Montag, 22. Dezember 2008

City of all cities

When I set my foot again into the city, she greeted me like she always had before: embracing me, grabbing me to take me out for a dance, pretending she could be mine for a moment or for a lifetime, whatever I chose it to be.

All the while I knew that she might spit me out at any moment. She would do the same to anybody no matter whether they had come for a moment in a pretentious quest for luck and glory, with the firm intention to stay and to find a better live through hard work and thrift and or whether they had called her home for generations. She would accept anyone, people of all colours, tongues and aspirations. Their desire to find their luck in her, through her, is all for what she asks. Her tolerance is matched only by her callousness towards all those who fail to keep up with her dizzying tempo and who, instead of luck and glory, can find only loneliness or a path strewn with unsurmountable hurdles. At times, she had given me energy with an intensity that I had never known before. At others she seemed to strip me of my last heartbeat.

As I was riding from her unadorned suburbs to her sprawling center she slowly lured me into her world. She gave me brief glimpses of the wealth of colours, origins and stories of her people, arranged almost like in a kaleidoscope, as she sent them on and off the train. On the other side of the aisle a Mexican father was sitting with a child on his knees and the same expression of stoicism I had seen many years before on the faces of bus passengers in his native land. Maybe his long voyage had failed to improve much on the hardship and humiliations of his life. Or maybe he simply could not be bothered to rid himself of an attitude that had carried him through them before.

A little later three girls, barely fourteen, in all shades of black and brown hopped on to the train to pose and perform dance steps to the music from their headphones. One of them was tall and beefy, dressed a bit like a punk queen with an impressive afro-hairstyle to round off her look. She was giving the impression that she might throw herself to the floor and start breakdancing at any minute. The second, with an air of maturity and a round and sensual figure, chewed her gum without saying a word, while she was being hugged in permanence by her anemic boyfriend from behind. The third was the beauty queen of the band, small, with silk-like long hair and full of self-confidence, dressed in a sexy attire and acting as if she expected to be discovered any minute as a popstar on the train to the city centre. As I observed them I wondered whether children their age would ever come back to wearing hairstyles with outlines that look as though they had been cut around a pot sitting on their head. Would striped pullovers come back one day along with corduroy trousers that are too short and do not match the colours?

As I was still contemplating my own childhood, next on stage was a man dressed in rags dragging a little waggon behind him that was filled with a pile of random basic commodities he eagerly tried to sell to the audience: trashy romance novels from the 1960s, plastic tea pots and other household appliances, toys for the sandbox and condoms. All the while he was playing music from a half-broken tape deck, shaking his greasy hair as best he could under his woollen hat and looking at us through his sunglasses. I marveled at the impassive subway passengers around me who barely seemed to notice this bizarre appearance. Suddenly a faint memory of Jenny sprang to my mind as she walked up to a doorman during an earlier visit to the city asking where she could catch a taxi to the Upper East Side . "Come on", the doorman hollered at us, " country girls like to walk!"

This it what makes me so uneasy in this city: it constantly seems to unmask me as a country girl.

By the time we reached our final destination for that day, Hervé's apartment in a quiet residential neighbourhood close to one of the city's universities, I felt as if I had never left town. As I walked through the streets amidst hurrying investment bankers in high heels - this time around probably worrying more about their jobs than about their next deal - Mexican streetsweepers, bartenders from the Midwest, artist-waiters from Argentina, Korean shopkeepers and doctors from Iran, I felt as though I was one of them. Submerged into this mass of people from everywhere I had suddenly become again a citizen of this city of all cities.

I remembered the Afghani doctor who had once told me at a christmas party in her Central Park West apartment with a view of the park and the skyscrapers: "The world meets in this city". Like nowhere else.

Samstag, 13. Dezember 2008

Der Pfandflaschenprofi vom Prenzlauer Berg

Ich laufe seit einer dreiviertel Stunde durch den Kiez von einem Tante-Emma-Laden zum nächsten, um endlich die Pfandflaschen loszuwerden, die die Maschine beim Flirt-Kaisers nicht annehmen will. Ein zäher Prozess. Der vietnamesische Kramladen nebenan gibt sofort zu, dass ich die Bionade-Flaschen bei ihm gekauft habe, bestreitet aber rundheraus jegliche Urheberschaft für das Flens. Genau genommen verhandele ich mit der Tochter des Hauses. Sie ist 14 und sehr bestimmt. Ich ärgere mich. Nach langem hin und her gelingt es mir, ihr noch zwei Hefeweizenflaschen aufzuschwatzen. Als ich ihr die Bio-Apfelsaftflasche unter die Nase halte, lacht sie trocken, ein bißchen verächtlich, wie mir scheint. Bei ihren Eltern gibt es Tütensuppen und Bier, keinen Bio-Apfelsaft.

Der Vietnamese an der Prenzlauer Allee nimmt anstandslos die Flens-Flaschen, eine andere Biersorte lehnt er jedoch ab. Ich habe aber noch eine und weiss der Teufel, wo der Schatz das gekauft hat. Oder irgendein Gast hat es zur Party mitgebracht. Jedenfalls laufe ich jetzt damit rum und werde es nicht los. Ich kaufe Rosinen und Mandeln für den orientalischen Karpfen. Der vietnamesiche Ladenbesitzer fragt mich enttäuscht, ob ich kein neues Bier brauche. Das fehlte noch! Sehe ich aus wie Sysiphos, oder was? Am Ende kaufe ich aus Mitleid einen billigen Rotwein zum Kochen. Erst als ich schon beim nächsten Tante-Emma-Laden angekommen bin, fällt mir ein, dass das Karpfen-in-Weinsauce Rezept das war, wogegen ich mich zugunsten der orientalischen Variante entschieden hatte.

Ich sage dem Schatz immerzu, er soll seine Pfandflascheneinkäufe nicht über den ganzen Berg verteilen, sondern wenigstens auf einen Laden konzentrieren. Glaubt der vielleicht, es macht mir Spaß, stundenlang mit klappernden Taschen durch das Viertel zu ziehen und in jedem Kramladen lange Verhandlungen zu führen? Mir reicht's! Der Schatz verbietet mir zwar strengstens, Pfandflaschen einfach in den Container zu schmeissen, aber bei meinen Stundenlohn lohnt es sich einfach nicht, länger als eine halbe Stunde hinter 30 Cents herzulaufen. Opportunitätskosten und so weiter. Das habe ich damals an der Uni gelernt. Und ja, das gilt auch, wenn ich den Umweltsau-Faktor mit einrechne. Ich habe schließlich am Sonnabend auch mal mein Recht darauf, mich zu amüsieren.

Ich schleiche mich vorsichtig an die Flaschencontainer vorm Flirt-Kaisers und blicke mich diskret nach allen Seiten um, ob auch keiner von den aufrechten Öko-Nachbarn guckt. Es guckt aber einer und zwar sehr penetrant. Allerdings sieht er nicht wie ein Nachbar aus mit seinem verschlissenen Anorak und dem wilden Vollbart. Er schleicht unruhig um die Container herum, fast so als seien sie seine Kinder und er müsse sie bewachen, aber ich bin jetzt so entnervt, dass ich mich entschließe, es notfalls auf eine offene Konfrontation ankommen zu lassen.

Ich ziehe selbstbewußt die Bio-Apfelsaftflasche aus meinem Jutebeutel und setze schwungvoll zum Wurf an. Leider ist die Flasche weiß und ich stehe vor dem grünen Container. Schon steht der Mann mit dem wilden Vollbart neben mir. Es hat nur noch gefehlt, dass er mir in den Arm fällt und laut nach der Polizei ruft.

"Die ist vom Bio-Laden da unten", klärt er mich auf, und weist mit der Hand straßabwärts. Er ist durchaus kooperativ, jedenfalls nicht feindselig.

"Aber das ist doch keine Pfandflasche, steht nirgendwo", wende ich müde zu meiner Verteidigung ein. Auf dem selbstgemalten Etikett steht tatsächlich nichts und einen Moment lang schöpfe ich Hoffnung. Aber der Mann kennt sich aus, im Unterschied zu mir. Im Kiez und mit Pfandflaschen sowieso. Er macht das offensichtlich hauptberuflich. Er fährt mit seinen schwarzen, schwieligen Händen über die Schrift, die aus der Flasche heraustritt dort, wo sie sich verjüngt. Irgendetwas mit "Mehrweg" steht da. Ich fühle mich geschlagen, überführt und schuldig.

"Wollen Sie die Flasche zurückbringen?" biete ich ihm an. Vielleicht kann man aus der peinlichen Situation noch ein Geschäft machen. Er nimmt mir die Flasche ab und betrachtet die nächste, die ich gerade aus dem Beutel gezogen habe.

"Die is von Stücker da oben", sagt er und nickt kundig. Als ich ihm die Flasche hinhalte, winkt er ab. "Dit is mir zu weit, da jeh ich heute nich' mehr hin!"

Er guckt interessiert in den Beutel, in dem sich noch die Kochweinflasche befindet, die ich überflüssigerweise gekauft habe. "Und die ist von...", setzt er an. Er scheint Gefallen daran zu finden, mir seine Fachkunde vorzuführen. Und ich finde allmählich Gefallen an dem Mann.

"Die ist voll", muss ich ihm dann aber doch sagen. "Die brauche ich noch."

"Ach", sagt er, blickt von der Flasche zu mir und strahlt mich mit seinen vergilbten Zähnen an. "Zum Trinken, wa?"

Wir verabschieden uns herzlich und ich ziehe meiner Wege. Ich frage mich, wo er den Charme hernimmt und den Stolz eines echten Fachmanns - bei dem Beruf. Der kann es sich nicht leisten, meine verquasten Opportunitätskostenrechnungen aufzustellen oder Rotwein nur zum Kochen zu kaufen, weil er seine Karpfenrezepte durcheinander gebracht hat. Ich ärgere mich, dass ich ihm nicht die Rotweinflasche gegeben habe, er hätte sie bestimmt gerne getrunken. Oder wenigstens ein bisschen Wegegeld dafür, dass er für mich zum Bio-Laden schnürt und damit meine Beziehung über ein weiteres Wochenende rettet.

Ich beschließe zufriedener zu sein. Mit meinem Stundenlohn, mit klappernden Einkaufstaschen am Sonnabendnachmittag und überhaupt...

Sonntag, 23. November 2008

Letzte Tage in New York

Email aus New York, März 2001

Meine Tage in New York sind gezählt, und ich arbeite wie ein Eichhörnchen in der Trommel, um mein Wirken in dieser Stadt fachlich wie persönlich der Vollendung nahezubringen.

Letzten Sonnabend erwiesen wir meinen Polen in Williamsburg kulinarisch Reverenz, indem wir bei ihnen Pierogi essen gingen. Jeanette hatte ein paar fesche Geigenbauerinnen dabei, einen Münchner Geigenhändler und ihren armenisch-russischen Teufelsgeiger, und ich stellte aus meinem unerschöplichen Fundus ein paar von den Amerikanern bereit, die ich im Laufe der Zeit in Hell's Kitchens Bars aufgelesen habe. Jeanette war begeistert von dem echt polnischen Mangel an Service-Kultur in dem Restaurant. Der Chef sah uns an, als wollte er uns umbringen, als wir seine Gaststätte betraten - wir waren die einzigen, die ihm das zumuten wollten. Die Kellnerin war selbstverständlich eine atemberaubende 1,80 m große osteuropäische Schönheit mit hohen Wangenknochen und Gesundheitsschuhen, die den vernichtenden kommunistischen Dienstleitungsblick bis zur Perfektion beherrschte. Endlich mal kein: "Hiiiiiiii, I am Angela, what can I do for you?" Das Wesentliche jedenfalls stimmte. Das sahen wir gleich, als die Omi kurz aus der Küche blickte. Es hat einen Grund, daß ihre Familie sie dort versteckt, denn sie kann einfach nicht verbergen, mit wieviel Liebe sie kocht. Das darf der Kunde natürlich auf keinen Fall mitbekommen.

Bei unserer anschließenden Williamsburgtour hat sich herausgestellt, dass Jeanette und ich das allerbeste Tanzpaar von allen waren. Jeanette ist ganz klein und schmächtig. Nur noch mit Philipp kann ich solche drops und Würfe tanzen, wie Jeanette und ich sie im Black Betty hinlegten, aber mit Philipp liege ich öfter auf dem Boden. Na ja, ich bin eben einfach nicht klein und schmächtig...

Der Wir-lieben-unsere-Kinder-über-alles-Wettbewerb zwischen meiner Mutter und Lucas' Vater erreichte am Rosenmontag einen neuen Höhepunkt. Vorher hatte sich meine Mutter mehrfach dadurch positiv hervorgetan, daß sie in allen möglichen - vornehmlich romanischen - Sprachen "Ich liebe Dich" und "besame mucho" auf das Band gesäuselt hatte. Lucas verstieg sich sogar zu der Behauptung, sie sei latinischer als Jennifer Lopez. Am Montagnachmittag rief er mich dann völlig verstört in der Uni an, und meinte, ich solle lieber jetzt schon nachhause fahren und dafür sorgen, daß meine Eltern beide in Gewahrsam genommen werden, aber getrennt. Sie seien "re-locos" und würden sich zudem noch gegenseitig hochschaukeln.

Wie sich herausstellte, hatte meine Mutter zwei Nachrichten hinterlassen - natürlich während Lucas schlief. Nach anfänglichem Säuseln, fing sie an Karnevalslieder zu singen, "mit alle Mann am Ballerman" und dergleichen, das ganze untermalt von meinem Vater, der im Hintergrund "te quiero mucho" rief. In der zweiten Nachricht sangen die beiden ein Duett. Nach meinem Dafürhalten haben meine Eltern jetzt einen uneinholbaren Vorsprung aufgebaut, aber Lucas will das auf keinen Fall auf sich sitzen lassen. Das sei wie die Weltmeisterschaft von 1990, sagt er, und außerdem glaubt er insgeheim, daß Mama gegen das Anti-Doping-Gesetz verstoßen hat. Na ja, es war Rosenmontag, da mag wohl etwas dran sein.

Über Tim Nellon kann ich nichts Schlechtes sagen, weil er auf dem Verteiler ist. Aber wie sich am Donnerstag herausgestellt hat, tanzt er argentischen Tango wie ein junger Gott, also könnte ich mich auch dann nicht beklagen, wenn er nicht auf dem Verteiler wäre. Wir waren in dem urigsten Tangoschuppen der Stadt, "La Nacional", und ich konnte mich davon überzeugen, daß die Tangoszene in Hamburg mindestens die Dimensionen derer in New York besitzt. Ich kannte jeden einzelnen Tanguero noch von meinen Tango-Safaris im letzten Herbst. Ich kenne mich jetzt ja schwer aus, deswegen weiß ich, daß der Dueno ein getürkter Argentinier ist, obwohl er das nicht zugibt und Reisen nach Buenos Aires organisiert. Aber er singt nicht, wenn er spricht, und er sagt nicht "vos" anstatt "tú". Haha, ich bin mit allen Wassern gewaschen, mich täuscht man nicht. Dafür machte er sich bei mir beliebt, als er mir sagte, daß Deutschland das führende Tangoland außerhalb von Argentinien ist.

Gestern abend war ich mit Kerry im Metropolitan Museum of Art. Kerry ist einer von fünf Söhnen irischer Einwanderer aus Queens. Er steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden und anders als die Künstler in Williamburg bekleckert er sie auch nicht extra mit Farbe. Dennoch studiert er Malerei. Wir hatten am vorhergehenden Sonnabend einige haarsträubende Bildungslücken in meiner kunsthistorischen Ausbildung entdeckt (kennt ihr alle Caravaggio?), die er sich anbot zu stopfen. Jetzt weiß ich alles über chiaro-oscuro - und er weiß endlich, wie man das ausspricht - und über das Scharmützel zwischen der venezianischen und der fiorentinischen Schule. Bei Renaissance und Barock verstanden wir uns noch ganz gut, aber in der modernen Kunstabteilung bekam er das eine oder andere Mal Herzkrämpfe, wenn ich an besonders beachtenswerten Meisterwerken achtlos vorbeiging und statt dessen stehen blieb, wenn mir eigentlich sämtliche Haare hätten zu Berge stehen sollen.

Danach wollte Kerry eigentlich schnell schlafen gehen, aber wir schleppten ihn mit Jeanette und Chavi in die Lenox Lounge nach Harlem zum Jazz. Hat der es gut, daß endlich die Deutschen gekommen sind, um ihm New York zu zeigen. Er war noch nie in Harlem.

Harlem wird in regelmäßigen Abständen in der deutschen Presse ein Renaissance prophezeit. Die New York Times und Yvonne's Freundin Jill, die in der Lenox Avenue wohnt, sagen, das habe schon längst stattgefunden. Bill Clinton ist offensichtlich mit ihnen einer Meinung. Als ich Anfang der neunziger Jahre in New York war, hätte ich mich mit meiner Barbara niemals dorthin getraut. Aber jetzt wächst, blüht und gedeiht alles, ganze Straßenzüge von verlassenen Townhäusern werden renoviert und die Immobilienpreise sind inzwischen fast auf Downtown-Niveau.

Am schönsten finde ich das Nachtleben. Die Lenox Lounge ist vorne eine moderne Bar mit der Vorhut der schwarzamerikanischen Nachtschwärmer am Tresen, und hinten im Jazz-Keller ein Stück Cotton Club im Zebra-Streifen-Look.

Die Sängerin verfügte über einen imposanten Klangkörper und sang genauso, wie sich das die ungeübte Laiin von einer schwarzen Sängerin erhofft. Außerdem war sie witzig und charmant und besuchte in der Pause jeden einzelnen ihrer Gäste am Tisch, um mit uns zum Beispiel über ihre zahllosen Freunde in Berlin zu plaudern. Der Bassist war weiß und sah Chatschik zufolge aus wie Lenin. Soweit ich das beurteilen kann spielte jener auf jeden Fall mindestens so gut Bass, wie dieser die Massen mobilisieren konnte.

Es wird Zeit, daß ich Williamsburg verlasse. Nicht nur, daß ich von einigen Polen am Sonnabendmorgen schon mit Handschlag auf der Bedford Avenue begrüßt werde, ich werde auch abgefangen und in Bars gelockt, wenn ich abends mit dem festen Vorsatz nachhause komme, schlafen zu gehen. Heute lernte ich Hernan, einen 1,90 großen Puerto Ricaner in der U-Bahn kennen, mit dem ich mir über die hervorragende Stimmqualität des mexikanischen Straßensängers sofort einig war. Nächsten Sonnabend will Hernan mich um 10:15 wieder an der Haltestelle treffen.

Wenn Nina und Philipp nicht in Eimsbüttel wären, müßte ich mir jetzt ernsthaft überlegen, nach Hamburg-Wilhelmsburg zu ziehen...

New York Abenteuer fast komplett

Email aus New York, März 2001

Lucas ist ein Engel. Sein einziger Fehler besteht darin, daß er gelegentlich das Geschirr länger in der Spüle stehen läßt. So etwas darf man natürlich in einem Entwicklungsland nie tun. Das lockt alles möglich Ungeziefer an. Heute morgen hat er die Quittung dafür bekommen. Der arme Kerl tut mir immer noch ganz leid.

Ich bin zur Zeit ein bißchen angespannt, habe viel zu tun, und deswegen bin ich früh aufgewacht und habe mich schnell fertiggemacht, um sogleich behende an die Uni zu eilen. Als ich mich in bester Laune der vollgestellten Spüle näherte, peste eine Kakerlake ungefähr in der Größe der Hell's-Kitchen-Maus durch das Waschbecken, die ich dereinst ohne mit der Wimper zu zucken ins Jenseits befördert hatte. Aber morgens habe ich immer schwache Nerven und in der ersten Schrecksekunde stieß ich einen derart gellenden Entsetzensschrei aus, daß der arme Lucas sofort senkrecht im Bett stand und mitschrie. Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt hatte, daß zwar zwischen seinem und meinem Zimmer eine Tür ist, nicht aber zwischen seinem Zimmer und der Küche. Türen sind eben ein knappes Gut in Amerika. Im "Galapagos" in Williamsburg haben sie sich sogar darauf beschränkt, bunte Tücher vor die Toilettentüren zu hängen, und das will etwas heißen bei den prüden Amerikanern, die ja schon immer einen Herzinfarkt bekommen, wenn man im Zweiteiler ins öffentliche Schwimmbad möchte.

Aber das gehört nicht zum Thema. Was ich sagen wollte, ist, daß ich in meinem ganzen Leben nicht diesen angstverzerrten Gesichtsausdruck von Lucas vergessen werde, als er in mein Schreien einstimmte. Ich wundere mich wirklich, daß der Wasserkäfer nicht gleich vor Schreck gestorben ist. Wie auch immer Lucas und ich brauchten etwa zehn Minuten, um uns zu erholen, dann dauerte es weitere zehn Minuten, bis ich ihm erklärt hatte, was Sache war. Schockzustände sind meinem Spanisch nicht sehr zuträglich, aber cucarracha ist mir dann irgendwie doch noch eingefallen.

Völlig verängstigt fragte mich Lucas schließlich, ob ich wohl den Mut hätte, das Tier zu erlegen (er weiß alles über die Maus), sonst würde er es tun. Mir war klar, daß der Kleine um Jahrzehnte gealtert wäre, hätte ich dazu gezwungen, zum Mörder zu werden. Also befleckte ich wieder selbst meine Hände mit Blut und untermauerte meinen Ruf als Killerlady, nicht ohne laut auf Deutsch zu schreien "hau ab, geh weg, du widerliches Vieh". Für Lucas war ich in dem Moment bestimmt die Inkarnation eines dieser garstigen Nazis, die mit ihrem "Achchchchtung, machchchchch schnell" in keinem Hollywood-Film fehlen dürfen. Danach legte ich mich völlig erschöpft auf den Küchenboden und war fertig mit der Welt. Lucas meinte zufrieden, daß sei nurmehr eine weitere New York Erfahrung für mich, jetzt würde nur noch die Ratte fehlen. Sprach's und schlief auf der Stelle wieder ein.

Wie immer, wenn man irgendwo weg muß, ist es jetzt am schönsten. Alle Italiener sind aus ihren Löchern gekommen, gehen mit mir ins Kino, in die Disco, laden mich zum Brunch ein und jammern, ich solle den New-York-Aufenthalt doch noch verlängern, sie würden Luckus einen Brief schreiben. Aber als ich mich damals im Blauen Barhaus von meinem Hamburgern verabschiedete, mußte ich Christoph Gaggeleier hoch und heilig versprechen, zurückzukommen und nicht einfach wieder abzuhauen, wie damals aus Freiburg. Also wird nichts daraus, ich komme zurück. Außerdem sind sie Italiener hier entzückend, aber irgendwie auch Mutanten. Gingen wir doch neulich um halb neun Uhr abends von der Uni aus etwas essen, um zehn (!) fragte ich, ob wir noch ein Bierchen trinken gehen. Da antwortete Paolo doch nein, er müsse zurück an die Uni. Schließlich ging ich alleine mit Mike ein Bier trinken, dem einzigen Amerikaner im Ph.D. Programm. Er beklagte sich bitter bei mir, denn er sitzt mit drei Italienern in einem Büro. Wenn er morgens kommt, sitzen die schon dort und lernen, und wenn er abends geht, lernen sie immer noch, und was ist überhaupt aus „Dolce Vita“ und „Dolce Farniente“ geworden. Das frage ich mich auch. Vor lauter Verzweifelung tranken wir gleich drei Biere.
Salsa tanzen wir weiterhin, ich jedoch am liebsten mit meinem Russen. Neulich brachte Claudio mich allerdings ein bißchen in Verlegenheit. Ich saß gerade bei N. im Büro, um meine Arbeit zu besprechen, da kommt er herein, um irgendetwas zu fragen. Als N. uns vorstellen möchte und zu diesem Zwecke fragt, ob wir uns denn kennen, meint Claudio: "Ja, aber wir haben noch nicht zusammen Salsa getanzt." N. trug es mit Fassung, und ich versuchte, es ihm gleichzutun.

Letzten Sonntag gaben wir uns endlich auch mal dem Dolce Farniente hin, frühstückten mit Anna, zwei Lucas, Paolo und Giovanna in der Bedford Avenue bei den Polen und unternahmen dann eine Weltreise. Erst die Straße hinunter nach Puerto Rico, da war gerade Siestazeit und nicht viel los, und dann weiter die Straße herunter nach Israel, zu den chassidischen Juden. Lucas kam zwei Stunden später dazu, als er aufgewacht war, genaugenommen hatte ich ihn telefonisch geweckt. In Puerto Rico war gerade Sperrmüll, und jedesmal wenn Lucas ein Sofa sah, wollte er sich drauflegen und Siesta halten. Das beschleunigte den Spaziergang nicht gerade, er machte sich bei uns Ökonomen jedoch damit sehr beliebt, daß er das Schlachtlied seiner Fußballmannschaft sang. Wenn er und seine kongenialen Fans ihren ärgsten Rivalen, das erfolgreichste Team in Argentinien, demoralisieren wollen, singen das ganze Stadion: "Boca wird Meister, wenn die Kühe fliegen und Argentinien die Inflation unter Kontrolle hat." Davon waren wir so selbst beflügelt - denn Lucas meint, das mit den Kühen passiert eher - daß wir zu Fuß die Williamsburg Bridge überquerten, bei herrlichstem Sonnenschein und mit Blick auf ganz Manhattan. Manchmal ist das Leben einfach eben so richtig gut.

Waschen in Williamsburg

Email aus New York, Februar 2001

Ich komme gerade schweissüberströmt aus dem Waschsalon in der Bedford Avenue, wo sich am Sonnabendmorgen halb polnisch Amerika ein Stelldichein gibt. Dabei habe ich gelernt, daß in Williamsburg beim Waschen nichts schief gehen darf, wenn man der polnischen Sprache nicht mächtig ist. Man braucht nicht darauf zu vertrauen, daß man mit dem Capo auf englisch verhandeln könnte. Und ohne allerbilligste Clichés bedienen zu wollen, habe ich feststellen müssen, daß die Polen sich bestens darauf verstehen, einem auch solche Sachen vor der Nase wegzuschnappen, die ich ganz persönlich immer für niet- und nagelfest gehalten hatte - wie zum Beispiel Waschmaschinen.

Nach mehreren Stunden erbitterten Kampfes habe ich es dann aber doch geschafft, meine Kleider zu reinigen, soweit das in Amerika eben möglich ist. Wenn ich an Deutschland denken freue ich mich am allermeisten auf den Kochwaschgang...

Die jüngeren Polen sprechen Englisch und auf die Art und Weise konnte ich mich heute morgen selbst davon überzeugen, daß Ostalgie auch in Polen eine weit verbreitete Krankheit ist. Wahrscheinlich in gewisser Hinsicht gar nicht immer zu Unrecht, aber der junge Mann, mit dem ich mich unterhielt, verstieg sich sogar zu der Behauptung, daß man die Präsenz der Russen zu Kommunismuszeiten kaum wahrgenommen hätte. Ach das bißchen Kriegsrecht, ich solle mich mal nicht so anstellen!

Der Valentinstag hat mich - wie sollte es anders sein - einmal mehr in eine äußerst verzwickte Situation gebracht. Der Doorman der NYU, ein gestandenes Familienoberhaupt aus den Bronx im Alter meines nur dem Anschein nach jugendlichen Vaters, hatte es sich nicht nehmen lassen, mir Pralinen in einer Schachtel in Form eines rot flammenden Herzens zu schenken. Das interpretierte ich noch als rührende Geste, die darauf abzielte, kein Heimweh bei mir aufkommen zu lassen, natürlich in Verkennung der Tatsache, daß die Deutschen in der Liebe mit einem geringen Bruchteil der Rituale auskommen, die die Amerikaner dafür benötigen. Verdächtig kam es mir dann allerdings vor, als er sich am nächsten Tag danach erkundigte, ob er mir denn wohl auch Blumen schicken dürfe. Ich weiß nicht mehr, was ich daraufhin stammelte, auf jeden Fall fuhr ich schnell in mein Büro hoch, und schrieb einen Emil an meine Kulturgrabenberaterin Helen, die sich in der amerikanischen wie auch in der taiwanesischen und deutschen Kultur auskennt wie in ihrer Westentasche, Solange es sich um nicht-rote Nicht-Rosen handele, solle ich die Nerven behalten, meinte sie, ansonsten können es sich aber durchaus um einen "dirty old man" handeln. Ich solle die Blumen auf jeden Fall annehmen, wenn sie kämen, mich aber gleichzeitig angelegentlich danach erkundigen, wie er denn den Valentinstag mit seiner Frau verbracht habe. Indem ich eine offene, positive und fokussierte Anerkennung seiner Frau und seiner Kinder zeigte, könnte ich unserem Verhältnis gewisse Grenzen auferlegen. Wer von Euch stimmt nicht mit darüber überein, daß die Frau in den diplomatischen Dienst gehört?

Wenn ein Mensch auf dieser Welt eine argentinische Seele hat, dann ist es Lucas' Vater. Am liebsten würde ich alle seine Nachrichten auf unserem Anrufbeantworter aufbewahren. Corinna würden die auch gefallen: Ein Tango könnte nicht besser sein. "Te quiero muuuucho, te quiero muuuuuucho, cuidate cuiuiuiuiuidate!" Ich habe ein bißchen Angst, die Argentinier könnten glauben, meine Eltern liebten mich nicht, deswegen forderte ich zuhause ähnliche Nachrichten ein. Aber ihr wißt ja, wie das in Norddeutschland ist. Die Männer gehen mit der Keule auf die Jagd, und wenn überhaupt jemand für Gefühle verantwortlich ist, dann sind das die Frauen, und die zeigen sie indem sie Unmengen kochen oder einem sündhaft teure grüne Lederjacken kaufen. Aber wie soll Lucas das merken?

Wenn mein Vater alle drei Jahre mal auf einen Anrufbeantworter spricht, dann diktiert er in aller Regel Satzzeichen - alte Berufskrankheit - und da ich mich dann sofort hinsetze und mitstenographiere, bin ich ganz froh, daß er keine Nachrichten hinterläßt. Lucas hält mich mit meiner Mülltrennung schon für verrückt genug. Meine Mutter hat die Angewohnheit, auf den Anrufbeantworter zu brüllen: " Niciiiiiiii, wo treibst Du Dich schon wieder 'rum?" Das ist ein bißchen zu schwer für Lucas, aber ihr "Halloooooo, Niciiiiiiiii" macht er schon so gut nach, daß ich dauernd das Gefühl habe, ich säße in Springe im Wohnzimmer oder besäße einen Papagei. Gestern hat sie jedoch auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin auf das heftigste gesäuselt, darunter auch eigenhändig kreiertes Spanisch: "Te amo, te amo, te queme , te queme" oder so ähnlich. Ich war jedenfalls begeistert. Ich hoffe auch Lucas wird beeindruckt sein, wenn er nachher um fünf mal aufwacht.

Gestern blamierte ich mich ein bißchen beim Kochen, weil ich den Spinat nicht richtig geputzt hatte. Dabei hat mir Cathrin noch zu Studienzeiten mit großer Liebe zum Detail beigebracht, wie man den Feldsalat richtig putzt - eigentlich hätte ich es wissen müssen. Gott sei Dank hat Arnold eine Spinatallergie und Frank hat aß mit Todesverachtung, wenn auch unfreiwillig zähneknirschend. Die Ente in Orangensoße war dafür lecker.

Letzten Sonntag brunchte ich mit der größten jüdischen Großfamilie im Staate Michigan. Ich habe noch mehr Williamsburger (sprich Franzosen und Israelis) in den Kneipen kennengelernt, und weiß jetzt, daß man in Williamsburg sich einer Frau nicht einfach nähert, indem man scheinheilig fragt: " Kennen wir uns nicht von irgendwoher?", sondern wenigstens: " You look familiar, are you an artist?" Vielleicht mache ich es bald so wie mein indischer Freund Rohit, bei dem ich mich unlängst beklagte, was für ein hartes Los es sei, auf einer Künstlerparty in Williamsburg zugeben zu müssen, daß man Volkswirtin ist. " I describe myself as an mathematical artist", sagt er, mit seinem unvergleichlichem, unbezahlbarem indischem Akzent.

Gepriesen...

Email aus New York, Februar 2001

... sei der Tag, an dem der Vermieter in Hell's Kitchen auf die Idee kam, Vladi, Curzio und mich aus der Wohnung zu schmeißen - Williamsburg ist wunderbar! Es vereint alles in sich, was schön ist. An einem Sonnabendmorgen ist die Bedford Avenue wie die Osterstraße. Alle Einwohner, die nicht Künstler sind - also die Polen und ich - laufen eilig von Geschäft zu Geschäft und erledigen ihre Einkäufe oder halten an der Ecke noch einen kleinen Schnack. Das Schöne daran ist, daß man nicht bis ins Schanzenviertel radeln muß, um in ein hippes Kaffee zu gehen oder Second-Hand-Klamotten einzukaufen, denn die sind auch alle in der Bedford Avenue. Des nachts ist Williamsburg wie Ostberlin. Die Gebäude sind ein bisschen heruntergekommen, aber überall schießen kleine Bars, Clubs und Kaffees wie Pilze aus dem Boden. Wenn ich mich nur genug von den Outfits inspirieren lassen, die nach zwölf Uhr im L-Zug von Manhattan in die Bedford Avenue getragen werden, dann habe ich demnächst in der Hamburger Szene die Nase ganz vorne.

Wenn man von mir zu Hause aus ein bißchen in den Süden läuft, landet man in Mexiko und Puerto Rico. Aus allen Läden schallt laute Salsa-Musik und Spanisch ist die Landessprache. Dorthin unternahm ich heute morgen einen kleinen Ausflug, nur um hinterher beim Kaffeetrinken im "Time Out" zu lesen, es sei in der Gegend vor zehn Jahren noch so gefährlich gewesen, daß sich die Künstler immer ganz fest beieinander eingehakten, um sich gegenseitig nachhause zu bringen, wenn sie ihr Atelier verließen. Die Vorstellung hat mir im Nachhinein doch noch einen kleinen Schreck versetzt, zumal ich mir Sorgen um den letzten Künstler mache, den niemand mehr nachhause bringen konnte.

Aufgeheitert in meinen trüben Gedanken wurde ich von einer netten israelischen Künstlerin, die als Kind einen Schüleraustausch nach Hannover gemacht hatte. Meine weitschweifigen Entschuldigungen dafür, daß Hannover nicht das Schönste ist, was unser Land zu bieten hat (wie gut, dass meine Eltern das nicht hören konnten), wies sie empört zurück. Hannover sei beautiful, so schön grün und neighbourhoody. Ha! Was für ein guter Tag!

Hochmotiviert davon lief ich ein paar Straßenzüge in den Norden und fand mich tiefsten Polen wieder. Solche Fleischereien, wie man sie auf der Manhattan Avenue findet, habe ich seit meiner Radtour durch Ostpommern nicht mehr gesehen. Anstatt Telefonkarten kauft man dort kartyie telefonczkie, man ist im restauranczkaia polskaia, und wenn man sich amüsieren möchte, geht man in den club nocznyi.

Eigentlich hatte ich in die hippen Klamotten-Läden gehen wollen, die es in bei uns um die Ecke zu Hauf gibt. Bloß hatte ich nicht mit den Künstlern gerechnet, von denen natürlich niemand vor ein Uhr aufsteht. Da neun- bis zehntausend davon in Williamsburg leben, sind auch die Öffnungszeiten dementsprechend. Lucas weiß schon, warum er mich immer auslacht, wenn ich während der Woche schon um zwölf oder ein Uhr ins Bett gehe. Ich habe mich des amerikanischen Traums bedient, um ihm mein auffälliges Verhalten zu erklären. Ich müsse gut arbeiten, damit es meine Kinder einmal besser haben könnten als ich. Das hat ihn wenig beeindruckt. So wie ich arbeitete, meinte er, würden sie bis hin zu meinen Urenkeln ein besseres Leben haben.

Aber selbst die Einführung der Mülltrennung in unserer WG konnte unser herzliches Verhältnis nicht ernsthaft trüben. Ich wählte einen Kompromiss, und trenne nur Flaschen, Papier und den Rest. Irgendwie hörte ich zu häufig das Wort "loco" aus Lucas' Telefongesprächen mit Argentinien heraust, als wir noch eine Extratüte für Plastik hatten.

Übrigens kann ich jetzt endlich von mir behaupten, ich hätte Placido Domingo in der Met gesehen. Nur unter uns Pastorentöchtern gebe ich zu, daß er dirigiert hat, anstatt zu singen (der Torfkopf!). Ansonsten hätte ich wohl aber auch keine Karten bekommen.

Am Donnerstag habe ich zusammen mit meiner Kollegin Anna zwei PhD-Studenten aus dem ersten Jahr von ihren Ökonometrie-Aufgaben aufgescheucht, um mit ihnen Salsa tanzen zu gehen, oder genauer Son Cubano. Mein russischer Tanzpartner hatte erstens noch nie Salsa getanzt und sah zweitens aus wie ein typischer russischer Intellektueller: groß, dünn und ein bißchen linkisch. So nett er ist, machte ich mir keinesfalls größte Hoffnungen, was das Tanzen anging. Jedoch weit gefehlt! Die russische Seele verschafft einem offensichtlich auch das richtige Gefühl für Rhythmus. Nach einer halben Stunde flogen unsere Hüften nur so, bis Giovanni beeindruckt meinte, noch eine Stunden bei dieser Lehrerin, und Artem und ich würden in Kuba eingebürgert.

Und Washington habe ich ganz vergessen! Ich hatte eigentlich zumindestens so etwas wie Chicago erwartet. Aber obwohl es sehr schnuckelige Ecken und schöne Museen gibt, ist es alles in allem wie Bonn ohne Rheinländer. Dennoch haben Moni und ich uns ordentlich in den Museen gebildet und alles losgemacht, was sich irgendwie losmachen ließ. Sie hatte dort ein gute Zeit, wurde von allen geliebt und auf Händen getragen - wen wundert's? Jetzt sitzt sie für vier Monate in College Station, Texas, und gruselt sich ein bisschen. Sollte sie nicht, sie macht alles richtig. Schließlich werden wir alle von Amerika aus regiert. Und so schön und spannend New York ist, dass Leute wie George W. Bush hier Präsident werden, wird nicht in New York entschieden, sondern in Kalamazoo, Michigan, und College Station, Texas. Wer dort nie gewesen ist, kann die Welt nicht wirklich verstehen.

Sonntag, 24. August 2008

Entdecke Deinen Kiez - Dichtung und Wahrheit

Mein Stadtviertel hat einen schlechten Ruf.

"Gleichgestaltet", urteilen die Kreuzberger abfällig und sind stolz auf die verschleierten Frauen in ihrer Straße und deren Söhne, die mit Goldkette, viel Gel im Haar und wuchtigen Oberarmmuskeln zu hämmernder Musik Luxuswagen durch das Viertel steuern, während ihre Schwestern neben Studium und Beruf in progressiven Parteien oder Verbänden Integrationsarbeit leisten. Die Kreuzberger sind stolz auf diese Nachbarn, und das ist nicht schwer zu verstehen. Aber in der Regel dürfen sie nicht einen von denen auch nur ihren Bekannten nennen.

"Westdeutsche Kleinstädter", höhnt Kai. Er muss es wissen. Schließlich ist er selber einer und fühlt sich wie wir alle in der Großstadt ungemein befreit.

"Bionade-Biedermeier", titelt ein westdeutsches Wochenblatt, dessen Artikel in den letzten zwanzig Jahren zwar deutlich kürzer, aber deswegen noch lange nicht weniger langweilig geworden sind. Die Autorin ist sicher mächtig stolz auf ihre Alliteration. Der Schatz hält sie für eine Eimsbüttlerin, die jeden Sonnabend in der gleichen Portugiesen-Bar verbiestert ihren Galao trinkt und nichts lieber täte, als sich eine große Sonnenbrille aufzusetzen und sich frei zu fühlen zwischen den all gutaussehenden, nicht mehr ganz so jungen Leuten hier, die seit neuestem Vollbärte tragen, oder - wenn sie das nicht können - immer noch die Miniröcke über Leggins aus dem letzten Jahr. Dazu, wenn möglich, einen schwangeren Bauch. Statt des immergleichen Galao hätte sie die Wahl zwischen schnieken Cafés mit Kaffee und Kuchen, großräumigen ausländischen Restaurants mit Brunch-Mozzarella und Tomaten bis sechs Uhr abends und einräumigen Bars, die Milchschaumkaffee und aufwändige Sandwiches auf Holzstühlen und Sesseln vor der Tür anbieten. Deren Gäste schreiben auf ihren Labtops oder versperren den Bürgersteig mit ihren Kinderwagen. Anstatt zu arbeiten verfolgen sie Projekte - zum Beispiel Artikel schreiben für dieses Wochenblatt. Es sei denn sie fahren morgens doch klammheimlich zum Dienst, um spätestens bis neun Uhr einzustechen. Denn unser Viertel ist nicht zuletzt eines der bedeutensten Beamtenghettos der Stadt.

Früher wohnten hier Kommunisten, die im Widerstand kämpften. Gleich um die Ecke ist Hans Rosenthal aufgewachsen, bis ihn jemand vor den Nazis in einer Gartenlaube versteckte. Und während der Teilung haben sich die Denker und Bohemiens in den langsam zerfallenden Altbauwohnungen Nächte lang diskutiert und selbst gedichtete Lieder gesungen.

Nach dem Mauerfall übten die Einschußlöcher in den Häuserfassaden, die vielen leeren Wohnungen mit Außentoiletten und Kohleheizungen und all die Freiräume dazwischen eine magische Anziehungskraft auf Studenten und Lebenskünstler aus, die sich von der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft abgrenzen wollten, aus der sie kamen. Oder auf russische Abenteurer, die vorher in Moskau in halb so großen Wohnungen zusammen mit drei Familien gewohnt hatten. Sie alle zusammen besetzten Wohnungen, die niemandem gehörten, veranstalteten Picknick auf den Dächern und Pillenexzesse, feierten wilde Partys und spielten Konzerte in den Innenhöfen.

Inzwischen ist die Zeit über das Viertel hinweg gezogen. Durch die Straßen fahren Touristenbusse, deren Insassen die vielen Bars und Cafés bestaunen sollen. Die Häuser sind fein renoviert und ihre Insassen sind mit den Studenten von damals gealtert. Sie sind zu Geld gekommen und haben die Bewohner von einst gnadenlos mit Hilfe von Mietpreissteigerungen über die Danziger Straße vertrieben. Sie kaufen nur Ökolebensmittel und Ökostrom, melden ihre Kinder mit zwei beim Yoga an und mit drei beim Mandarin-Unterricht. Wenn diese hochgebildeten Kleinen wegen Überfüllung der nächst gelegenen Schule eine erste Klasse zusammen mit lauter bis an die Zähne bewaffneten Araber-Kindern im Wedding besuchen sollen, strengen sie Gerichtsprozesse an.

Neulich traf ich am ein dickes Ehepaar im Alter meiner Eltern aus meiner Heimtastadt, die sich im Viertel eine Eigentumswohnung gekauft haben, um öfter mal die schicken Restaurants und Theater besuchen zu können. Ganz gleich wie weit man reist, seiner Herkunft entkommt eben nicht so leicht...

Und die Ausländer im Viertel sind nichts als ein Abbild unserer selbst, nur mit einer anderen Muttersprache. Bürgerkinder aus reichen Industrieländern, die die billigen Mieten dankbar annehmen - denn alles ist relativ - um hier nach Freiräumen zu suchen und sich auszuprobieren. Amerikanische Buchhändler, französische Sängerinnnen und Gastronomen und Italienerinnen, die sich entnervt von den niedrigen Löhnen in ihrer Heimat hier als Lehrerin verdingen. Wir nennen sie gerne Edelkanacken. In unserem Flirt-Kaiser's ist Deutsch nur eine Sprache von vielen. Aber richtig ist auch, dass der vietnamesische Gemüsehändler und der Döner-Verkäufer nicht im Viertel wohnen.

An all diesen Vorurteilen ist mehr als nur ein Kern Wahrheit. Aber wer nur das sieht, weiss nichts davon, was in unserem Viertel los ist.

Sie ahnen nicht von Karina, der Flamenco-Lehrerin, die mit ihrem charmanten Österreicher im dritten Stock lebt und an ihr Kind nur Mutterliebe läßt. Sie wissen nichts von Clara, die im fünften seit Jahren an ihrer Kollektion hochwertiger Mode-Accessoires arbeitet und bald ein großer Star sein wird, wenn sie endlich damit an die Öffentlichkeit tritt. Und sie wissen nichts von Molly und Polly im zweiten, die schon vor dem Mauerfall hier wohnten. Bestimmt erledigten sie auch damals bereits die Aufgaben der Concierge und fragten jeden Nachbarn, den sie im Treppenhaus trafen, nach allen näheren Lebensumständen aus. Von der Tomatenzucht im Sandkasten und dem Partytisch im Hof und von den Teenagern, die hinter den Fahrradständern Wasserpfeiffe rauchen, wissen sie ohnehin nichts.

Sie wissen nichts von dem vitalen, unverdrossenen Unternehmergeist, der im Viertel herrscht, beseelt von unerschütterlichem Optimismus auch die abwegigste Idee noch zu vermarkten sucht und sich von keinem Rückschlag auf der Welt den Mut nehmen läßt. Schon der dritte Psychotherapeut mit heilpraktischer Ausbildung hat sich in der Straße niedergelassen und das ganze Viertel wimmelt nur so vor Angeboten für fernöstliche Massagepraktiken, Entspannungstechniken und Heilbäder. "Wovon wollen die sich hier entspannen", staunt ein Kollege im Büro immer, der sonst in London zuhause ist.

Obwohl unsere Straße eine der ruhigsten des Viertels ist und niemand ernsthaft auf Laufkundschaft hoffen kann, hat sofort ein Töpferin das Geschäft nebenan übernommen, als die Vorgängerin aufgeben musste, die szenige Büstenhalter und praktische Wickelhemden mit Tragevorrichtungen für Windeln und Flaschen für Schwangerschaft und Stillzeit entworfen hatte. An der Ecke habe sich zwei Avantgardisten niedergelassen, die in einem riesigen Schauraum eine Handvoll vom letzten Schrei ausstellen und so tun, als verkauften sie die Ware für 700 Euro das Stück. Jedesmal, wenn sich doch ein potenzieller Käufer mal in die Nähe des Ladens verirrt, müssen sie fluchartig ihren Zigaretten- und Bierposten auf der Straße verlassen und hinter der Kasse vorgeben, sie seien erfolgreiche Geschäftsmänner. Schon in der zweiten Woche mussten sie Sonderangebote machen.

An einem Ende der Straße schenkt eine Schwulenkneipe an die härteren Jungs der Szene aus. Einen privaten Filmclub gibt es, dessen Wesen es uns nie richtig gelungen ist zu ergründen. Am anderen Ende hat eine Galerie eröffnet, die in Berlin und St. Petersburg esoterische Kunstwerke ausstellt. Und ein paar Schritte weiter an der Allee betreibt eine bildschöne, türkische Geschwistergruppe ein großräumiges mexikanisches Restaurant. Es geht wie die Pest. Ihre Gäste sind nicht die westdeutschen Kleinstädter aus dem Viertel, die eher Kneipen im Wohnzimmerformat bevorzugen, sondern die Einwohner von ehedem und deren Kinder, die immer noch gerne vom Norden über die Alleen abends ins Viertel kommen, um sich zu amüsieren. Bei der Fußballeuropameisterschaft hatten sie einen Flachbildschirmfernseher auf der Straße aufgebaut. Das Spiel Türkei gegen Deutschland haben wir alle zusammen mit den Freunden der Gastwirte geguckt, die im türkischen Schlachtenbummlerlook angereist waren. Beim Siegtreffer für Deutschland wechselten sie spontan die Seiten und wir hatten eine Menge Spaß zusammen.

Auf der anderen Seite der Allee verkauft Holger portugiesische und deutsche Weine und bringt den Bewohnern des Viertels am Wochenende das Kochen bei. Er erzählt gerne, dass er sich jetzt mehr um die Familie kümmern will und einen Rhythmus mit Anspannung und Entspannung sucht. Um das zu verwirklichen, hat er erst einmal mit der Anspannung angefangen und nebenan noch einen Laden aufgemacht, der Mittags aufwändig selbst gemachte deutsche Gerichte für fünf Euro verkaufen will an die Architekturbüroberater, die Webdesigner und Werbetexter im Viertel, die selbst auch keine Kunden haben.

Drei Straßen weiter zeigt ein Kunstkino deutsche Filme über Underdogs. Vor Filmbeginn müssen sie sich bei den sechs Zuschauern für die Unterbrechung in der Mitte des Films entschuldigen, wenn sie die Rolle wechseln. In der gleichen Straße glaubt einer, er kann mit dem Verkauf von Wasserpfeiffen und Pharaonenstatuen sein Geld verdienen. Wenn er aufgibt, wird jemand den Laden übernehmen, der dort namibische Kunstobjekte verkauft - das weiß ich jetzt schon.

Und das ganze Viertel ist voll von Läden, in denen gut aussehende, sympathische, junge Männer Fahrräder reparieren. Ein Traum!

Der Schatz glaubt, der Sizilianer, der auf der Hauptstraße ein Restaurant betreibt, braucht eine halbe Stunde, um seine Baskenmütze so schief zu justieren, bevor er zur Arbeit. Seine Kollegen haben uns aus Versehen Fisch gebracht anstatt der Kalbsleber - der köstlichste Fehler unseres Lebens. Um alles wieder richtig zu stellen, kam eine Kostprobe der Kalbsleber gleich hinterher. Natürlich stand nur die auf der Rechnung und den Wein haben sie uns erst berechnet, nachdem wir sie strengstens dazu aufgefordert hatten. Aber die Stimmung war erstklassig. Als der Schatz - nachdem er mir das ganze Essen über von dem Paten erzählt hatte - den Sizilianer fragte, wer in der Stadt Canolli machen könnte, meinte der sein Vater, kein Problem, wir sollten nur vorher Bescheid sagen. Nur den richtigen Ziegenkäse zu finden, sei in der Stadt sehr schwer.

Von dem russischen Theater, den Tanz- und Theaterbühnen im Viertel habe ich noch gar nichts erzählt.

Ja, wir sind das, was sie in Frankreich Bobos nennen - Bürgerbohemiens. Oft auch einfach nur bürgerlich. Aber wir wohnen trotzdem gerne hier.

Ich habe auch in Eimsbüttel gerne gewohnt. Der Galao war lecker und die natas do ceu erst! Der Fischladen sucht in ganz Berlin seinesgleichen. Und in der Müggenkampstraße hat ein sympathischer Libanese noch zu meiner Zeit ein gemütliches Lesecafé mit leckerem Kuchen aufgemacht, aber wahrscheinlich nach sorgfältiger Marktstudie und nüchternem Abwägen aller Risiken. Er ist heute noch erfolgreich.

Den ganzen chaotischen, kreativen, unternehmerischen, optimistischen Rest gibt es dort nicht.

Mittwoch, 20. August 2008

Lebemänner in New York

Email aus New York, Februar 2001

Mein Heimweh ist überwunden und in Williamsburg habe ich mich wunderbar eingelebt. Ich genieße meinen Blick aus dem Schlafzimmer auf Manhattan und das Gefühl, am Meer zu leben. Wenn ich morgens zur U-Bahn laufe, fliegen die Möwen über meinen Kopf hinweg.

Williamsburg ist wie das Schanzenviertel, jedenfalls, was den Look der Leute angeht. Ich warte immer nur darauf, daß mich jemand anpfeift, ich solle doch zurück nach Eppendorf gehen, so wie es mir dort einst widerfuhr. Ansonsten ist es den Williamsburgern mit dem Hippsein etwas ernster - sie haben alle entweder ein Skateboard unter den Fueßen oder einen Geigenkasten unter dem Arm. Und das nicht nur zur Zierde.

Am Sonnabend wollten Jeanette und ich eigentlich Salsa tanzen gehen. Irgendwie bogen wir aber falsch ab, und ließen uns von Bartender A ( eigentlich Fotograf) auf die "Künstlerloftparty" von Bartender B ( eigentlich "Maler") abschleppen. Leider ließ die Malerei von Bartender B nach meinem Geschmack etwas zu wünschen übrig. Darüberhinaus stellte er sich als dermaßen betrunken heraus, daß ich ihn bei unserem Tänzchen nicht nur führen mußte - was ich zugegebenermaßen ganz gerne tue - sondern im Prinzip auch allein dafür verantwortlich war, daß er sich in der Vertikalen hielt. Das war mir dann doch ein bißchen zu viel. Wobei der mir noch lieber war, als der noch wesentlich betrunkenere junge Man an der Bar, der die Morde der RAF als notwendigen Gewaltakt gegen den Kapitalismus einstufte, allerdings weder Ulrike Meinhof noch Joschka Fischer kannte, dem es auch als Nicht-RAF-Mitglied zur Zeit mühelos gelingt, es mit seinen Straßenschlachten aus der Jugend in die New York Times zu schaffen. Sein Gehalt bezieht der RAF-Sympathisant übrigens vom kommunistischen, amerikanischen Staat - als Geschichtslehrer. Und macht sich jetzt jemand von Euch ein Vorstellung davon, welche Sorgen ich mir um amerikanische Kinder mache?

N. setzte mir neulich beim Mittagessen auseinander, daß die Deutschen mit ihrem Krieg und ihrer Judenverfolgung neben allem andern zwar ihre eigene akademische Basis komplett zerstört, dafür aber die der Amerikaner weit nach vorne katapultiert hätten. Mit anderen Worten, wär der Krieg nicht gewesen, dann müßte Nadiri jetzt mich besuchen und ich bräuchte kein Heimweh zu haben. Wußtet ihr, daß Fritz Machlup nicht nur dermaßen gutaussehend war, daß er immer eine Traube von Frauen hinter sich herzog (auch noch mit achtzig), sondern auch ein derart hingebungsvoller Ökonom, daß er regelmäßig auf Festen um elf Uhr aufsprang, um an die Uni zu fahren und weiterzuforschen? Konsequenterweise ist er auf einer Konferenz tot umgefallen, als er gerade eine Frage stellte. Auch Oskar Morgenstern glänzte an der NYU nicht nur mit der Erwartungsnutzentheorie, sondern auch mit Schönheit und österreichischem Charme. N. bezeichnet die beiden als deutsch, aber das muß ich meiner Tante und meinem Onkel zuliebe korrigieren, die sehr strenge Leser meines Bulletins sind.

Mal sehen, ich heute abend Lucas treffe. Inzwischen habe ich auch richtigen Kaffee gekauft, das heißt, wenn ich wir uns begegnen, kann ich dann auch nicht mehr schlafen. Und sonst finde ich morgens immer ein Zettelchen von ihm. Vorgestern hatte er gekocht. Weil ich es ab und zu mal wage, eine schmutzige Schüssel für ihn mitabzuspülen, hat er einen Zettel an das Geschirr gehängt:

"Spülen verboten - ich mache das!"


Mittwoch, 6. August 2008

Dunkle Kiefernwälder - die Zivilgesellschaft von S.

In das Städtchen S. hatte uns einer dieser harmlosen Sonntagsausflüge geführt, die man morgens in der Berliner S-Bahn damit beginnt, seine mitgeführte Tagesration an Stullen kurz nach dem Einsteigen restlos zu verzehren. Es war der Endpunkt einer romantischen Fahrt durch blitzblank renovierte, wenn auch nahezu unbewohnte Dörfer durch dunkle Kiefernwälder und über weite, mit Klatschmohn gesäumte Felder. Nur selten hatte der märkische Sand dabei das Fortkommen erschwert, besitzen doch die Fahrradwege in dieser Gegend in der Regel der EU-Regionalförderung sei's gedankt Bundestraßenqualität.

Als wir eben vor der geplanten Besichtigung des als malerisch geltenden Städtchens unser wohlverdientes Mineralwasser austrinken wollten, entwickelten sich am anderen Ende des Marktplatzes Tumulte. Ein vermutlich mit verschiedenen Drogen aufgeputschter Mann mit äußerst kurzen blonden Haaren brüllte einen Dunkelhaarigen an und schlug dabei abwechselnd ihn und sein Auto. Einer Frau mittleren Alters, die zu schlichten versuchte, schenkte er keinerlei Beachtung. Oder doch, denn wie sie später berichtete, blieb auch sie von seinen Schlägen nicht verschont. Aus schwer nachvollziehbaren Gründen versuchte der Dunkelhaarige sich mit seiner mangelnden Zahlungsfähigkeit zu verteidigen und wies dabei auf seine Arbeitslosigkeit hin.

Die Bürger von S. schalteten schnell ihre Fernseher aus und versammelten sich am Straßenrand und an ihren offenen Fenstern, um zu staunen, wenn sie sich nicht im angrenzenden Biergarten in der priviligierten Situation befanden, gleichzeitig das Geschehen und die Europameisterschaftspartie Italien gegen Spanien verfolgen zu können. Unsere Versuche, in Erfahrung zu bringen, ob jemand die Polizei gerufen hatte, führten nicht weit. Die meisten reagierten auf Nachfragen gar nicht. Ein älterer Herr forderte mich auf, zwei Männer, die sich vermöbelten doch in Ruhe zu lassen, solange sie keiner Frau etwas täten. Ich fragte mich, ob die Brandenburger sich mit der Annahme einer südländisch-patriarchalischen Geisteshaltung auf die Olivenhaine und die sonnige Ostseeküste vorbereiten wollten, die der Klimawandel womöglich bald in diese Gefilde bringen wird, und betrachtete dabei sorgenvoll das Blut, das inzwischen beiden Kämpfern aus dem Mund floß.

Während ich mich noch in solchen Überlegungen erging, hatte der Schatz schon längst die Polizei von S. angerufen und marschierte entschlossen auf die Gaffer im besten Mannesalter zu, um sie wie aus einer polizeilichen Anleitung zur Gewaltdeeskalation gezielt anzusprechen und zur Hilfe aufzufordern. Nun pfeiffen die Bürger von S. aber auf solche Anleitungen. Sie ziehen das passive Staunen vor. Lediglich der wuchtige Wachmann vor der Sparkasse ließ sich schließlich beim dritten Anlauf davon überzeugen, behilflich zu sein. Es gelang ihm sogar, den Angreifer mit einer imposanten Gorilla-Pose vorübergehend dazu zu bringen, von seinem Opfer abzulassen. Aber schon bald brüllte er wieder wie ein Tier, schlug und trat auf den Dunkelhaarigen ein und bezichtigte die angesichts der Aussichtslosigkeit ihrer eigenen Deeskalationsversuche inzwischen verzagte Frau, die sich als seine Schwiegermutter in spe entpuppte, des Verrats der Familienehre. Ich verwarf die Olivenhaine. Statt dessen tauchten rauhe, kurdische Bergdörfer und finstere Dorfälteste mit zerfurchten Gesichtern vor meinem geistigen Auge auf, während ich immer verzweifelter von einem durchtrainierten Gaffer zum nächsten lief, um sie zunehmend schrill und doch unverändert ergebnislos darum zu bitten, dem langen schlaksigen Brillenträger ohne Muskeltraining und Kampferfahrung dabei zu helfen, ihren Nachbarn ruhigzustellen. Es half auch nichts, dass ich an den Zaunstäben des Biergartens rüttelte - wer gibt schon einen Platz auf, auf dem er auch ohne Fouls gleichzeitig Fußball und Gewalt sehen kann.

Schließlich stürzte ich mich in Panik um meinen Schatz in das Kampfgetümmel - der Kampfhund des Angreifers hatte sich inzwischen eindeutig als altersschwach und zahnlos erwiesen. Das veranlaßte den Angreifer, sich vorübergehend zu beruhigen, meine Hand zu ergreifen und mir seine Gewaltlosigkeit gegenüber Frauen zu beteuern. Ich entschied mich endgültig für Kurdistan. Während ich innnerlich nach taktvollen Wegen suchten, der Schwiegermutter auf der Suche nach einem friedlicheren und moderneren Schwiegersohn Online-Partnersucheforen für ihre Tochter nahezulegen, geriet ich äußerlich in wachsende Panik. Der Schatz hatte offenbar keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als den inzwischen wieder tobenden Angreifer zu Fall zu bringen. Immerhin verfehlten meine gellenden Schreie, man möge doch die Sehhilfe meines Freundes und die damit verbundenen Gefahren in dem Handgemenge nicht völlig vernachlässigen, ihre Wirkung nicht ganz. Als der Angreifer mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, machte er nicht etwa von dem Messer Gebrauch, das ihm aus der Tasche gefallen war, sondern forderte den Schatz auf, es gut sein zu lassen, denn seine Freundin habe Angst. Der blieb trotzdem auf dem Mann knien, bis endlich die Polizei kam. Noch heute schwillt meine Brust vor Stolz, wenn ich an diesen Heldenmut denke!

Die Ankunft der Polizei nutzte ich, um die Bürger von S. wüst zu beschimpfen, sie aufzufordern, sich zu schämen, und die Frage aufzuwerfen, ob sie auch gaffen, wenn eine Frau auf ihrem Marktplatz vergewaltigt wird. Wahrscheinlich stellen sie sich eher hinten an. Der Schatz konnte mich gerade noch davon abhalten, das Geschehene zum Anlaß zu nehmen, lautstark über die politische Haltung der ostdeutschen Landbevölkerung nachzusinnen. Das wäre auch nicht fair gewesen, denn immerhin waren die Schwiegermutter und der Wachmann mutig gewesen, letzterer womöglich allerdings eher von Berufs wegen. Das ist eine dünne Ausbeute, aber es ist nicht nichts.

Am Bahnhof von S. mussten wir schließlich feststellen, dass die helle Haut und die lokale Abstammung der örtlichen Jugend offenbar nicht dabei hilft, besser deutsch zu sprechen als einige Neuköllner, um deren Fähigkeiten und Chancen ich mich gelegentlich in der Berliner U-Bahn sorge. Wir fuhren sehr betrübt nachhause und fragten uns, wie man mit solchen Menschen eine würdige Zivilgesellschaft aufbauen soll. Wahrscheinlich von Grund auf umerziehen, aber wie fängt man das an?

Inzwischen hat Hans zu Bedenken gegeben, dass weder die Zeiten noch die Menschen schlimmer geworden sind. Im Gegenteil, die Bewohner seines westdeutschen Dorfes brauchten in den Siebzigern nicht einmal Alkohol, um brutale Gewalttaten zu begehen. Auch ich muss mich, wenn ich ehrlich bin, an wüste Schlägereien zwischen Nazis und ihren Gegnern auf den Jugend- und Schützenfesten meines westdeutschen Heimatortes erinnern. Doch das mag zwar die Situation in Ostdeutschland und die heutige Zeit in Perspektive zu setzen, ein rechter Trost ist es nicht. Ich versuche mich lieber damit zu trösten, das die Berliner geholfen hätten - jeder einzelne, ganz bestimmt.

Williamsburg und Heimweh

Email aus New York, Januar 2001


Heute schreibe ich Euch als stolze Besitzerin einer neuen Wohnung, eines neuen Mitbewohners und eines neuen Haarschnitts. Wie Ihr Euch denken könnt, ist in der letzte Woche mal wieder eine Menge passiert...

Mein Freund Frank, der Friseur aus Hell's Kitchen, mußte für seine Ausbildung ein Modell frisieren. Dafür hatte er mich auserkoren. Da Frank, Arnold und ihre Freunde mich in der Tenth Avenue Lounge immer wie eine Prinzessin behandeln, mir jeden Drink spendieren, mich zu dritt nach Hause begleiten, und Frank dabei ununterbrochen durch meine Haare fährt und exaltiert ruft "you're beaueaueaueautiful", kann ich dem Mann keine Bitte abschlagen. Bin schließlich auch nur eine Frau. So trug es sich also zu, daß ich vergangene Woche im Uptown Vidal Sassoon Salon in der Fifth Avenue über einen mit schwarzer Plane auf den Boden geklebten Laufsteg stolzierte, und posierte, als hieße ich Claudia Schiffer und hätte noch nie in meinem Leben etwas anderes getan. Dabei fällt mir übrigens ein, daß wir heute noch über Curzio lachen muß, der Frank einmal fragte, ob man bei Vidal Sassoon auch etwas essen kann, weil der sich kurz zuvor beklagt hatte, daß er den ganzen Tag bedienen muß (was ich natürlich nicht dazu sage ist, daß Tim mir mal kurz hintereinander erst von Küchenschwämmchen und dann von der Hilfinger-Etage im Macy's erzählte, woraufhin ich - leider laut - schloß, daß Hilfinger Küchengeräte herstellt).

Aber der Teufel liegt im Detail, und mit unseren Verhandlungen, wie genau der neue Haarschnitt auszusehen habe, unterhielten wir den ganzen Salon. Ich muß dazu sagen, daß ich mich nach sieben friseurlosen Monaten inzwischen langer, wallender Locken erfreue, die ich auf keinen Fall hergeben wollte. Wir konnten uns schließlich darauf einigen, daß Frank zumindest mein Gesicht freilegen durfte. Aber die anderen Friseure machten sich während der gesamten Prozedur einen Spaß daraus, sich neben uns zu stellen, die Hände überm Kopf zusammenzuschlagen und zu rufen "oh Gott, Du hast ihr eine Glatze geschnitten!".

Noch zäher waren meine Verhandlungen mit Roberto, dem Koloristen aus Chile, der mich blond färben wollte. Aber Bernd und Nina haben mir blond verboten, und außerdem will ich nicht alle zwei Wochen Haaransätze nachfärben müssen. In unseren Streit mußte sich schließlich der Chefkolorist einschalten, der sich zum Glück auf meine Seite schlug und befand, daß es eine rote auswaschbare Biofarbe auch täte. Trotzdem versuchte mich Roberto damit zu schockieren, daß er zum Abschied "I see you on Wednesday for blond highlights" rief. Daß er dann meine Stirn gleich ein bißchen mitfärbte, entschuldigte er damit, ich hätte ihn so gehetzt.

Nach der Friseursoirée lud ich Frank noch zu einem Drink ein, denn ich bin mehr als zufrieden mit den Ergebnis. Dann holte ich meine Taschen bei Yvonne ab, und fuhr nach Williamsburg, wo ich eine Stunde später auch Lucas in Empfang nehmen konnte, der gerade vom Kellnern zurückkam. Wir tranken einen Begrüßungsmuckefuck zusammen, er zeigte mir alle Fotos von seinen Freunden aus Buenos Aires und lud mich nach Argentinien ein. Ich fand es weniger beruhigend, daß er uns als zwei Marineros ohne Capitan bezeichnete - anscheinend weiß er ohne Luli noch nicht einmal, wo er in Williamsburg waschen gehen muß. Aber nachdem ich Vladimir und die Maus abgewickelt habe, zähle ich den Umgang mit gutaussehenden, aber hilflosen südländischen Mitbewohnern zu meinen angenehmeren Aufgaben.

Lucas ist sehr herzlich und rücksichtsvoll, und außerdem hat er einen gesegneten Schlaf. Das ist sehr wichtig, denn er lebt nachts während ich tagsüber lebe. Wenn wir uns nicht zufällig nachts um zwei zum Muckefuck trinken treffen, dann sehe ich ihn nur morgens, wenn er auf dem Sofa knackt, während ich mein Müsli esse. Trotzdem ist die Wohnung in Williamsburg ein Fortschritt gegenüber Hell's Kitchen, denn wir haben ein separates Bad und eine Tür zwischen seinem und meinem Zimmer. Das Bad ist gleichzeitig unsere Telefonzelle. Wenn Lucas von der Arbeit nachhause kommt und ich schon schlafe, nimmt er seine Schokolade und seine Zigaretten und setzt sich eine Stunde lang auf den Toilettendeckel, um mit seinem Bruder in Buenos Aires zu telefonieren.

Damit ich mich auch zuhause fühlen kann, will er mir ein bißchen Platz auf der Kühlschranktür machen, wo alle "fotos de carino" hängen. Dies bringt mich ein bißchen in Zugzwang, denn die Argentinier haben augenscheinlich ein vollkommen anderes Verhältnis zu ihrem Körper. Luli posiert auf jedem Foto mit einer anderen Haarfarbe, im Bustier mit ihren Freundinnen oder tauscht wildgeschminkt, mit hochtopierten Haaren getürkte Zungenküsse mit einer anderen glutäugigen Schönheit. Auf dem Toaster klebt ein Oben-Ohne-Foto ihrer Schwester - neckischerweise sind die Brustwarzen mit bunten Sternen abgeklebt. Carina hat mir Fotos von den Hamburgern mitgegeben aber dummerweise seid Ihr darauf alle angezogen, und ich habe Angst, daß die Argentinier dann glauben, ich hätte Euch nicht lieb. Könnt Ihr mir nicht alle noch einmal ein Nacktfoto schicken?

Aber Foto hin oder her, ich habe gerade mörderisches Heimweh! Ich will morgen gar nicht zur chinesischen Neujahrsparade, ich will zu Carina zum Frühstücken gehen, und mich nicht von meinem Stuhl erheben, bis Bernd abends um zehn zum Koreaner geht, um einen Imbiß zu holen, und danach eine von seinen guten Weinflaschen aufmacht. Ich will mit Nina am Sonntag im Alten Land Fahrrad fahren, und ich möchte emails von Ina bekommen, in denen steht, daß sie mit uns Kreischziegen mal wieder einen saufen gehen möchte. Ich will, daß Susanne auf dem Kiez eine Flasche Sekt ausgibt und dann die Zeche prellt, und ich möchte neben Stefan in der Abendmensa sitzen, wenn er seinen Kaffee trinkt, ohne auch nur Anstalten zu machen, die Hand zur Tasse zu führen. Ich möchte, daß Uta eine Stunde zu früh mit ihrem halben Hausstand zu meiner Party kommt, und schon mal die Bierflaschen in die Dusche stellt, weil ich es alleine mal wieder nicht hinbekomme, und Maik soll fünf Tage lang unentschuldigt von der Arbeit fehlen, weil die Herzensangelegenheiten, die er in Spanien zu regeln hatte, zu dringlich waren, um nun auch noch den Chef über den Grund seiner Abwesenheit zu unterrichten. Birgit soll mit ihrem Peugeot-Lieferwagen und eigenem Bettzeug in Eimsbüttel für eine Nacht aufkreuzen, bevor sie zu Oma nach Husum fährt, und ich will rote Soße bei Peter essen und mit Mark nach der Arbeit einen schnappen gehen. Meine Eltern sollen mich auf eine Finkenwerder Kutterscholle mit Speck nach Teufelsbrück einladen, nachdem wir uns so lange gestritten haben, ob wir lieber in der Lüneburger Heide oder an der Alster spazieren gehen wollen, bis es Zeit ist, wieder nach Springe zu fahren. Nicola soll mir im Solo haarsträubende Geschichten von ihrer Kollegin Schlatter erzählen und sonnabends will ich mit Kiki und Oliver in der Schanze frühstücken gehen, aber die Torfköpfe sind ja nach Frankfurt gezogen... Danach will ich mit Nick im Karoviertel Kuchen mit Astra essen.

In meinem Schmerz ging ich gestern noch in meiner neuen Puschenkneipe auf ein Bierchen, und da New York bekanntlich klein ist, traf ich dort per Zufall Yvonne und deren Freundin Sabine, eine Grafikdesignerin aus Winterhude, die auf unbestimmte Zeit in New York arbeitet. Sie hat die letzten beiden Tage nur geheult, weil sie so ein Heimweh hat. Erst fühlte ich mich verstanden, aber dann fragte ich mich, wie man als Osthamburgerin Heimweh bekommen kann. Nina?

Wahrscheinlich weil man es nicht besser kennt ...


Mittwoch, 30. Juli 2008

Die ersten Wochen in Paris

Email aus Springe, Dezember 2002


Eigentlich steckt der Brasilienreisebericht an allererster Stelle in der Pipeline und harrt verdrängt durch Wohnungssuchhektik und Eingewöhnung in Paris seit Wochen vergeblich seiner Bearbeitung. Das soll nicht ewig währen. Da dieser Bericht jedoch aufgrund zahlreicher, haarsträubender Abenteuer ein größeres Unterfangen darstellt, will ich mich an dieser Stelle auf das wichtigste Ereignis der Reise beschränken, und danach dem neuesten Stand der Dinge in Paris den Vorrang geben.

Zwar sah es bei unserem Piranha-Fangwettbewerb im Amazonas einen quälend langen und zudem brütend heißen Tag lang so aus, als würde Susi mit einer beeindruckenden Bilanz von 13 zu einem Piranha als strahlende Siegerin daraus hervorgehen, doch konnte ich bei Sonnenuntergang das Ruder mit einem Überraschungscoup in letzter Sekunde noch einmal herumreißen. Ich fing mit einem von Susis mickrigen Piranhas eine riesige Meerkatze, und entlarvte dadurch ihren mit immer deutlicher artikuliertem Triumph aus dem Amazonas gezogene Beute als schlichtes Vorleistungsgut. Ich will nicht näher darauf eingehen, daß Sami, unser Indio-Führer, meinen Fang durch das Erhaschen eines Babyalligators mit bloßen Händen noch am selben Abend etwas relativieren sollte. Das eine oder andere Urlaubserlebnis stellt sich sehr unterschiedlich dar, je nachdem ob Susi es schildert oder ich.

Abgesehen jedoch von kleinen Rivalitäten, waren wir beim Erklimmen des Zuckerhutes wie beim Sambatanzen in den Straßen von Bahia, beim Sonnenbaden an den Traumstränden der Insel Itaparica wie beim Bewundern von Schmetterlingen an den Wasserfällen von Foz do Iguazu, ein Herz und eine Seele. Und das obwohl
es mir in alter portugiesischer Tradition gelungen ist, Susi erneut hinterlistig in die Stockfischfalle zu locken, und ich zudem heimlich schicke Schläppchen im Gepäck hatte, während Susi sich darauf verließ, dass
meine Parole gelte, wir wollten uns auf die bequemen aber unschön anzusehenden Touristensandalen beschränken.

Einmal nach Deutschland zurückgekehrt, musste ich mich umgehend in den schwierigen Pariser Wohnungsmarkt stürzen. Gestählt von meinen Abenteuern mit portugiesischen Herzensbrechern im Großstadtdschungel von Rio de Janeiro und Vogelspinnen im Regenwald gelang mir dies mit derart großer Unerschrockenheit, dass sich auch gestandene Franzosen schwer beeindruckt von meiner zupackenden Art und meinem Durchsetzungsvermögen zeigten. Nun gut, die konnten natürlich auch nicht wissen, dass mich die ukrainischen Onkel durchtriebener georgischer Medizinstudentinnen, die Mäuse und die brutalen Hausmeister von Hell’s Kitchen, wie auch die Wasserkäfer von Williamsburg für alle Zeiten abgehärtet haben. Wer über den Pariser Wohnungsmarkt klagt,
dessen Preise kaum ein Drittel von denen in Manhattan erreichen, und wo niemand auf die Idee käme, eine Einzimmerwohnung mit der Hilfe von Vorhängen in eine gemütliche Vierer-WG zu verwandeln, für den habe ich nur ein müdes Lächeln übrig.

Jedenfalls habe ich mit meiner erfolgreichen Wohnungssuche in nur zwei Wochen sämtliche Kusinen meiner französischen Bekannten ausgestochen, die drei Monate suchen mussten. Außerdem bin ich nach dem
Notieren von etwa 300 Telefon- und Hausnummern wieder richtig stark im Kopfrechnen. Für alte Lateiner, die Franzosen sagen aus nicht nachvollziehbaren Gründen vier mal zwanzig plus siebzehn, wenn sie 97
meinen.

Als eher nachteilig erwies sich, dass das französische Mietrecht - kaum zu glauben aber wahr - noch mieterfreundlicher ist als das deutsche. Genauer ist es ein Paradefall für ein Regelwerk, das im Bemühen um Schutz für den vermeintlich Schwächeren genau das Gegenteil erreicht. Ein wahrer Leckerbissen für die ehemaligen Kollegen vom Recht und Ökonomik Kolleg in Hamburg. Um einen zahlungsunwilligen oder -fähigen Mieter aus der Wohnung zu entfernen braucht man in Frankreich im Schnitt sage und schreibe zweieinhalb Jahre.
Dies führt dazu, dass ein nicht unerheblicher Teil der Pariser Wohnungen unvermietet leer stehen. Der wagemutigere Teil der Pariser Wohnungseigentümer verlangt von seiner Vermietern, auch solchen, die stolzere Summen steuerfreien Lohneinkommens nachweisen können, absurd anmutende Sicherheiten, wie etwa eine Bankbürgschaft über eine Jahresmiete oder einen Elternteil als Bürgen, der seine Zahlungsfähigkeit wahlweise mit
Gehaltsabrechnungen oder mit Einkommenssteuererklärungen zu dokumentieren hat.

Dieses Ansinnen führte zu äußerst unschönen Szenen mit meinem Vater, dem sein Steuergeheimnis so heilig ist wie den Mitgliedern der National Rifle Association das amerikanische Grundrecht auf den Besitz und Gebrauch von Schusswaffen. Seinen vorläufigen Höhepunkt fand diese Affäre in einem heimlichen Anruf meiner Mutter, die mir beteuerte, von ihr könnte ich die Einkommenssteuererklärung haben, wenn nur der Vater nichts davon erführe. Der finale Höhepunkt bestand in einer kaum verhohlenen Kriegsandrohung an
Frankreich, die ich an dieser Stelle nicht im Wortlaut wiedergeben möchte. Im Ergebnis konnte ich mir jedoch die Bürgschaft mitsamt Einkommenssteuerklärung und damit auch eine vor langer Zeit etwas gewagt gestrichene Wohnung im Pariser Szene-Viertel Bastille ertrotzen. Besonders in dem türkischen Haushaltsgeräte-Basar um die Ecke erfreue ich mich als entfernte Kusine größter Beliebtheit und werde bei jedem Besuch zu einem Kaffee genötigt, damit mir der Händler und seine Freunde in aller Ruhe erzählen können, wo überall in Deutschland ihre Verwandten zu Hause sind.

Die ebenso finsteren wie einmütigen Kassandrarufe von franzosenhassenden Amerikanern und Italienern in New York und von in Paris lebenden Ausländern, dass Franzosen arrogante, unhöfliche und verschlossene Leute seien, mit denen man unmöglich Freundschaft schließen könne, sollten sich als ebenso haltlos erweisen wie im Ausland weitverbreitete Vorurteile gegenüber Deutschen. Gewiss geben einem Franzosen, mit denen man sich beiläufig an der Bushaltestelle oder in einer Bar unterhält, nicht gleich ihre Telefonnummer. Noch gewichtiger ist, man lernt sie schlicht nicht so schnell kennen, wie die wesentlich leutseligeren Angelsachsen. Aber das sind wir schließlich von zu Hause gewöhnt. Und das Schöne an ihnen ist, dass sich ihre Kommunikationscodes so ähnlich lesen wie unsere. Will sagen, wenn sie einem doch ihre Telefonnummer geben, dann möchten sie tatsächlich, dass man sich wiedertrifft.

Außerdem sind sie ein anderes, jedoch freundlicheres Vorurteil bestätigend unheimlich culturel. Mit Elise war ich in einer Ausstellung über tschechische Technologiekunst, nachdem wir uns den neuesten Kaurismäki-Film angesehen hatten. Sonntag waren wir mit ihren Freundinnen in einer Ausstellung von einem verrückt gewordenem amerikanischen Künstler, der Skulpturen aus gefrorener Vaseline bastelt, Kartoffeln auf dem Fußboden
verteilt und ein weißgetünchtes Monster mit blutiger Schnauze dabei filmt, wie es eine Prinzessin mit entblößtem Po jagt, deren Unterschenkel aus Glas sind. Das Schöne an solcherart moderner Kunst ist, dass es stets starke
Reaktionen bei Teilen des Publikums hervorruft. Man kann sich darauf verlassen, auf einen empörten Ehemann zu stoßen, der seine Frau wütend anpfeift, dass ihm dies alles rein gar nichts sagen würde und er nicht
wisse, warum er hier seine kostbare Zeit verschwenden solle, während sie ihn anfleht, die Stimme zu senken, weil das alles doch nun wirklich nur eine Frage der Ästhetik sei.

Danach lernten wir im Museumscafé zwei russische Maler kennen, die sich als sehr tolerant erweisen sollten. Meine wahrheitsgemäße Antwort auf ihre Frage nach meinem Beruf - dies nachdem sich alle anderen Frauen als
Buchbinderinnen, Grafikerinnen und Genetikerinnen vorgestellt hatten - taten sie mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Das sei nicht weiter schlimm, das käme in den vornehmsten Familien vor.

Französischen Männern darf man nur grundsätzlich dann trauen, wenn sie in Kultur machen wollen. Also ging ich statt dessen lieber mit Régis in die Max-Beckmann-Ausstellung im Centre Pompidou. Statt Alkoholkonsums schlug er mir danach "Paris by Night" vor. Dieser außergewöhnliche Programmpunkt bestand daraus, dass er mich mit seinem Auto zu den schönsten Plätzen von Paris kutschierte und mir erklärte, dass auf dem Dach der Pariser Oper Bienenstöcke zu Hause sind. Außerdem besuchten wir das Pariser Ritz und eine weiteres Edelhotel, dessen Name mir entfallen ist. Schicke Hotels zu besuchen ist Régis‘ Leidenschaft. Wenn man so gute Nerven hat wie er und herannahenden Kellnern im Livrée lässig bedeutet, man habe sich noch nicht entschieden, während man auf Polstermöbeln aus der Zeit von Ludwig dem Vierzehnten thront und dabei Einbände aus der hoteleigenen Bibliothek durchblättert, dann ist das tatsächlich auch ein großer Spaß.

Im allgemeinen scheint mir das Bemühen um Bekanntschaft mit dem anderen Geschlecht ein nationaler Sport zu sein. Um dies zu erreichen, scheuen die Franzosen keine Mühen und kein Ort ist ihnen heilig. Mein bislang
spektakulärstes Erlebnis auf diesem Gebiet war der hühnenhafte Südfranzose, der mir im Louvre ins Ohr hauchte: „ C‘est magnifique, Botticelli!“. So geschickt er beim ersten Schritt war, so ungelenk zeigte er sich jedoch bei
der weiteren Verfolgung seines Annäherungsversuches. Anstatt eine gekonnte Mischung aus Abstand und Beharrlichkeit zu zeigen, stellte er sich penetrant bei jedem Bild direkt hinter mich, und offenbarte mir intime Details ausseinem Leben. Und so sah ich mich trotz seines angenehmen Äußeren gezwungen, durch geschicktes und unerwartetes Hakenschlagen in den Saal mit der sienesischen Schule, unserer Beziehung bereits nach fünf Minuten ein jähes Ende zu setzen. Jetzt warte ich als nächstes darauf, beim Gottesdienst angegraben werde, während ich gerade das Vaterunser bete.

Mein holländischer Chef hat trotz Vorweihnachtsstress und seines aufwendigen, mehrtätigen Treffens mit Vertretern der statistischen Ämter der Mitgliedsländer einen aufwendigen Plan ausgearbeitet, wie ich mich in den
kommenden Monaten auf Längsschnittfirmendaten stürzen soll, um Firmengründungen, Firmenwachstum und Firmensterben näher zu ergründen. Irgendwann habe ich den Fehler gemacht, dieses Forschungsgebiet als
„business dynamics“ zu bezeichnen, und jetzt bekomme ich regelmäßig Anrufe aus Springe, was es denn nun noch einmal mit dieser dynamischen Geschäftigkeit auf sich habe, mit der ich mich da beschäftigte. Die Nachbarn wollten wissen, was ich da denn nun genau mache in Paris.

Jedenfalls kann ich mir sicher sein, dass ich von meinem Chef fortan mit Samthandschuhen angefasst werde, nachdem sein Landsmann Mortein Schluppen bei einem unserer zahlreichen Weihnachtsessen nach
umfangreichen Konsum französischen Rotweins mit sonorer Stimme verkündete, dass sein Deutschenhass genetisch bedingt sei. Dieser Ausfall war meinem Chef so peinlich, dass er danach in mein Büro kam, um sich wortreich bei mir zu entschuldigen, und das obwohl er ansonsten ein wortkarger friesischer Bär ist, der höchstens mal den Kopf zur Tür hereinsteckt, um zu fragen „so far, so good?“. Aber ich fand, ich hätte mich selbst ganz gut verteidigt, indem ich den Holländer fragte, wie es den Holländern denn eigentlich bei der letzten Weltmeisterschaft ergangen sei, ich könnte mich gar nicht mehr an ihr Abschneiden erinnern.

Dem Engländer, der den 1. September 2001 als den schönsten Tag in seinem Leben bezeichnete, bestätigte ich, dass es gut tun müsse, alle dreißig Jahre mal ein Spiel gegen die Deutschen zu gewinnen. Nur schade, dass dies bei wichtigen Spielen meist auf Fehlentscheidungen der Schiedsrichter beruhe, und echte Triumphe sich nur bei unbedeutenden Qualifikationsspielen einstellen wollen, während man hinterher dann anders als die Deutschen das Endspiel nicht erreicht. Das Fliegen von Fäusten konnte ich dann doch noch einmal verhindern, indem ich davon Abstand nahm, an verschiedene Elfmeterduelle zu erinnern, und statt dessen auf den Sonntagsmarkt am Place de la Bastille zu sprechen kam. Beim Sinnieren über die ideale Zubereitung einer Rascasse konnten Corey und ich dann wieder zueinander finden. Fußballrivalitäten sind im Prinzip sehr gesund, aber man darf es nicht zu weit treiben.


Alles in Butter

Email aus New York, Januar 2001

Seit ich Lulis Schlüssel habe, ist wieder ein bißchen Ruhe an der Wohnungsfront eingekehrt, und ich kann mich mit verstärkter Kraft der Forschung und meinem straffen Kulturprogramm widmen. Am Donnerstag besuchte ich ein Theaterstück in jiddischer Sprache. Während der ersten 15 Minuten fragte ich mich immer verzweifelt, warum Yvonne so blöd lacht - ich verstand kein Wort. Aber nachdem ich mich ein bißchen eingewöhnt hatte, fiel mir auf, daß Schweizerdeutsch wesentlich schwieriger zu verstehen ist, und mittlerweile fühle ich mich so, als spräche ich die Sprache selbst.

Vladis Scheck war wider Erwarten gedeckt, und Curzio und ich wollen auf diesen Schreck demnächst eine Riesenparty schmeißen. Ganz im Unterschied zu mir, die ich wie ein Eichhörnchen in der Trommel gearbeitet habe, um eine neue Wohnung zu finden, ist Curzio bereits umgezogen. Eine nette, junge Japanerin hat sich seiner angenommen und ihm innerhalb von einem Tag ein Zimmer in einem Künstlerloft am Southstreet Seaport mit vier Japanern zusammen besorgt. Ich werde das Gefühl nicht los, daß die, die sich nie um irgendetwas kümmern, immer besser dabei wegkommen. Er beharrt auch darauf, daß dieser Freundschaftsdienst umsonst war.

Hell's Kitchen muß ich zum Glück nicht ganz aufgeben, da ich mich in letzter Sekunde noch mit Sean und Theo angefreundet habe, die in meiner alten Heimat wohnen. Sean ist Designer, Theo ist IT-Mann und kennengelernt haben sich die beiden beim Malunterricht. Sie gehören zu dieser Gruppe von Bohemien-Ostküstenamerikanern, die alle mindestens schon mal zwei Jahre lang in Prag gelebt haben und in jedem zweiten europäischen Land mit einer Frau liiert waren. Von den beiden habe ich bereits eine Menge über deutsche Kunst gelernt.


Trotzdem war ich froh, daß sie bei meinem Abschiedsspätzleessen verhindert waren - mir ist der Albtraum einer jeden Hausfrau widerfahren: Sechs hungrige Münder diskutierten im Wohnzimmer Rassismus, und ich war nicht in der Lage, den Teig so anzurühren, daß auch nur ein einziges Spätzle entstand. Nur Hartmuts geduldiger Assistenz habe ich es zu verdanken, daß ich meine Gäste noch mit einem Plan B Abendessen notdürftig satt bekam.

Conrad Filippi will mich allerdings nun nicht mehr heiraten, seit er dieses Trauerspiel gesehen hat. Ich hoffe, ich habe heute abend ein glücklicheres Händchen. Zu Federico soll jeder ein Gericht aus der Heimat mitbringen. Mit einer Roten Grütze will ich nun versuchen, energisch gegen italienische Pasta-Gerichte und mexikanische Vorspeisen anzukämpfen.

N. ordnete übrigens neulich beim Mittagessen an, daß die Deutschen sich endlich mal von ihren Zweite-Weltkriegsschuldkomplexen freimachen, die Franzosen in Schach halten, die Russen wachküssen und so eine ernstzunehmende Konkurrenz für die USA werden sollen. Na dann mal los! Mein täglicher Blick in die deutsche Online-Presse sagt mir, daß wir uns von dieser Aufgabe vor allem durch die verschiedenen Vaterschaften eines bekannten deutschen Tennisspielers ablenken lassen...


Dienstag, 8. Juli 2008

Super-Geschäftsfrauen

Email aus New York, Januar 2001

Heute ist Martin Luther King Day und somit ist es nicht ganz politically correct zu arbeiten, aber ich habe mich trotzdem heimlich ins Büro geschlichen. Ich übernachte zur Zeit bei einer Freundin, die fünf Minuten von der Uni entfernt wohnt. Auf die Art und Weise vermag ich mich der magischen Anziehungskraft meines Schreibtisches nicht zu entziehen.
Die Wohnung haben wir an Onkel Vladimir übergeben, und neben dem Scheck über den Großteil der letzten Monatsmiete, den ich mir mit gepfefferte Emails erkämpft hatte, fingen wir uns zusätzlich noch Küsse, Umarmungen und Unschuldsbeteuerungen von Vladi und Marina ein.
Das vorletzte Wochenende war noch sehr interessant. Am Sonnabend kochten Helena und Hans Kartoffelauflauf für mich, um mich über meine brenzlige Situation hinwegzutrösten, was ich gleich zum Anlaß nahm, ihren Freund Jonathan die halbe Nacht quer durchs East Village zu schleppen, um eine meiner berühmt-berüchtigten Geburtstagsfeiern mit den lesbischen Damen aus Israel zu feiern. Das ganze geschah etwas in Verkennung der Tatsache, daß Jonathan die Nacht zuvor bis sechs Uhr gearbeitet hatte und auch den nächsten Tag im Büro verbringen mußte. Aber was uns nicht tötet, macht hart. Jedenfalls war ich die Heldin des Abends mit meiner kombinierten Mäuse-und-Wohnungs-Geschichte und in meinem ganzen Elend habe ich das doch sehr genossen. Sonntags leitete ich dann einen Telefonmarathon ein und lernte dabei allerhand interessante Menschen kennen.
Zuerst war ich bei Amanda im East-Village. Sie lebt in einer Drei-Zimmerwohnung mit einer beeindruckenden Ansammlung an Kitsch. Ein Zimmer hatte sie bereits an einen jungen Studenten vermietet. Mich wollte sie in ihrem Schlafzimmer unterbringen, um dann selbst im Wohnzimmer auf der Couch zu schlafen. Davon wußte der junge Mann zwar nichts, aber es sei ja ihre Wohnung meinte sie. Das ganze sollte dann auch nur 1000$ im Monat kosten.
Als wir uns mit den Terminen (und im übrigen auch sonst) nicht einigen konnten, rief sie ihren Freund Gianni an. Der ist ein italienischer Filmproduzent und lebt in der Upper East Side. Zur Zeit scheinen seine Geschäfte nicht so gut zu laufen. Er wollte mir ebenfalls sein Schlafzimmer für 1000$ vermieten und sich selbst auf eine Luftmatratze in den Gang legen. Ein zweites Zimmer hat er nicht, und einen Herd schon gar nicht. Amanda hatte mich noch eindringlich gewarnt, mich nicht in ihn zu verlieben. Er sei "extremely good-looking" und ein wahrer "womanizer". Auch diesbezüglich fand ich ihn jedoch eher enttäuschend.
Abends gelang es mir endlich Luli zu erreichen, die in Williamsburg, Brooklyn's neuem Künstlerviertel, ein WG-Zimmer vermietet, während sie für zwei Monate in ihre Heimat fährt. Sowohl das äußere Erscheinungsbild der Wohnung als auch das ihres Mitbewohners und Schulfreundes, Lucas, veranlaßten mich dazu, bei dieser Wohnung sofort zuzuschlagen. Moni, Daniela und Tim wird freuen zu hören, daß die Wohnung DIREKT neben dem "Fernicola" ist, wo wir Sylvester gefeiert haben. Mit anderen Worten, ich habe von meinem Schlafzimmer aus einen Blick auf die Skyline von Manhattan und kann jeden Abend Hummer und Austern essen.
Luli ist aus Buenos Aires, und lernt in New York Singen und Hip-Hop-Tanzen, denn sie möchte ein Popstar werden. Das will ihrer Mutter nicht so recht passen, denn sie hat eine Damenbekleidungskette in Argentinien, und möchte daß Luli so wie ihre Schwester mit in dem mütterlichen Unternehmen arbeitet. Das will Luli wiederum nicht, denn sie macht nicht gerne Geschäfte.
Wir verstehen uns wunderbar. Besonders als wir uns das zweite Mal trafen, um einen kleinen Untermietvertrag aufzusetzen, arbeiteten wir sämtliche Details unseres Lebens gemeinsam auf. Diese ganze Untermietsvertragssache und die Anzahlung meinerseits war eine Idee von Lucas, damit die beiden sichergehen können, daß ich auch wirklich bei ihnen einziehe. Luli zeigte mir beim Hereinkommen den handschriftlichen Mietvertrag, ich war sofort einverstanden, dann haben wir uns ein bis zwei Stunden zum Quasseln hingesetzt, und waren uns einig, daß wir ganz großes Glück hatten, uns gefunden zu haben. Am Ende schrieb ich ihr ein Scheck und sie mir eine Quittung, auf der allerdings nicht steht, wofür ich ihr 200$ gezahlt habe. Luli war dann mächtig stolz, meinte, sie fühlte sich jetzt wie eine wahre Geschäftsfrau und müsse das sofort ihrer Mama erzählen.
Ich hoffe sie hat damit noch ein bißchen gewartet, denn auf dem Weg zur U-Bahn fiel mir auf, daß keine von uns den Vertrag unterschrieben hatte. Wie auch immer, wenn dennoch alles gut geht, und ich am 24. nach Brooklyn ziehe, ist meine Miete gesunken, die Qualität meiner Wohnung ERHEBlich gestiegen und mein Mitbewohner noch schöner geworden.
Curzio rührt wie immer keinen Finger, ist jetzt aber erst einmal bei seiner Tessin-Mafia eingezogen, und weckt allerorten Mutterinstinkte. Am Sonnabend traf ich ihn zufällig am Southstreet Seaport, im Schlepptau einer netten Japanerin, die ihm augenscheinlich die Wohnungssuche organisiert. Es tut uns beiden sehr leid, Hell's Kitchen zu verlassen, aber wir haben uns geschworen, regelmäßig bei Salvatore Pizza zu essen und bei Rudy's Bier zu trinken.
Das größte Opfer unseres Umzugs wäre beinahe unser alter Freund und Gerzenseekollege Conrad Filippi geworden, der ausgerechnet am Wochenende unserer Expulsion Vorstellungsgespräche in New York hatte, und eigentlich am Sonnabend gerne vom Marriott zu uns umgezogen wäre. Nachdem wir Freitag die ganze Nacht Swing getanzt hatten, ordnete ich an, daß er uns am Sonnabend um halb eins in der Wohnung anrufen sollte, um die Nummer von Jeanette zu erfahren. Leider hatte ich halb zwei gemeint, und als er um halb eins anrief, war natürlich keiner von uns da. Ich meinte schon, ihn nie wiederzusehen, aber Manhattan ist ja klein, und so traf ich ihn dann abends doch noch per Zufall wieder, als er seine Koffer im Hotel abholen wollte, so daß wir noch den einen oder anderen Drink im East Village zu uns nehmen konnten.
Wenn das alles kein Glück im Unglück ist...

Samstag, 3. Mai 2008

Mäusejägerin

Email aus New York, Weihnachten 2000

Ok, erst einmal alle guten Nachrichten ... dann die schlechten...

Weihnachten mit Ira war grandios. Ein paar Leser (sie selbst eingeschlossen) haben die Nachrichten über ihre Ordnungsliebe in den falschen Hals bekommen. Wir haben uns prächtig verstanden, uns jedoch auch gerne mal den einen oder anderen Scherz über ihre "Elsenattacke" erlaubt und darüber, daß während ihres Aufenthaltes jedes Möbelstück kurzfristig zum Schminktisch umfunktioniert war. Never mind, die Schminkerei hat sich hundertprozentig ausgezahlt. Auf unseren nächtlichen Streiftouren durch die City erfreuten wir bei den Herren stets größter Beliebtheit. Bei unserem Salsa-Abend erreichte dies derartige Ausmaße, daß wir beide nunmehr unter dicken Starallüren leiden: Zwei aus der Heerschar der zwanzigjährigen Lateinamerikaner, die sich den ganzen Abend darum gerissen hatten, uns von ihrem letzten Taschengeld Drinks auszugeben, mit uns zu tanzen und einiges mehr (wir sahen uns leider außerstande, alle Wünsche zu erfüllen), liefen in einem verzweifelten Versuch, uns nicht aus den Augen zu verlieren, noch etliche Meter hinter unserem Taxi her... Wenn Ira jetzt manchmal mit Stola in die Uni kommt und ein wenig übertrieben die Hüften wiegt, wenn sie in die Mensa geht, dürft Ihr Euch nicht wundern. Ich überrasche hier meine Kollegen mit ähnlichem Verhalten.

Weihnachten haben wir meinen Kollegen Federico und Dan bekocht, deren deutsche Freundinnen in der Heimat weilten. Federico wollte unbedingt nach dem Essen in die Zwölf-Uhr-Messe gehen. Durchgesetzt hat sich statt dessen Iras Marschbefehl: "I think we should go to a bar and get hammered." Also sind wir zu "Rudy's" gegangen, meiner Stammkneipe um die Ecke, wo mich der Türsteher inzwischen schon mit Handschlag begrüßt. Es ist eine finstere, irisch anmutende Spelunke mit einer grandiosen Jukebox. Einmal waren Sybille und ich so glücklich über die Musik, die wir ausgewählt hatten, daß wir ein bißchen anfingen zu tanzen. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie schnell der Capo auf dem Plan stand und aufgeregt rief: " You guys can't dance here, I don't have a dancing license..." Erst dachten wir, daß sei der beste Witz, den wir sind langem gehört hatten. Später fanden wir heraus, daß Rudy (Giuliani meine ich) "Rudy's" tatsächlich $5000 abknöpfen würde, ließe er zu, daß seine Gäste unerlaubt tanzen. Zero tolerance ist eben zero tolerance. Seither vollführe ich beim Verlassen der Bar auf der Türschwelle immer ein, zwei provokative Tanzschritte. Rudy von "Rudy's" und ich sehen das beide als dies die richtige Antwort auf eine übertrieben konservative Politik an.

Heiligabend ließ Rudy von "Rudy's" aber mal alle fünfe gerade sein und schritt nicht ein, als ich mit unserem netten, indischen Statistikprofessor, den wir in der Bar wiedergetroffen hatten, nachts um drei noch eine flotte Sohle aufs Parkett legte. Der Inder war leicht euphorisiert, da er kurz zuvor mit Ira den Pascalschen Gottesbeweis diskutiert hatte, und festellen durfte, daß sie auch leicht "hammered" zu jeder Tages- und Nachtzeit anstandslos jedes noch so komplizierte mathematische Thema bewältigen kann. Sie ist jetzt Bramahnin...

Sylvester war ebenfalls ein Erfolg. Tino und Miriam kamen aus Freiburg, Moni und Daniel aus den verschiedensten Ecken der Vereinigten Staaten eigens zum Jahrtausendwechsel hier angereist. Während die Touristen alle bei minus zehn Grad am Times Square dem Kältetod ins Auge blickten, sind wir schön nach Brooklyn gegangen, in ein Restaurant mit Blick auf die Skyline, Hummer, Muscheln, Filet Mignon und dergleichen mehr, alle Getränke und die Band inklusive zu einem Spottpreis, jedenfalls für New Yorker Verhältnisse. Wir hatten ein ganzes Dutzend attraktiver Inderinnen dabei, die merklich zur guten Stimmung beitrugen. Das Tanzen hat mir so gut gefallen, daß ich mich auf einen Disput mit dem Bandleader einließ, als dieser um drei Uhr die Arbeit mit der Begründung niederlegen wollte, er sei nicht länger bezahlt. Die Auseinandersetzung endete damit, daß ihm wiederholt mit wachsender Heftigkeit vorhielt, so ein frühes Sylvesterende sei in Hamburg undenkbar, woraufhin er schließlich eine dreckige Serviette nach mir warf und in die Küche verschwand. Am nächsten Tag gestand mir Miriam, sie habe sich mit Hinweis auf meinen Alkholkonsum bei ihm entschuldigt. Erst da fiel mir ein, daß ich mich vielleicht besser mit dem Restaurantbesitzer hätte streiten sollen. Ich wußte aber nicht, wo der war.

Am 31. pünktlich erhielt ich die Nachricht von Nino, meiner Vermieterin, die zur Zeit in Bulgarien ihr Medizinstudium vorantreibt, daß der Vermieter von der illegalen Untermiete Kenntnis genommen habe, und eine Auflösung des Mietverhältnisses fordert. Und das, obwohl ich doch jedem erzählt hatte, ich sei die Nichte von Vladmir, Nino's Onkel. Offenbar gehen Curzio und ich doch nicht so ohne weiteres als Georgier durch.

Seither ist es mit meiner Wohnsituation steil bergab gegangen. Die Mieterin unter mir hört jede Nacht dermaßen laut Musik, daß ich vorgestern kurz davor war, zu Tino und Miriam in die Besucherritze zu steigen. Habe mich dann aber doch für das Sofa neben den beiden entschieden. Höhepunkt war heute nacht. Als die Nachbarin mich wie üblich um drei Uhr früh weckte, nachdem sie von der Arbeit nach Hause kam, mußte ich bei meinem ergebenen Gang zur Toilette feststellen, daß dorten eine Maus ihr Unwesen trieb. Neulich habe ich mich ja noch über Frank und Arnold lustig gemacht. Heute nacht hättet ihr mich mal sehen sollen, wie ich mit heruntergelassener Hose und einem spitzen Schrei wie ein Pfeil von der Toilette schoß.

Nachdem der erste Schrecken vorüber war, mauserte ich mich dann aber doch zur Heldin, zog meine Moonboots an und drang zu allem entschlossen mit einer Bratpfanne bewaffnet in die Toilette ein. Die Maus schoß so wild in durch die Gegend, daß sie wahrscheinlich ohnehin ein Fall für den Psychiater gewesen wäre, hätte sie unseren Kampf um das Territorium überlebt. Hat sie aber nicht. Nach diesem traumatischen Erlebnis mußte ich auch noch feststellen, daß sich direkt neben meiner Luftmatratze ein Mauseloch befindet. Dieses stopfte ich vorerst mit dem Schaumstoff zu, mit dem ich neulich unsere Fenster isoliert hatte, denn niemand braucht zu glauben, daß man in dem entwickelsten Land dieser Erde standardmäßig zweifachverglaste isolierte Fenster in den Wohnungen vorfindet. Im Winter muß man eigenhändig alle Löcher stopfen und Planen vor die Fenster kleben, um nicht zu erfrieren.

Nachdem ich bis um sechs Uhr vor Aufregung über meine Heldentat nicht einschlafen konnte, kam um neun Uhr der Anruf von Nino, daß Onkel Vadimir bis zum 15. die Wohnung zu räumen habe. Und ob ihr's glaubt oder nicht, ich bin heilfroh. Curzio sitzt in der Schweiz und behauptet, er bekomme keinen Rückflug, aber mir ist jetzt alles egal. Irgendwo finde ich ein Zimmer, zur Not erlauben mir Frank und Arnold meine Luftmatratze bei ihnen aufzuschlagen. Sie freuen sich über Mädchenbesuch haben sie gesagt. Dann können wir immer zu dritt Mäuse jagen.
Mein Vater rief mich gerade an, um mir mitzuteilen, daß er mich im Saupark bei der Jägerprüfung angemeldet habe.

Am 30. war ein Artikel über das Mieterleben in New York City in der New York Times. Darin beschrieb die Autorin, wie sie als junge Studentin im East-Village illegal zur Untermiete lebte und der Vermieter immer an der Tür rüttelte und brüllte: " I know that Janice doesn't live here". Auch Mäusegeschichten kann einem hier jeder erzählen. Gerade sagt mir Helios, mein venezianischer Kollege, der sich immer noch ein bißchen darüber ärgert, daß er den Wettbewerb Wer-hat-mehr-Brücken-Venedig-oder-Hamburg verloren hat, er habe eine Maus im Büro, und das sei alles ganz harmlos.

Hatte ich schon erwähnt, daß ich keinen Wert darauf lege, jedes Abenteuer, daß es in New York zu erleben gibt, persönlich zu erleben? Wenn zur Zeit keine persönlichen emails kommen, verzeiht mir, ich bin auf Wohnungssuche..

Dienstag, 8. April 2008

Xmas @ NYC

Email aus New York Weihnachten 2000

Ira knackt noch in meiner Wohnung, in der sich seit ihrer Ankunft ein Schauspiel der Verwüstung bietet: Der Küchentisch ist zu einer kombinierten Schminkkommode mit Obstkorb geworden, überall in der Wohnung liegen Unterwäsche, neu erstandene Fellminiröcke und abgeknabberte Weintrauben auf dem Fußboden, und als ich anmerkte, wir könnten ja mal den Kaffee auf dem Küchentisch unter ihrer Brille wegwischen, meinte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung, das würde ihr gaaar nichts ausmachen... Den abgerissenen Duschvorhang hat sie allerdings in einer spektakulären Heimwerkeraktion wieder montiert, und nachts auf der Piste ist sie nunmal eine Bombe, also hat sie bei mir Narrenfreiheit. Den Curzio, der jetzt im Tessin unterm Weihnachtsbaum sitzt, hätte ich bei so viel Fehlverhalten schon 'rausgeschmissen.

Ich fürchte, es ist ein offenes Geheimnis, daß ich mächtig stolz auf all meine Reisen bin und darauf, daß ich mich so fühle, als wüßte ich überall Bescheid und käme immer klar. Aber manchmal, wenn ich mit meiner armen, alten, gramgebeugten Mutter spreche, bekomme ich den Eindruck, daß all diese Reiserei vollkommen überflüssig ist. Offenbar muß man sich nur in Springe lange genug aufs Sofa hauen, mit ordentlicher Belletristik, dem Spiegel und zwei Frauenmagazinen, eins im Hochglanz und das andere mit Kochrezepten, dann weiß man auch über alles Bescheid. Fragt sie mich doch neulich, wie das jetzt sei mit der Vorweihnachtszeit in New York, die Amerikaner würden sich dann doch allesamt eine rote Pappnase aufsetzen und ununterbrochen "Rudy, the red-nosed raindeer" singen. Verstehen wir ins richtig: So ein Kommentar in der Öffentlichkeit, und ich hätte die Augen so weit wie nur irgend möglich verdreht, "Mammmmmaaaaaa!" gerufen und alle mir zur Verfügung stehende Mimik und Gestik eingesetzt, um deutlich zu machen, wie sehr ich mich für so viel Ignoranz und Einseitigkeit schämen muß. Aber unter uns Pastorentöchtern kann ich es ruhig zugeben: Die Frau hat recht!

Einer der größten Schocker für Curzio und mich, war der Weihnachtschor am Southstreet Seaport, wo wir ganz arglos ein Bierchen schnasseln wollten, weil man so einen schönen Blick auf Brooklyn hat. Vor einem etwa drei Meter hohen Tannenbaum hatten sie dort auf einer Leiter baumförmig die paar Senioren aufgebaut, die es irgendwie geschafft haben, in New York zu überleben. Alle trugen rote Mützen und rote Pappnasen und sangen in einem fort "Rudy the red-nosed raindeer". Curzio und ich haben uns solche Sorgen um den Herrn gemacht, der sich auf der Spitze der Leiter durch den Chorgesang wackelte, daß wir weder das Bier noch den atemberaubenden Blick auf Brooklyn genießen konnten. Ich mußte ziemlich bald diesen Ort des Grauens verlassen, weil ich den Anblick nicht mehr ertragen konnte. Ich weiß aber auch so, was das Schicksal dieser älteren Mitbürger war: Die paar, die nicht im Verlauf des Gesangsnachmittages von der Leiter fielen, sind darauf festgefroren. Mein einziger schwacher Trost ist die Gewißheit, daß sie immerhin dabei eine warme Nase hatten.

Natürlich ist die ganze Stadt mit wild blinkenden Weihnachtslichtern dekoriert. Seit Anfang Dezember habe ich nicht mehr geschafft, mich bis in die Bibliothek des economics departments vorzukämpfen, weil einer von den Studenten den dritten Stock mit dermaßen vielen Blinklichtern übersät hat, daß mir erst schwindelig und dann sofort schlecht wird, sobald ich den Gang betrete. Jeder Weihnachtsbaum in der Stadt ist so sehr mit schweren Kitschengeln und riesigen Schleifen überladen, daß man immer gebannt davor steht und jeden Moment auf den Zusammenbruch wartet. Am Rockefeller Center haben die verantwortlichen Bürger dieses Landes der Superlative jedoch dem Wahnsinn die Krone aufgesetzt. Mit sehr viel Phantasie kann man sich vorstellen, daß es sich dort bei dem Weihnachtsbaum um eine große schlanke, wunderschöne Tanne handelt. Aber die Amerikaner mußten mal wieder eine Rekord brechen. Curzio kann Euch die genaue Anzahl der Lämpchen nennen, die an dem Baum montiert sind. Ich kann Euch nur so viel sagen, daß es auf jeden Fall viele sind, daß man von dem Baum nichts, aber auch gar nichts mehr sehen kann. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich nach den paar weißen Kerzen und den roten Weihnachtskugeln sehne, die traditionsgemäß unser Bäumchen in Springe schmücken...

Bevor ich mir hier den Motzki-Preis für den undankbarsten Besuch aus Germany einfange, muß ich die Amerikaner an dieser Stelle jedoch über den grünen Klee loben. Mein allerschönstes Vorweihnachtserlebnis ever hatte ich nämlich hier in der Avery Fisher Hall beim Messiahs Sing-In. Das ist eine mehr als dreißig Jahre alte Tradition aus der Zeit, als meine Eltern noch Sit-Ins und Love-Ins veranstalten, anstatt Jura zu studieren (kleiner Scherz!). Jedes Jahr wird unter der Leitung eines bekannten New Yorker Chordirektor am Lincoln-Center der "Messiahs" von Händel gesungen, die Rezitative von Profis und der Chor - vom Publikum. Den Tip hatte ich natürlich von meiner Geigenbauerfreundin Jeanette.

Jede Choreinlage wird von einem anderen Dirigenten geleitet. Eine Menge Highschool-Musiklehrer waren dabei, der Leiter eines Kirchenchors aus Harlem und das "Hallelujah" hat der Chordirektor der Metropolitan Opera dirigiert. War mir natürlich ein inneres Gartenfest, als er, bevor er die Arbeit überhaupt aufnahm, mit den Amis erst einmal geübt hat "Ha-le-lu-jah" zu sagen, anstatt "Haee- liiieee- louuu- jaehhh".

Wie auch immer, es herrschte eine Bombenstimmung. Alle außer mir waren passionierte Chorsänger, die sich bestens mit dem "Messiahs" auskennen und anstandslos jeden Einsatz erwischen. Den Chorleitern wurde so begeistert zugejubelt, daß jeder Rockstar vor Neid erblaßt wäre, und das wohlverdient: Keiner von ihnen sparte bei der Einführung "ihres" Stückes mit Witz oder Scharfsinn, um ein wahres Fest aus dem "Messiahs" zu machen.

Natürlich raffte ich mal wieder nichts und lief als Einzige ohne Noten auf, aber meine Nachbarin war so freundlich, mich in ihre Partitur mit hineingucken zu lassen. Leider war kein standfester Alt in meiner Nähe. Nach der Pause lotsten mich Janine und Matthias deswegen auf einen freien Platz vor ihnen, denn sie hatten zwar auch nur eine Partitur, dafür aber einen Alt im Rücken, wie er standhafter nicht hätte sein können. So ergab es sich, daß selbst ich im zweiten Teil ordentlich mitschmettern konnte, und - ach - war das erhebend! Nur in den langen Koloraturen ging ich manchmal verloren, weswegen ich mir öfter mal einen unsanften Knuff von hinten einfing, weil ich das Umblättern vergessen hatte. Als die Veranstaltung vorbei war, stimmte der Chor beim Verlassen der Konzerthalle spontan ein Weihnachtslied an, und noch auf der Straße sangen die Leute weiter. Kinder war ich gerührt!

Gestern war ich bei Nd's zur Christmas-Dinner-Party, wo ich feststellte, daß 1.) afghanisches Essen unschlagbar ist 2.) seine Frau ihre Arztpraxis mit einer Philippin teilt (das weiß ich, weil sie den gleichen Akzent hat wie Lydia Schmidt auf Deutsch) 3.) seine zwei Söhne viel jünger und schöner sind als ich, beide schwarzgelockt, einer ein lustiger, offener Hip-Hopper, der mit seiner Tigerzahnkette in Berkeley Politik studiert und nichts von Ökonomie wissen will, und der andere so ruhig und zurückhaltend, daß ich nicht mehr als das über ihn weiß.

Als ich am Central Park West aus der U-Bahn stolperte, wurde ich von drei Doorman und einem Liftangestellten in Empfang genommen (er war um die sechzig, deswegen scheue ich mich "-boy" zu sagen). Aus der Größe der Wohnung und der Terasse mit Blick auf Manhattan schließe ich, daß entweder Professor oder Ärztin ein sehr lukrativer Job in diesem Land sein muß. Die Dinnerparty war ein bißchen so wie in Mexiko, wo alle ihre erwachsenen oder noch nicht ganz erwachsenen Kinder dabei haben. Das finde ich eigentlich ziemlich gut. Ein bißchen nervös wurde ich nur bei der Erinnerung, daß die mexikanischen Teenager damals beim Nationalfeiertag nach dem Essen ihre Musi anschmissen, und vor den Augen ihrer plaudernden Eltern das Wohnzimmer in eine Disco verwandelten. Auch das finde ich cool, aber ich hätte nicht so recht gewußt was ich machen sollte, hätte sich Nd so verhalten wie damals Tedi Rodriguez, der mich nach dem zehnten Tequila aufforderte, mit ihm "tecnico" zu tanzen. Gott sei Dank handelte es sich um ordentliche amerikanische Teenager, die irgendwann abzogen, um sich ein Video zu holen, und gar nicht daran dachten, mich in eine derart peinlich Situation zu bringen.
Nach der Party taten Ines und ich bei Rudy' s ein flotten, jungen indischen Statistikprofessor auf, der mir als erstes ein Gedicht von Heine ins Ohr hauchte, und dann Hermann Hesse über den grünen Klee lobte. Er spricht auch ganz gut deutsch. Warum muß man eigentlich immer erst nach Amerika oder nach Indien fahren, um so etwas Schönes zu erleben?

Zu späterer Stunde teilte uns der Professor mit, daß die Welt in drei Kasten unterteilt (er hat "Klassen" gesagt, aber man weiß ja, was das bei den Indern bedeutet). Die Mathematiker sind die Brahmanen, dann kommen jene, die Mathematik verstehen oder zumindest ein Gespür dafür haben, wieviel Schönheit darin legt, und ganz unten stehen all jene, die gaaaar nichts von Mathematik verstehen oder gar glauben, das sei langweilig. Wenn wir demnächst mal in Ehren als Büronachbarn lunchen gehen, habe ich mir vorgenommen, mich lebhaft für die Schönheit der Mathematik zu interessieren. Als Allerletztes will ich erreichen, daß mein einziger Erfolg, den ich aus Amerika nach Hause trage, darin besteht, daß ich in dem Kastensystem der indischen Moderne zu den Unberührbaren zähle.

Jetzt habe ich mich aber dumm und dusselig getippt, und das obwohl ich noch bis Heiligabend ein Paper fertigschreiben muß. Ein bißchen Sorgen mache ich mir ja doch um Zuhause, aber wie ich meine Eltern kenne, haben die keine Schwierigkeiten, die Weihnachtsgans zu zweit zu verputzen. Außerdem fällt Heiligabend ungünstigerweise auf einen Sonntag, das heißt der ganze Spaß des Last-Minute-Geschenke-Einkaufs wäre ohnehin hinfällig: Weder würde Ursula Hasper in der Buchhandlung am Nordwall schon mit passenden Geschenken wedeln, wenn ich kurz vor Ladenschluß bei ihr angehetzt komme, und aufgeregt rufen: "Nici, ich glaube, das ist etwas für Deine Mutter!", noch könnte ich Bernd Albert in der Parfüme treffen, und ich müßte auch beim Uhrmacher Gehring nicht zum zweihundertsten Mal die Frage nach meinem Jurastudium und wann ich Mama's Praxis übernehme zähneknirschend mit "Ich mache VWL" beantworten. Ein bißchen erfüllt es mich mit Genugtuung, daß Tante Liesel dieses Jahr keine Chance hat, sich hinterlistig bei mir einzuhaken, um dann zwei Stunden lang mit mir den Marktplatz auf- und abzulaufen und mir den gesamten münderschen Klatsch der letzten sechzig Jahre zu erzählen. Aber ein bißchen werde ich selbst das vermissen...

Na wie auch immer, ich schreibe jetzt meine Aufsatz, morgen bekochen Ira und ich alle Strohwitwer der Stadt, und ich habe keine Zweifel, daß wir eine Menge Spaß haben werden. Und Ursula Hasper kann sich schonmal bereithalten: Nächstes Jahr komme ich wieder!