Situation in Ostdeutschland und die heutige Zeit in Perspektive zu setzen, ein rechter Trost ist es nicht. Ich versuche mich lieber damit zu trösten, das die Berliner geholfen hätten - jeder einzelne, ganz bestimmt.

Williamsburg und Heimweh

Email aus New York, Januar 2001


Heute schreibe ich Euch als stolze Besitzerin einer neuen Wohnung, eines neuen Mitbewohners und eines neuen Haarschnitts. Wie Ihr Euch denken könnt, ist in der letzte Woche mal wieder eine Menge passiert...

Mein Freund Frank, der Friseur aus Hell's Kitchen, mußte für seine Ausbildung ein Modell frisieren. Dafür hatte er mich auserkoren. Da Frank, Arnold und ihre Freunde mich in der Tenth Avenue Lounge immer wie eine Prinzessin behandeln, mir jeden Drink spendieren, mich zu dritt nach Hause begleiten, und Frank dabei ununterbrochen durch meine Haare fährt und exaltiert ruft "you're beaueaueaueautiful", kann ich dem Mann keine Bitte abschlagen. Bin schließlich auch nur eine Frau. So trug es sich also zu, daß ich vergangene Woche im Uptown Vidal Sassoon Salon in der Fifth Avenue über einen mit schwarzer Plane auf den Boden geklebten Laufsteg stolzierte, und posierte, als hieße ich Claudia Schiffer und hätte noch nie in meinem Leben etwas anderes getan. Dabei fällt mir übrigens ein, daß wir heute noch über Curzio lachen muß, der Frank einmal fragte, ob man bei Vidal Sassoon auch etwas essen kann, weil der sich kurz zuvor beklagt hatte, daß er den ganzen Tag bedienen muß (was ich natürlich nicht dazu sage ist, daß Tim mir mal kurz hintereinander erst von Küchenschwämmchen und dann von der Hilfinger-Etage im Macy's erzählte, woraufhin ich - leider laut - schloß, daß Hilfinger Küchengeräte herstellt).

Aber der Teufel liegt im Detail, und mit unseren Verhandlungen, wie genau der neue Haarschnitt auszusehen habe, unterhielten wir den ganzen Salon. Ich muß dazu sagen, daß ich mich nach sieben friseurlosen Monaten inzwischen langer, wallender Locken erfreue, die ich auf keinen Fall hergeben wollte. Wir konnten uns schließlich darauf einigen, daß Frank zumindest mein Gesicht freilegen durfte. Aber die anderen Friseure machten sich während der gesamten Prozedur einen Spaß daraus, sich neben uns zu stellen, die Hände überm Kopf zusammenzuschlagen und zu rufen "oh Gott, Du hast ihr eine Glatze geschnitten!".

Noch zäher waren meine Verhandlungen mit Roberto, dem Koloristen aus Chile, der mich blond färben wollte. Aber Bernd und Nina haben mir blond verboten, und außerdem will ich nicht alle zwei Wochen Haaransätze nachfärben müssen. In unseren Streit mußte sich schließlich der Chefkolorist einschalten, der sich zum Glück auf meine Seite schlug und befand, daß es eine rote auswaschbare Biofarbe auch täte. Trotzdem versuchte mich Roberto damit zu schockieren, daß er zum Abschied "I see you on Wednesday for blond highlights" rief. Daß er dann meine Stirn gleich ein bißchen mitfärbte, entschuldigte er damit, ich hätte ihn so gehetzt.

Nach der Friseursoirée lud ich Frank noch zu einem Drink ein, denn ich bin mehr als zufrieden mit den Ergebnis. Dann holte ich meine Taschen bei Yvonne ab, und fuhr nach Williamsburg, wo ich eine Stunde später auch Lucas in Empfang nehmen konnte, der gerade vom Kellnern zurückkam. Wir tranken einen Begrüßungsmuckefuck zusammen, er zeigte mir alle Fotos von seinen Freunden aus Buenos Aires und lud mich nach Argentinien ein. Ich fand es weniger beruhigend, daß er uns als zwei Marineros ohne Capitan bezeichnete - anscheinend weiß er ohne Luli noch nicht einmal, wo er in Williamsburg waschen gehen muß. Aber nachdem ich Vladimir und die Maus abgewickelt habe, zähle ich den Umgang mit gutaussehenden, aber hilflosen südländischen Mitbewohnern zu meinen angenehmeren Aufgaben.

Lucas ist sehr herzlich und rücksichtsvoll, und außerdem hat er einen gesegneten Schlaf. Das ist sehr wichtig, denn er lebt nachts während ich tagsüber lebe. Wenn wir uns nicht zufällig nachts um zwei zum Muckefuck trinken treffen, dann sehe ich ihn nur morgens, wenn er auf dem Sofa knackt, während ich mein Müsli esse. Trotzdem ist die Wohnung in Williamsburg ein Fortschritt gegenüber Hell's Kitchen, denn wir haben ein separates Bad und eine Tür zwischen seinem und meinem Zimmer. Das Bad ist gleichzeitig unsere Telefonzelle. Wenn Lucas von der Arbeit nachhause kommt und ich schon schlafe, nimmt er seine Schokolade und seine Zigaretten und setzt sich eine Stunde lang auf den Toilettendeckel, um mit seinem Bruder in Buenos Aires zu telefonieren.

Damit ich mich auch zuhause fühlen kann, will er mir ein bißchen Platz auf der Kühlschranktür machen, wo alle "fotos de carino" hängen. Dies bringt mich ein bißchen in Zugzwang, denn die Argentinier haben augenscheinlich ein vollkommen anderes Verhältnis zu ihrem Körper. Luli posiert auf jedem Foto mit einer anderen Haarfarbe, im Bustier mit ihren Freundinnen oder tauscht wildgeschminkt, mit hochtopierten Haaren getürkte Zungenküsse mit einer anderen glutäugigen Schönheit. Auf dem Toaster klebt ein Oben-Ohne-Foto ihrer Schwester - neckischerweise sind die Brustwarzen mit bunten Sternen abgeklebt. Carina hat mir Fotos von den Hamburgern mitgegeben aber dummerweise seid Ihr darauf alle angezogen, und ich habe Angst, daß die Argentinier dann glauben, ich hätte Euch nicht lieb. Könnt Ihr mir nicht alle noch einmal ein Nacktfoto schicken?

Aber Foto hin oder her, ich habe gerade mörderisches Heimweh! Ich will morgen gar nicht zur chinesischen Neujahrsparade, ich will zu Carina zum Frühstücken gehen, und mich nicht von meinem Stuhl erheben, bis Bernd abends um zehn zum Koreaner geht, um einen Imbiß zu holen, und danach eine von seinen guten Weinflaschen aufmacht. Ich will mit Nina am Sonntag im Alten Land Fahrrad fahren, und ich möchte emails von Ina bekommen, in denen steht, daß sie mit uns Kreischziegen mal wieder einen saufen gehen möchte. Ich will, daß Susanne auf dem Kiez eine Flasche Sekt ausgibt und dann die Zeche prellt, und ich möchte neben Stefan in der Abendmensa sitzen, wenn er seinen Kaffee trinkt, ohne auch nur Anstalten zu machen, die Hand zur Tasse zu führen. Ich möchte, daß Uta eine Stunde zu früh mit ihrem halben Hausstand zu meiner Party kommt, und schon mal die Bierflaschen in die Dusche stellt, weil ich es alleine mal wieder nicht hinbekomme, und Maik soll fünf Tage lang unentschuldigt von der Arbeit fehlen, weil die Herzensangelegenheiten, die er in Spanien zu regeln hatte, zu dringlich waren, um nun auch noch den Chef über den Grund seiner Abwesenheit zu unterrichten. Birgit soll mit ihrem Peugeot-Lieferwagen und eigenem Bettzeug in Eimsbüttel für eine Nacht aufkreuzen, bevor sie zu Oma nach Husum fährt, und ich will rote Soße bei Peter essen und mit Mark nach der Arbeit einen schnappen gehen. Meine Eltern sollen mich auf eine Finkenwerder Kutterscholle mit Speck nach Teufelsbrück einladen, nachdem wir uns so lange gestritten haben, ob wir lieber in der Lüneburger Heide oder an der Alster spazieren gehen wollen, bis es Zeit ist, wieder nach Springe zu fahren. Nicola soll mir im Solo haarsträubende Geschichten von ihrer Kollegin Schlatter erzählen und sonnabends will ich mit Kiki und Oliver in der Schanze frühstücken gehen, aber die Torfköpfe sind ja nach Frankfurt gezogen... Danach will ich mit Nick im Karoviertel Kuchen mit Astra essen.

In meinem Schmerz ging ich gestern noch in meiner neuen Puschenkneipe auf ein Bierchen, und da New York bekanntlich klein ist, traf ich dort per Zufall Yvonne und deren Freundin Sabine, eine Grafikdesignerin aus Winterhude, die auf unbestimmte Zeit in New York arbeitet. Sie hat die letzten beiden Tage nur geheult, weil sie so ein Heimweh hat. Erst fühlte ich mich verstanden, aber dann fragte ich mich, wie man als Osthamburgerin Heimweh bekommen kann. Nina?

Wahrscheinlich weil man es nicht besser kennt ...