Montag, 17. September 2007

Die Kunst und ihr Publikum - Documenta 12

Ich bin etwa zwei Autostunden von Kassel entfernt aufgewachsen. Von der Documenta habe ich das erste Mal in meinem Leben mit 19 in San Francisco gehört von einem Amerikaner, der mir von seinem Traum vorschwärmte, einmal im Leben nach Kassel zu fahren und sich das anzusehen. Von demselben Amerikaner habe ich übrigens auch zum ersten Mal von den Einstürzenden Neubauten gehört. Der Amerikaner, der auf moderne Kunst und Einstürzende Neubauten stand, war einer der ersten, die ich kennenlernte. Auch wenn die Bekanntschaft viele Schamgefühle mit sich brachte, so hat sie mich in den lichten Momenten meines Lebens doch immer davor bewahrt, in den beliebten europäischen Chor über die Unwissenheit und Ichbezogenheit unserer Brüder und Schwestern jenseits des Atlantiks einzustimmen.

Die Schamgefühle kommen daher, dass ich mir alle fünf Jahre eingestehen muss, es wieder nicht nach Kassel geschafft habe. Dieses Jahr ist es mir endlich gelungen, diesen Bann eine Woche vor Toresschluss zu durchbrechen.

Weil meine Eltern immer noch zwei Autostunden von Kassel entfernt wohnen, schlugen wir ihnen vor, sich uns anzuschließen. Aber ich bin natürlich nicht ohne Grund in der Nähe von Kassel aufgewachsen, ohne jemals von der Documenta zu hören.

Also Tante Ursula hätte mehrere Bekannte, die dort waren, druckste mein Vater nach einer Woche Überlegen am Telefon, und die seien alle der Meinung, dass sich das nicht lohne. Ob er sich denn nicht lieber selbst eine Meinung bilden wolle, fragte ich ihn ermunternd. Na ja, aber Onkel Boskop hätte bei der Beerdigung von Oma Frieda gesagt, er habe sich das vor dreißig Jahren einmal angeguckt, und er habe immer noch die Nase voll davon. Onkel Boskop ist Bauunternehmer und hatte sich vor allem über ein zehn Meter tiefes Loch in Kassels Innenstadt geärgert, das ein Kunstwerk darstellen sollte. Er ist der Meinung, das war Geldverschwendung und zehn Zentimeter hätten es auch getan. Michael Glützer, der Lehrer habe gesagt, gab mein Vater zu Bedenken, er würde dort auf gar keinen Fall hinfahren, da hänge überall nur moderne Kunst herum. Das seien sehr viele Gegenstimmen, führte er mir vor Augen, und nicht ein Befürworter

Am Ende erwies sich der Wunsch, das einzige Kind zu sehen, jedoch als stärker, als die Macht der Gegenstimmen aus dem Calenberger Land. Meine Eltern stießen zu uns, wenn auch mit viel Skepsis.

Die Angst vor moderner Kunst erwies sich zunächst insofern als unbegründet, als die Veranstalter in Schloß Wilhelmshöhe nur ganz vereinzelt moderne Kunstwerke in eine riesige Sammlung erlesener holländischer und deutscher Altmeister eingestreut hatten, vielleicht damit sich solche Besucher wie meine Eltern erst einmal ganz langsam eingrooven können. Allerdings waren die modernen Kunstwerke derart vereinzelt, dass ich große Mühe hatte, sie zu finden. Außerdem verlor man ärgerlich viel Zeit mit den Altmeistern, denn auch wenn man nicht ihretwegen gekommen war und statt dessen ein straffes Programm moderner Kunst vor sich hatte, das keine Trödeleien zuließ, traut man sich doch nicht so recht, an Rubens oder Cranach einfach so vorbeizugehen. Ich fühlte mich ein wenig veralbert.

Der Schatz meinte, das sei alles ein mieser Marketingtrick, damit Kassel seine Altmeister, die sich sonst nie jemand ansieht, endlich einmal unter die Leute bringen kann. Wenn an einigen Stellen die Komposition von alten und neuen Meistern auch sehr gelungen war, so gebe ich ihm doch insgeheim recht. Andererseits bleibt den Städten vielleicht in unseren reizüberfluteten Zeiten gar nichts anderes mehr übrig, als sich den Waffen der Festivalisierung unserer Gesellschaft zu bedienen, wie es in den Seminararbeiten einer Freundin immer so treffend hieß. Ich erinnere nur an die Melancholie-Ausstellung in Berlin, deren zentrales Kunstwerk ein Dürer war. Der ist dauerhaft und für jedermann zugänglich im Kupferstichkabinett zu sehen, ohne dass sich jemals irgendjemand dafür interessiert hätte. Bei der Ausstellung jedoch fühlten sich die Leute an das MoMa erinnert, standen mehrere Stunden lang an, rempelten, checkten sich weg, hoben sich gegenseitig hoch und brachten sich fast um, um den Dürer zu sehen.

Nach der fast schon leichten Kost auf der Wilhelmshöhe, ging es in Kassels Innenstadt in die Vollen. Vor dem Fridericianum war eine meterlange Schlange. Der Schatz schlenderte ein wenig umher, um sich die Zeit zu vertreiben, und kam mit einem triumphierenden Lachen wieder zurück. Das hier sei auch schon Kunst, sagte er sichtlich mit sich selbst zufrieden. "Das hier, was hier?", fragte ich verwirrt. "Na, was siehst Du denn vor Dir?", fragte er, immer noch mit einem überlegenen Lachen. "Das Museum?", versuchte ich vorsichtig. "Nein". "Der Pavillon?", fragte ich weiter, auf den Rundbau deutend, den ich für einen Zeitungsstand gehalten hatte. Der Schatz drehte sich um. Ja, das sei wohl auch Kunst, aber er meinte etwas anderes. "Das Gestrüpp", tippte ich hoffnungslos. Richtig, das war es! Um uns herum erstreckte sich auf dem gesamten Platz eine Installation von 90% Klatschmohn mit 10% Schlafmohn. Zweimal am Tag erklingen dazu revulotionäre Gesänge afghanischer Frauen, wie ich hinterher dem Begleitbuch entnahm. Wir lernten auch sehr schnell, warum von dem Mohn im wesentlichen nur noch Gestrüpp übrig war. Die Frauen vor uns in der Schlange trugen beide eine rote Mohnblüte in den Haaren. Als wir endlich im Museum ankamen, fingen sich die beiden eine dicke Rüge von der Kartenkontrolleurin ein, wegen ihres mangelnden Respekts vor moderner Kunst und der Natur zugleich.

Im Eingangssaal wartete bereits die nächste Tücke. Auf einem Steinvorsprung saß ein erschöpftes Mädchen. Weil hinter ihr eine Kupfertafel ein Kunstwerk zu beschreiben schien, fragte ich den Schatz, ob vielleicht die Frau zu der Installation gehöre. Beim Verlassen des Saals erhaschte ich noch einen kurzen Blick darauf, wie sie wie von der Tarantel gestochen hochsprang, ihre Hose abklopfte und den Steinvorsprung hinter sich daraufhin inspizierte, ob sie sich etwa auf einem Kunstwerk ausgeruht hatte.

Drinnen erwartete uns ein wahres Fest: Fotos von Szenen des Islam in Europa und Israel, die weiß übermalt waren, so dass man sie nur noch erahnen kann, eine Video über eine japanische Bondage-Künstlerin, deren Kunst darin besteht, sich selbst in komplizierten Formationen aufzuhängen, Frauen, die um Kordeln und Stoffe herumtanzen, ein Gewand aus wild blinkenden Glühbirnen von einem Japaner aus den fünfziger Jahren, ein Video des Fußballweltmeisterschaftsendspiels mit Computersimulationen und eine Installation aus einer roten Kordel mit dem klangvollen Namen "Und erzähl ihm von meinem Schmerz".

Ich stellte fest, dass den Kindern das ganze Ramba-Zamba aus Bildern, Filmen und Klängen mit Keramikplastiken, die wie Eierschalen aussehen und schwarzen Gitarren mit Verstärkern, die von selbst anfangen zu spielen, viel besser gefällt als eine Gemäldeausstellung. Ich nahm mir vor mir das zu merken, falls ich einmal selbst in die glückliche Situation kommen sollte, Kinder zum Museumsbesuch zwingen zu dürfen. Wie oft ich meine Eltern noch in solche Ausstellungen zwingen kann, weiß ich nicht. Sie verabschiedeten sich erschöpft nach dem zweiten Museum und sagten, es sei sehr interessant, einmal gesehen zu haben, was man bei einer modernen Kunstausstellung so zu sehen bekommt. Am meisten habe sie die pornographische Kunst beeindruckt, zum Beispiel das Video von einem Känguruh, das einen Mann am nackten Gesäß leckt.

Der Schatz und ich arbeiteten noch zwei weitere Pavillone ab und ich bedauerte sehr, dass ich morgens auf Schick anstatt auf Bequemlichkeit gesetzt hatte. Auch wenn ich mich natürlich immer noch über die Frau in der Schlange beim Bäcker freute, die mich beinahe auf Knien angefleht hatte, ihr den Namen des Schuhgeschäfts anzuvertrauen, in dem ich meine Stiefel gekauft hatte.

Abends im Zug waren wir kaum noch in der Lage zu reden. Trotzdem konnte ich aus meiner Haut nicht heraus und verhielt mich wie meine Mutter früher nach einem Einkaufsbummel. Wenn sie alles beisammen hatte, ging sie immer noch zu den Geschäften, die sie ausgelassen hatte, um zu sehen, ob sie sich ärgern mußte. Ich las das Begleitbuch der Documenta, stellte fest, dass ich die Hälfte der Kunstwerke gar nicht wahrgenommen hatte, fragte mich, was ich den ganzen Tag in Kassel gemacht hatte und ärgerte mich, bis mir der Schatz das Buch aus der Hand nahm, sich über mein unglückliches Naturell beschwerte, und mir empfahl stattdessen lieber zu schlafen.

Das tat ich dann auch, an seiner Schulter. Was für ein Tag!

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