Dienstag, 8. April 2008

Xmas @ NYC

Email aus New York Weihnachten 2000

Ira knackt noch in meiner Wohnung, in der sich seit ihrer Ankunft ein Schauspiel der Verwüstung bietet: Der Küchentisch ist zu einer kombinierten Schminkkommode mit Obstkorb geworden, überall in der Wohnung liegen Unterwäsche, neu erstandene Fellminiröcke und abgeknabberte Weintrauben auf dem Fußboden, und als ich anmerkte, wir könnten ja mal den Kaffee auf dem Küchentisch unter ihrer Brille wegwischen, meinte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung, das würde ihr gaaar nichts ausmachen... Den abgerissenen Duschvorhang hat sie allerdings in einer spektakulären Heimwerkeraktion wieder montiert, und nachts auf der Piste ist sie nunmal eine Bombe, also hat sie bei mir Narrenfreiheit. Den Curzio, der jetzt im Tessin unterm Weihnachtsbaum sitzt, hätte ich bei so viel Fehlverhalten schon 'rausgeschmissen.

Ich fürchte, es ist ein offenes Geheimnis, daß ich mächtig stolz auf all meine Reisen bin und darauf, daß ich mich so fühle, als wüßte ich überall Bescheid und käme immer klar. Aber manchmal, wenn ich mit meiner armen, alten, gramgebeugten Mutter spreche, bekomme ich den Eindruck, daß all diese Reiserei vollkommen überflüssig ist. Offenbar muß man sich nur in Springe lange genug aufs Sofa hauen, mit ordentlicher Belletristik, dem Spiegel und zwei Frauenmagazinen, eins im Hochglanz und das andere mit Kochrezepten, dann weiß man auch über alles Bescheid. Fragt sie mich doch neulich, wie das jetzt sei mit der Vorweihnachtszeit in New York, die Amerikaner würden sich dann doch allesamt eine rote Pappnase aufsetzen und ununterbrochen "Rudy, the red-nosed raindeer" singen. Verstehen wir ins richtig: So ein Kommentar in der Öffentlichkeit, und ich hätte die Augen so weit wie nur irgend möglich verdreht, "Mammmmmaaaaaa!" gerufen und alle mir zur Verfügung stehende Mimik und Gestik eingesetzt, um deutlich zu machen, wie sehr ich mich für so viel Ignoranz und Einseitigkeit schämen muß. Aber unter uns Pastorentöchtern kann ich es ruhig zugeben: Die Frau hat recht!

Einer der größten Schocker für Curzio und mich, war der Weihnachtschor am Southstreet Seaport, wo wir ganz arglos ein Bierchen schnasseln wollten, weil man so einen schönen Blick auf Brooklyn hat. Vor einem etwa drei Meter hohen Tannenbaum hatten sie dort auf einer Leiter baumförmig die paar Senioren aufgebaut, die es irgendwie geschafft haben, in New York zu überleben. Alle trugen rote Mützen und rote Pappnasen und sangen in einem fort "Rudy the red-nosed raindeer". Curzio und ich haben uns solche Sorgen um den Herrn gemacht, der sich auf der Spitze der Leiter durch den Chorgesang wackelte, daß wir weder das Bier noch den atemberaubenden Blick auf Brooklyn genießen konnten. Ich mußte ziemlich bald diesen Ort des Grauens verlassen, weil ich den Anblick nicht mehr ertragen konnte. Ich weiß aber auch so, was das Schicksal dieser älteren Mitbürger war: Die paar, die nicht im Verlauf des Gesangsnachmittages von der Leiter fielen, sind darauf festgefroren. Mein einziger schwacher Trost ist die Gewißheit, daß sie immerhin dabei eine warme Nase hatten.

Natürlich ist die ganze Stadt mit wild blinkenden Weihnachtslichtern dekoriert. Seit Anfang Dezember habe ich nicht mehr geschafft, mich bis in die Bibliothek des economics departments vorzukämpfen, weil einer von den Studenten den dritten Stock mit dermaßen vielen Blinklichtern übersät hat, daß mir erst schwindelig und dann sofort schlecht wird, sobald ich den Gang betrete. Jeder Weihnachtsbaum in der Stadt ist so sehr mit schweren Kitschengeln und riesigen Schleifen überladen, daß man immer gebannt davor steht und jeden Moment auf den Zusammenbruch wartet. Am Rockefeller Center haben die verantwortlichen Bürger dieses Landes der Superlative jedoch dem Wahnsinn die Krone aufgesetzt. Mit sehr viel Phantasie kann man sich vorstellen, daß es sich dort bei dem Weihnachtsbaum um eine große schlanke, wunderschöne Tanne handelt. Aber die Amerikaner mußten mal wieder eine Rekord brechen. Curzio kann Euch die genaue Anzahl der Lämpchen nennen, die an dem Baum montiert sind. Ich kann Euch nur so viel sagen, daß es auf jeden Fall viele sind, daß man von dem Baum nichts, aber auch gar nichts mehr sehen kann. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich nach den paar weißen Kerzen und den roten Weihnachtskugeln sehne, die traditionsgemäß unser Bäumchen in Springe schmücken...

Bevor ich mir hier den Motzki-Preis für den undankbarsten Besuch aus Germany einfange, muß ich die Amerikaner an dieser Stelle jedoch über den grünen Klee loben. Mein allerschönstes Vorweihnachtserlebnis ever hatte ich nämlich hier in der Avery Fisher Hall beim Messiahs Sing-In. Das ist eine mehr als dreißig Jahre alte Tradition aus der Zeit, als meine Eltern noch Sit-Ins und Love-Ins veranstalten, anstatt Jura zu studieren (kleiner Scherz!). Jedes Jahr wird unter der Leitung eines bekannten New Yorker Chordirektor am Lincoln-Center der "Messiahs" von Händel gesungen, die Rezitative von Profis und der Chor - vom Publikum. Den Tip hatte ich natürlich von meiner Geigenbauerfreundin Jeanette.

Jede Choreinlage wird von einem anderen Dirigenten geleitet. Eine Menge Highschool-Musiklehrer waren dabei, der Leiter eines Kirchenchors aus Harlem und das "Hallelujah" hat der Chordirektor der Metropolitan Opera dirigiert. War mir natürlich ein inneres Gartenfest, als er, bevor er die Arbeit überhaupt aufnahm, mit den Amis erst einmal geübt hat "Ha-le-lu-jah" zu sagen, anstatt "Haee- liiieee- louuu- jaehhh".

Wie auch immer, es herrschte eine Bombenstimmung. Alle außer mir waren passionierte Chorsänger, die sich bestens mit dem "Messiahs" auskennen und anstandslos jeden Einsatz erwischen. Den Chorleitern wurde so begeistert zugejubelt, daß jeder Rockstar vor Neid erblaßt wäre, und das wohlverdient: Keiner von ihnen sparte bei der Einführung "ihres" Stückes mit Witz oder Scharfsinn, um ein wahres Fest aus dem "Messiahs" zu machen.

Natürlich raffte ich mal wieder nichts und lief als Einzige ohne Noten auf, aber meine Nachbarin war so freundlich, mich in ihre Partitur mit hineingucken zu lassen. Leider war kein standfester Alt in meiner Nähe. Nach der Pause lotsten mich Janine und Matthias deswegen auf einen freien Platz vor ihnen, denn sie hatten zwar auch nur eine Partitur, dafür aber einen Alt im Rücken, wie er standhafter nicht hätte sein können. So ergab es sich, daß selbst ich im zweiten Teil ordentlich mitschmettern konnte, und - ach - war das erhebend! Nur in den langen Koloraturen ging ich manchmal verloren, weswegen ich mir öfter mal einen unsanften Knuff von hinten einfing, weil ich das Umblättern vergessen hatte. Als die Veranstaltung vorbei war, stimmte der Chor beim Verlassen der Konzerthalle spontan ein Weihnachtslied an, und noch auf der Straße sangen die Leute weiter. Kinder war ich gerührt!

Gestern war ich bei Nd's zur Christmas-Dinner-Party, wo ich feststellte, daß 1.) afghanisches Essen unschlagbar ist 2.) seine Frau ihre Arztpraxis mit einer Philippin teilt (das weiß ich, weil sie den gleichen Akzent hat wie Lydia Schmidt auf Deutsch) 3.) seine zwei Söhne viel jünger und schöner sind als ich, beide schwarzgelockt, einer ein lustiger, offener Hip-Hopper, der mit seiner Tigerzahnkette in Berkeley Politik studiert und nichts von Ökonomie wissen will, und der andere so ruhig und zurückhaltend, daß ich nicht mehr als das über ihn weiß.

Als ich am Central Park West aus der U-Bahn stolperte, wurde ich von drei Doorman und einem Liftangestellten in Empfang genommen (er war um die sechzig, deswegen scheue ich mich "-boy" zu sagen). Aus der Größe der Wohnung und der Terasse mit Blick auf Manhattan schließe ich, daß entweder Professor oder Ärztin ein sehr lukrativer Job in diesem Land sein muß. Die Dinnerparty war ein bißchen so wie in Mexiko, wo alle ihre erwachsenen oder noch nicht ganz erwachsenen Kinder dabei haben. Das finde ich eigentlich ziemlich gut. Ein bißchen nervös wurde ich nur bei der Erinnerung, daß die mexikanischen Teenager damals beim Nationalfeiertag nach dem Essen ihre Musi anschmissen, und vor den Augen ihrer plaudernden Eltern das Wohnzimmer in eine Disco verwandelten. Auch das finde ich cool, aber ich hätte nicht so recht gewußt was ich machen sollte, hätte sich Nd so verhalten wie damals Tedi Rodriguez, der mich nach dem zehnten Tequila aufforderte, mit ihm "tecnico" zu tanzen. Gott sei Dank handelte es sich um ordentliche amerikanische Teenager, die irgendwann abzogen, um sich ein Video zu holen, und gar nicht daran dachten, mich in eine derart peinlich Situation zu bringen.
Nach der Party taten Ines und ich bei Rudy' s ein flotten, jungen indischen Statistikprofessor auf, der mir als erstes ein Gedicht von Heine ins Ohr hauchte, und dann Hermann Hesse über den grünen Klee lobte. Er spricht auch ganz gut deutsch. Warum muß man eigentlich immer erst nach Amerika oder nach Indien fahren, um so etwas Schönes zu erleben?

Zu späterer Stunde teilte uns der Professor mit, daß die Welt in drei Kasten unterteilt (er hat "Klassen" gesagt, aber man weiß ja, was das bei den Indern bedeutet). Die Mathematiker sind die Brahmanen, dann kommen jene, die Mathematik verstehen oder zumindest ein Gespür dafür haben, wieviel Schönheit darin legt, und ganz unten stehen all jene, die gaaaar nichts von Mathematik verstehen oder gar glauben, das sei langweilig. Wenn wir demnächst mal in Ehren als Büronachbarn lunchen gehen, habe ich mir vorgenommen, mich lebhaft für die Schönheit der Mathematik zu interessieren. Als Allerletztes will ich erreichen, daß mein einziger Erfolg, den ich aus Amerika nach Hause trage, darin besteht, daß ich in dem Kastensystem der indischen Moderne zu den Unberührbaren zähle.

Jetzt habe ich mich aber dumm und dusselig getippt, und das obwohl ich noch bis Heiligabend ein Paper fertigschreiben muß. Ein bißchen Sorgen mache ich mir ja doch um Zuhause, aber wie ich meine Eltern kenne, haben die keine Schwierigkeiten, die Weihnachtsgans zu zweit zu verputzen. Außerdem fällt Heiligabend ungünstigerweise auf einen Sonntag, das heißt der ganze Spaß des Last-Minute-Geschenke-Einkaufs wäre ohnehin hinfällig: Weder würde Ursula Hasper in der Buchhandlung am Nordwall schon mit passenden Geschenken wedeln, wenn ich kurz vor Ladenschluß bei ihr angehetzt komme, und aufgeregt rufen: "Nici, ich glaube, das ist etwas für Deine Mutter!", noch könnte ich Bernd Albert in der Parfüme treffen, und ich müßte auch beim Uhrmacher Gehring nicht zum zweihundertsten Mal die Frage nach meinem Jurastudium und wann ich Mama's Praxis übernehme zähneknirschend mit "Ich mache VWL" beantworten. Ein bißchen erfüllt es mich mit Genugtuung, daß Tante Liesel dieses Jahr keine Chance hat, sich hinterlistig bei mir einzuhaken, um dann zwei Stunden lang mit mir den Marktplatz auf- und abzulaufen und mir den gesamten münderschen Klatsch der letzten sechzig Jahre zu erzählen. Aber ein bißchen werde ich selbst das vermissen...

Na wie auch immer, ich schreibe jetzt meine Aufsatz, morgen bekochen Ira und ich alle Strohwitwer der Stadt, und ich habe keine Zweifel, daß wir eine Menge Spaß haben werden. Und Ursula Hasper kann sich schonmal bereithalten: Nächstes Jahr komme ich wieder!