Mittwoch, 6. August 2008

Dunkle Kiefernwälder - die Zivilgesellschaft von S.

In das Städtchen S. hatte uns einer dieser harmlosen Sonntagsausflüge geführt, die man morgens in der Berliner S-Bahn damit beginnt, seine mitgeführte Tagesration an Stullen kurz nach dem Einsteigen restlos zu verzehren. Es war der Endpunkt einer romantischen Fahrt durch blitzblank renovierte, wenn auch nahezu unbewohnte Dörfer durch dunkle Kiefernwälder und über weite, mit Klatschmohn gesäumte Felder. Nur selten hatte der märkische Sand dabei das Fortkommen erschwert, besitzen doch die Fahrradwege in dieser Gegend in der Regel der EU-Regionalförderung sei's gedankt Bundestraßenqualität.

Als wir eben vor der geplanten Besichtigung des als malerisch geltenden Städtchens unser wohlverdientes Mineralwasser austrinken wollten, entwickelten sich am anderen Ende des Marktplatzes Tumulte. Ein vermutlich mit verschiedenen Drogen aufgeputschter Mann mit äußerst kurzen blonden Haaren brüllte einen Dunkelhaarigen an und schlug dabei abwechselnd ihn und sein Auto. Einer Frau mittleren Alters, die zu schlichten versuchte, schenkte er keinerlei Beachtung. Oder doch, denn wie sie später berichtete, blieb auch sie von seinen Schlägen nicht verschont. Aus schwer nachvollziehbaren Gründen versuchte der Dunkelhaarige sich mit seiner mangelnden Zahlungsfähigkeit zu verteidigen und wies dabei auf seine Arbeitslosigkeit hin.

Die Bürger von S. schalteten schnell ihre Fernseher aus und versammelten sich am Straßenrand und an ihren offenen Fenstern, um zu staunen, wenn sie sich nicht im angrenzenden Biergarten in der priviligierten Situation befanden, gleichzeitig das Geschehen und die Europameisterschaftspartie Italien gegen Spanien verfolgen zu können. Unsere Versuche, in Erfahrung zu bringen, ob jemand die Polizei gerufen hatte, führten nicht weit. Die meisten reagierten auf Nachfragen gar nicht. Ein älterer Herr forderte mich auf, zwei Männer, die sich vermöbelten doch in Ruhe zu lassen, solange sie keiner Frau etwas täten. Ich fragte mich, ob die Brandenburger sich mit der Annahme einer südländisch-patriarchalischen Geisteshaltung auf die Olivenhaine und die sonnige Ostseeküste vorbereiten wollten, die der Klimawandel womöglich bald in diese Gefilde bringen wird, und betrachtete dabei sorgenvoll das Blut, das inzwischen beiden Kämpfern aus dem Mund floß.

Während ich mich noch in solchen Überlegungen erging, hatte der Schatz schon längst die Polizei von S. angerufen und marschierte entschlossen auf die Gaffer im besten Mannesalter zu, um sie wie aus einer polizeilichen Anleitung zur Gewaltdeeskalation gezielt anzusprechen und zur Hilfe aufzufordern. Nun pfeiffen die Bürger von S. aber auf solche Anleitungen. Sie ziehen das passive Staunen vor. Lediglich der wuchtige Wachmann vor der Sparkasse ließ sich schließlich beim dritten Anlauf davon überzeugen, behilflich zu sein. Es gelang ihm sogar, den Angreifer mit einer imposanten Gorilla-Pose vorübergehend dazu zu bringen, von seinem Opfer abzulassen. Aber schon bald brüllte er wieder wie ein Tier, schlug und trat auf den Dunkelhaarigen ein und bezichtigte die angesichts der Aussichtslosigkeit ihrer eigenen Deeskalationsversuche inzwischen verzagte Frau, die sich als seine Schwiegermutter in spe entpuppte, des Verrats der Familienehre. Ich verwarf die Olivenhaine. Statt dessen tauchten rauhe, kurdische Bergdörfer und finstere Dorfälteste mit zerfurchten Gesichtern vor meinem geistigen Auge auf, während ich immer verzweifelter von einem durchtrainierten Gaffer zum nächsten lief, um sie zunehmend schrill und doch unverändert ergebnislos darum zu bitten, dem langen schlaksigen Brillenträger ohne Muskeltraining und Kampferfahrung dabei zu helfen, ihren Nachbarn ruhigzustellen. Es half auch nichts, dass ich an den Zaunstäben des Biergartens rüttelte - wer gibt schon einen Platz auf, auf dem er auch ohne Fouls gleichzeitig Fußball und Gewalt sehen kann.

Schließlich stürzte ich mich in Panik um meinen Schatz in das Kampfgetümmel - der Kampfhund des Angreifers hatte sich inzwischen eindeutig als altersschwach und zahnlos erwiesen. Das veranlaßte den Angreifer, sich vorübergehend zu beruhigen, meine Hand zu ergreifen und mir seine Gewaltlosigkeit gegenüber Frauen zu beteuern. Ich entschied mich endgültig für Kurdistan. Während ich innnerlich nach taktvollen Wegen suchten, der Schwiegermutter auf der Suche nach einem friedlicheren und moderneren Schwiegersohn Online-Partnersucheforen für ihre Tochter nahezulegen, geriet ich äußerlich in wachsende Panik. Der Schatz hatte offenbar keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als den inzwischen wieder tobenden Angreifer zu Fall zu bringen. Immerhin verfehlten meine gellenden Schreie, man möge doch die Sehhilfe meines Freundes und die damit verbundenen Gefahren in dem Handgemenge nicht völlig vernachlässigen, ihre Wirkung nicht ganz. Als der Angreifer mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, machte er nicht etwa von dem Messer Gebrauch, das ihm aus der Tasche gefallen war, sondern forderte den Schatz auf, es gut sein zu lassen, denn seine Freundin habe Angst. Der blieb trotzdem auf dem Mann knien, bis endlich die Polizei kam. Noch heute schwillt meine Brust vor Stolz, wenn ich an diesen Heldenmut denke!

Die Ankunft der Polizei nutzte ich, um die Bürger von S. wüst zu beschimpfen, sie aufzufordern, sich zu schämen, und die Frage aufzuwerfen, ob sie auch gaffen, wenn eine Frau auf ihrem Marktplatz vergewaltigt wird. Wahrscheinlich stellen sie sich eher hinten an. Der Schatz konnte mich gerade noch davon abhalten, das Geschehene zum Anlaß zu nehmen, lautstark über die politische Haltung der ostdeutschen Landbevölkerung nachzusinnen. Das wäre auch nicht fair gewesen, denn immerhin waren die Schwiegermutter und der Wachmann mutig gewesen, letzterer womöglich allerdings eher von Berufs wegen. Das ist eine dünne Ausbeute, aber es ist nicht nichts.

Am Bahnhof von S. mussten wir schließlich feststellen, dass die helle Haut und die lokale Abstammung der örtlichen Jugend offenbar nicht dabei hilft, besser deutsch zu sprechen als einige Neuköllner, um deren Fähigkeiten und Chancen ich mich gelegentlich in der Berliner U-Bahn sorge. Wir fuhren sehr betrübt nachhause und fragten uns, wie man mit solchen Menschen eine würdige Zivilgesellschaft aufbauen soll. Wahrscheinlich von Grund auf umerziehen, aber wie fängt man das an?

Inzwischen hat Hans zu Bedenken gegeben, dass weder die Zeiten noch die Menschen schlimmer geworden sind. Im Gegenteil, die Bewohner seines westdeutschen Dorfes brauchten in den Siebzigern nicht einmal Alkohol, um brutale Gewalttaten zu begehen. Auch ich muss mich, wenn ich ehrlich bin, an wüste Schlägereien zwischen Nazis und ihren Gegnern auf den Jugend- und Schützenfesten meines westdeutschen Heimatortes erinnern. Doch das mag zwar die Situation in Ostdeutschland und die heutige Zeit in Perspektive zu setzen, ein rechter Trost ist es nicht. Ich versuche mich lieber damit zu trösten, das die Berliner geholfen hätten - jeder einzelne, ganz bestimmt.

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