Samstag, 29. Dezember 2007

Paris ist nichts für Pariserinnen

Gestern ist mir schmerzlich klar geworden, dass ich schon zu lange in Paris gelebt habe, um mich noch als Paris-Touristin zu eignen.

Das fängt bei den Schuhen an.

Früher habe ich Witze darüber gemacht, dass Französinnen Angst davor haben, ihre Weiblichkeit zu verlieren, sobald sie bequeme Schuhe tragen. Ich konnte es nicht fassen, dass nur Tschechinnen und anglo-amerikanische Frauen, aber niemals Französinnen zu meinen legendären gemischten Fussballpartien vor dem Hotel des Invalides kamen parce que ce n'est pas pour les filles. Und als Véronique mir beim Sonnenbaden anvertraute, dass sie niemals mit einem Mann, der ihr gefällt, in die Badeanstalt gehen würde, weil sie mit Badekappe einfach nicht gut aussieht, verschlug es mir endgültig die Sprache.

Jedoch kaum nach Berlin zurückgekehrt, war ich so erfreut über die stattliche Durchschnittsgröße der ortsansässigen Männer (und entsetzt über die wettbewerbsfähige Durchschnittsgröße der ortsansässigen Frauen), dass ich mir ein Paar hochhackiger Schuhe nach dem anderen zulegte. Wenn man alles durchkalkuliert, dann bringen hohe Absätze auch dann noch Schwung in die Hüfte und Länge in das Bein, wenn man eine Badekappe auf dem Kopf hat.

Das war Fehler Nummer eins.

Fehler Nummer zwei bestand in meiner überheblichen und herablassenden Haltung gegenüber dem 16. Arrondissement. Auch damit befinde ich mich wenigstens unter Parisern keineswegs in schlechter Gesellschaft. Schon Heinrich Heine verlangte nach langer, schwerer Krankheit im 16. Arrondissement, man möge ihn umgehend wieder in die Stadt bringen. Den Friedhof von Passy stellte er sich sehr langweilig vor, und er wollte dort unter keinen Umständen begraben liegen. Ich habe im 16. Arrondissement gearbeitet und kann es ihm nicht verdenken. Selbst auf den Haupteinkaufsstraßen dieses Bezirks herrscht Friedhofsruhe. Reiche, alte Damen im Pelz, die ihren Schoßhund spazieren führen, reiche alte Damen, die auswärts mit Hut auf dem Kopf Mittag essen, etwas jüngere, reiche Damen mit Sophia-Loren-Sonnenbrille, die in Geländewagen huldvoll mit behandschuhten Händen den Füßgängern, die sie im Begriff sind umzufahren, bedeuten, sich aus ihrer Parklücke zu entfernen. Keine Kinder, keine Araber, keine Mopeds, kein Trubel auf den Straßen. Das geht soweit, dass man ohne den Einsatz ausgefeilter Nahkampftechniken den Bürgersteig benutzen kann, was einmalig sein dürfte in Paris.

Wer sein französisches Blut nicht bis auf die Zeiten vor der Revolution an den Hof verschiedener Ludwigs zurückführen kann, ist Ölscheich, vielleicht noch Au-Pair-Mädchen mit Chambre de Bonne und einem einjährigen Kursus über französische Sprache und Kultur, sonst aber bestimmt Dienstbote. Mein Freund Mosahid hat früher einmal den Fehler gemacht, in das 16. Arrondissement zu ziehen. Als er es wagte mit seiner bengalischen Haut in den Hausflur zu treten, um eine für ihn bestimmte Waschmaschine entgegenzunehmen, wollte ihn die Hausbesitzerin zunächst verscheuchen und als er ihr endlich klargemacht hatte, dass er Mieter und damit zurecht im Haus sei, wies sie ihn schrill an, künftig den Boteneingang zu benutzen und der sei hinten. Wen wundert es, dass Sebastien mich damals daran hinderte ins 16. Arrondissement zu ziehen mit der Begründung, dass ich dort niemals mit Besuchen von Freunden rechnen könnte und selbst mindestens 45 Minuten unterwegs wäre, um in erträgliche Teile dieser Stadt zu gelangen.

Natürlich hat er recht und in den Pariser Osten zu ziehen, war alles andere als ein Fehler. Aber dass ich mir das 16. Arrondissement vor lauter Ärger über die ebenso versnobten wie bepelzten Omas mit Hut nie so richtig angesehen habe, das war ein Fehler. Fehler Nummer zwei, der mir in Verbindung mit Fehler Nummer eins zum Vehängnis werden sollte.

Zum Glück gibt es den Schatz, seine alternativen Reiseführer und seine Schwäche für gescheiterte und geglückte urbane Entwicklungsprojekte. Er zeigte mir das Balzac-Haus mit seiner verborgenen Treppe, über die der große Künstler vor seinen Gläubigern flüchtete, ja er geriet bei jeder verborgenen Treppe des Viertels in Verzückung und bestand darauf, sie zu erklimmen. Er führte mich in das alte Dorfzentrum von Auteuil und setzte dem achtlosen Vorbeigehen an den Jugenstiljuwelen der Avenue Mozart ein lang überfälliges Ende. Er sorgte dafür, dass ich die ebenso märchenhafte wie verrückte Häuserfassade des damals sechsundzwanzigjährigen Guimard endlich ausgiebig würdigte, für die der Künstler damals völlig zurecht den Pariser Fassadenpreis gewonnen hatte. Er machte mich auf die zurückhaltenden und eleganten, aber - wie man aus heutiger Sicht hinzufügen muss - nicht sehr klimafreundlichen Eisenfensterrahmen von Le Corbusier aufmerksam und auf die extravaganten Fassaden von Mallet-Stevens, die angeblich den Überseedampfern seiner Zeit nachempfunden sind.

Vor dem Musée Marmottan, das bedeutende Impressionisten beherbergt, aber weder den von kulturellem Informations-Overflow überwältigten Touristen noch Einheimischen geläufig ist, begrüßte uns ein Bettler mit "bonjour les amoureux". Paris kam mir romantisch, schillernd und voller unermeßlich schöner und wertvoller Schätze und Geheimnisse vor bis in den finstersten Winkel der Friedhofsruhe seines Westens.

Ich verfluchte meinen Hochmut, der mich das 16. Arronissement und seine Wunder bislang hatte links liegen lassen, und meine neue Weiblichkeit, die mich dazu gebracht hatte, unsere letzten vier Tage in Paris, die einem ambitionierten Sightseeing-Programm gewidmet sind, mit drei Paar hochhackigen Schuhen anzutreten.

Vor den iranischen Miniaturmalereien im Louvre verlor ich schließlich die Nerven, die Eitelkeit und die Kraft, um weiter elegant durch die Stadt zu stöckeln. Den Rest des Abends verbrachte ich auf dem Sofa mit meinen Blutblasen in einem Eimer heißen Wasser. Die Sex-and-the-City-DVD, die ich dabei sah, war weit davon entfernt, Wünsche auf Manolo Blahniks in mir zu wecken.

Der heutige Tag begann trotzdem mit Shopping. Blasenpflaster in der Apotheke für sechs Euro und braune Turnschuhe, Berliner Modell: cool, unweiblich und bequem.

Freitag, 28. Dezember 2007

Doch gutes Erbgut

Email aus New York, November 2000

Meine Mutter und ich waren uns am Telefon gerade einig geworden, daß mein Vater ein Phänomen ist. Er hat immer Glück, alle vertrauen ihm und er ist unglaublich beliebt. Während wir anderen alle arbeiten müssen wie die Eichhörnchen in der Trommel, um überhaupt ein paar Bekannte oder gar Freunde zu haben, muss er keinen Finger krumm machen, es rennen ihm sowieso alle die Bude ein, um ihre Freizeit mit ihm verbringen zu dürfen. Ein bisschen frustriert waren wir, als wir aufgelegt haben, aber nicht sehr. Ganz unter uns können wir ihn ziemlich gut leiden und gönnen ihm daher sein Glück.

Nur wenige Stunden später sollte sich herausstellen, dass er mir offenbar doch nicht nur die Neurodermitis, sondern auch eine ordentliche Portion von seinem Glück vererbt hat...

Weil ich den ganzen Sonnabend fleißig war, befand ich, daß ich einen Abend in der Oper mehr als verdient hatte. Gedacht getan, ich machte mich auf zur Met, prallte entsetzt zurück, als mir jemand vor der Oper eine Karte für 115$ anbieten wollte und erstand statt dessen einen Stehplatz fuer 16$ an der Abendkasse. Zugegebenermaßen geschah dies ein wenig in Verkennung der Tatsache, dass Richard Strauß nicht Johann Strauß ist, und daß "Der Rosenkavalier" nicht anderthalb Stunden leichte Operettenmusik im Dreivierteltakt beinhaltet, sondern viereinhalb Stunden Musik - na, sagen wir mal - für Kenner.

Tatsächlich wurde meine Standfestigkeit aber erst gar nicht getestet. Schon nach fünf Minuten kam ein Mann um Mitte vierzig in einem alten Ski-Anorak auf mich zu. Er trug die ältesten Turnschuhe, die ich seit langem gesehen habe, und einen Moment lang überlegte ich mir, ob ich ihm einen Dollar in die Hand drücken sollte. Er fragte mich, ob ich alleine sei. Schon reichlich an die entwaffnende Direktheit der Amerikaner gewöhnt, antwortete ich ebenso knapp wie wahrheitsgemäß mit "ja". Er:" Why don't you come sit with us?". Erst als ich ihm bereits vollkommen überrumpelt zu den Orchestersitzen folgte, wurde mir klar, dass ich wahrscheinlich für die 180$-Karte, die er mir in die Hand gedrückt hatte, den höchsten immateriellen - oder sagen wir nicht-monetären- Preis würde zahlen müssen, den ich je für eine Opernkarte gezahlt habe.

Aber nein: In der neunten Sitzreihe wartete bereits eine charmante junge Dame aus Französich-Guyana auf uns. Mein neuer Freund, der Obdachlose, erklärte mir, daß er ein Oper-Abo besitze. "I keep one seat for a date..." - so hat er sich ausgedrückt, anscheinend bringt er jedesmal eine andere Freundin mit "and one for my office manager." Das erscheint mir persönlich eine sehr eigenwillige Kombination, aber einem geschenkten Barsch guckt man nicht in die Kiemen. Ich habe tüchtig davon profitiert, daß die Büromanagerin an jenem Abend den Weg von New Jersey nach New York nicht gefunden hat.

Zugegeben, den ersten Akt fand ich sterbenslangweilig und zudem entsetzlich inszeniert, mit viel zu viel Pink und Rüsche. Insgeheim wünschte ich mir, daß Richard doch Johann sei,
oder der Rosenkavalier statt dessen eine lustige Witwe. In der Pause Nr. 1 habe ich mich aber dennoch sehr amüsiert, aus dem Programm zu erfahren, dass Richard Strauß damals seine Zeitgenossen mit seinen Anspielungen schockiert hat, " ...that beds are occasionally used for purposes other than sleeping". Und irgendwie bin ich dann doch noch auf den Geschmack gekommen. Als die Marschallin schließlich nach viereinhalb Stunden in einem herzzerreissendem Terzett den Weg frei gab, damit ihr Geliebter, der Rosenkavalier, die wesentlich jüngere und liebreizendere Sophie ehelichen konnte, war ich den Tränen nahe.

Mindestens ebenso interessant fand ich es, diese Oper inmitten der New Yorker Haute Volée zu verfolgen. Die älteren Herren, deren Ehefrauen auf ein Opernabo bestehen, knacken die ganze Zeit, wie überall auf der Welt. Was mich tief beeindruckt hat, sind die höheren Töchter, die nicht nur wahnsinnig reiche Erbinnen, sondern nicht selten auch noch atemberaubend schön sind. Wie machen die das? Lauter Prinzessinen mit wallenden goldenen Haaren schwebten in der Pause von den Orchestersitzen ins Foyer.

Der Sitz vor mit gehörte laut einer Silbergravur übrigens der Fishbach Organisation Inc.. Nur zu gerne hätte ich mir die Rückseite meines eigenen Sitzes angesehen, um zu erfahren, welcher Organisation mein Freund mit der unzuverlässigen Büromanagerin angehörte. Ich habe dann aber doch davon abgesehen, meinen Oberkörper über die Stuhllehne zu klappen, um einen Blick zu erhaschen. Möglicherweise gehört sich das nicht in der New Yorker Society.

Meine Wohltäter flitzten noch vor Beginn des Applauses schnell zu ihrem Auto - Amerikaner verlieren nunmal nicht gerne Zeit - nicht ohne mir ihre tiefste Bewunderung dafür auszudrücken, daß ich bereit gewesen wäre, Richard Strauß im wahrsten Sinne des Wortes durchzustehen. Wie ich bereits erwähnte, ist das nicht ganz richtig. Dennoch fühlte ich mich so, als wenn ich bald im Training sei, Wagner im Handstand zu absolvieren.

Vollkommen beschwingt ging ich danach noch in die Tenth Avenue Lounge, ein Bierchen auf mein Glück zu trinken. Dort lernte ich meine Nachbarn Frank und Arnold kennen. Frank ist Friseur und hat sizilianische Eltern. Arnold ist Lehrer und Schauspieler, und seine Eltern sind Mexikaner. Selbstverständlich wird Frank mir die Haare umsonst schneiden. Und - Ines - wir sind herzlich eingeladen mit den beiden und Arnolds Mutter aus Texas Heiligabend zu verbringen.

" Che culo!" kommentierte Curzio fassungslos am nächsten Morgen, als er von meinem Abenteuer erfuhr. Das ist eine ziemliche ungezogene Art, zum Ausdruck zu bringen, dass ich einen Mörderdusel hatte, den er mir nicht so recht gönnt. Aber wer viel Glück hat, hat eben auch viele Neider...

Sonntag, 16. Dezember 2007

Pizza in New York

Email aus New York, November 2000

Am Sonnabend hatte ich meinen ersten großen Kulturschock, und das ausgerechnet mit einem fiorentinischen Pizzabaecker aus meiner Straße. Curzio, der jeden abend dort seine Pizza holt, hat mir schon alles von ihm erzählt. 23 Jahre alt, hat etwas überstürzt eine amerikanische Studentin, 21, geheiratet, und sitzt nun hier in einem Take-Away-Pizza-Laden mit zwei Plastiktischen, will nicht so recht Englisch lernen und fühlt sich kein bißchen wohl. Wenn er von seinem Schicksal erzählt, will sagen, wenn Curzio das imitiert, klingt das ungefähr so: "Jetzt steeeelll Dir das doch nur mal vor, ich hatte in Florenz eine Bar auf der Piazza dell' Indipendenza und jetzt sitze ich hier in diesem Loch (verzweifelte Handbewegung in alle Richtungen). Hier sind iiiiiimmer alle in Eile. Zu Hause habe ich von eins bis drei Mittagspause gemacht und hatte Angestellte - hier muss ich AAaalles alleine machen. Wir leeeeeben einfach besser!"

Also bin ich Sonnabend in diesen Laden gegangen, allerdings fest entschlossen die Pizza dort an einem der Plastiktische zu essen. Ich habe auch etwas gegen die ganze Hektik hier, und habe deswegen der amerikanischen Unsitte statt Mittagessen - oder in diesem Fall Abendessen - "Sandwiches zu grabschen" den Krieg erklärt. Im Ernst - Hier gehen mittags alle "to grab a sandwich", das sie dann vor dem Computer verschlingen.

Der Pizzabäcker und seine amerikanische Braut warfen mir allerdings eigenartige Blicke zu, als ich eine kleine Pizza "for here" bestellte. Hab' mich extra noch einmal erkundigt, ob man vielleicht nicht "hier" essen dürfe. "Doch, doch, dauert nur ein Viertelstündchen!" In der Zwischenzeit sind wir nett ins Gespräch gekommen und der Pizzabäcker hat mir noch einmal persönlich auseinandergesetzt, daß das hier alles nichts ist. Als ich die Pizza schließlich zu Gesicht bekam, konnte ich mir die schrägen Blicke dann doch erklären: Sie hatte ungefähr einen Meter Durchmesser. Für alle, die es noch nicht wissen: Eine Pizza in den USA kann man bestenfalls zu fünft essen. Einzelpersonen bestellen Pizzastückchen. Wahrscheinlich legen die Amerikaner damit ihre Diätprogramme aufs Kreuz. Pizza einfach zehnmal so groß backen, und sich dann sagen können: "Ich hab' ja nur ein Stückchen gegessen". Ganz alter Trick, wer würde so etwas nicht von seiner Siebziger-Jahre-Mama kennen?

Mein Entsetzensschrei, jedenfalls, lockte sofort die argentinische Küchenhilfe an den Tresen, die mir ihre uneingeschränkte Solidarität bekundete und ausschweifend von IHRER ersten Pizza in Amerika berichtete. Wir haben uns schließlich nach langem Verhandlungen nach der Art türkischer Bazaare auf zwei Stückchen einigen können und konnten so unser gutes nachbarschaftliches Verhältnis retten.

Während ich meine hart erkämpfte Pizza an einem der beiden Plastiktische auf einem Plastikteller und ohne Besteck verzehrte, kam ein weiterer unserer Nachbarn mit einem ausgesprochen kleinen Schoßhündchen herein, um das aber sofort ein Riesenpomp gemacht wurde. Zwar fehlte die rosa Schleife, dafür bekam der Hund Pizza auf einem Plastikbecher zu essen. Irgendwie hatte ich danach das Gefühl, daß meine Mahlzeit dadurch noch mehr entweiht wurde. Der Pizzabäcker erklärte mir später hinter vorgehaltener Hand, daß Hunde in den USA wichtiger sind als Babys, und wenn man den Hund gut behandelt, kommt der Besitzer garantiert wieder.

Die Konversation zwischen Hundebesitzer und Pizzabäcker war in jedem Fall sehenswert.
Pizzabäcker (breitet die Arme aus, als wenn er einen riesigen Blumenstrauß überreichen würde): "Warum waren Sie so lange nicht da, wir haben Sie vermißt!"
Hundebesitzer (etwas nüchterner, jedoch versucht, italienisch zu sprechen): "Mucho trabajo!"
Pizzabäcker (empört): "Moooolto lavooooro!"

Dieses Schauspiel wiederholte sich danach entsprechend mit den verschiedensten spanischen und italienischen Wörtern. Die Empörung des Pizzabäckers war meiner Meinung nach nicht ganz gerechtfertigt, denn er spricht auch einfach immer italienisch, wenn er vorgibt englisch zu reden. Der Hundebesitzer erklärte danach ausschweifend - auf englisch- das Wesen seiner niederdrückenden Arbeitslast. Michael Douglas habe heute ganz geheim geheiratet, und er habe die Blumen bereitstellen müssen.

Etwa an diesem Punkt betrat ein dritter Nachbar die Szene, der wiederum fließend italienisch sprach, denn sein Freund ist aus Sorrent. Leider hatte der gerade Probleme mit seiner Gnocchi-Sauce, weswegen eilig der Pizzabäcker konsultiert werden mußte. Dem gelang es schließlich, das köstliche Mahl noch durch den Verkauf etlicher Saucen und Zutaten zu retten. Der Hundebesitzer und der Freund des sorrentinischen Kochs begrüßten sich überschwenglich, und beantworteten die Frage, ob sie sich kennen würden, mit einem überzeugten :" Oh yes, we're neighbors." Zwar mussten sich die beiden uralten Freunde und Nachbarn doch noch einmal kurz namentlich vorstellen ("what was your name again?"), aber dann war wieder alles cool und easy: "Bye, have a good one, Chris!"

Als ich meine Pizza fertig gegessen hatte, forderte der Hundebesitzer seinen Liebling gerade auf, Herrchens Mahlzeit in einer Tüte im Maul nach Hause zu tragen. Als der Hund sich dazu nach einigem Widerstand schließlich breitschlagen ließ, erbebte die kleine Pizzabude vor tosendem Applaus. Dem Hund gehört die ungeteilte Bewunderung unserer gesamten Nachbarschaft.
Und kann mir jetzt mal einer erklären, warum ich am Wochenende nach SoHo soll?

Sonntag, 9. Dezember 2007

Election Day+9 oder so

Email aus New York, November 2000

Amerika hat immer noch nicht herausgefunden, wer der neue Präsident ist und Nd. kommt jeden Tag gramgebeugter an die Uni: "This has turned into a circus country!" Ich habe ihm vorgeschlagen, dass wir das nächste Mal ein paar internationale Beobachter schicken könnten.

Am Freitag war ich in der hippesten und teuersten Bar von New York. Alex, meine israelische Fotografin, hat dort Geburtstag gefeiert. Warum, ist mir heute noch ein Rätsel. Sie hat keine müde Mark in der Tasche, und als sie einen Tisch bestellen wollte, mußte sie feststellen, daß man nur schlappe 400$ dafür haben wollte. Also ohne Tisch. Dafür kamen wir dort richtig zur Geltung. Während alle anderen Frauen so aussahen, als hätten sie vier bis fünf Stunden gebraucht, um sich zu präparieren, hatte die Mehrzahl von Alex‘ Freundinnen einen flotten Kurzhaarschnitt, war betont ungeschminkt, hatte den Pullover in die Hose gesteckt und konkurrierte energisch den Männern um all die Schönheiten, die sich an der Bar räkelten. Sehr schön! Dazu hatten wir noch ein paar Tunten im Schlepptau und der Rest bestand aus Alex' Kollegen aus dem Fotolabor, die allesamt heimliche Fotografen sind und nur im Labor arbeiten, um billig das Material nutzen zu können. Hab' mich nie so recht getraut zuzugeben, daß ich versuche, Volkswirtin zu sein.

Meine Brooklyn-Safari am Sonntag begann in Park Slope, der Heimat von Paul Auster. Ich habe immer fleißig nach ihm Ausschau gehalten, aber außer daß ich mal in der Villagevoice gelesen hatte, er sei wahnsinnig gutaussehend, war mir nichts Näheres über die Details seines Äußeren bekannt. Also wieder keinen Dichter geangelt. Dafür wußte Jeanette, wo es den besten Flohmarkt gibt. Ich habe jedoch von dem Erwerb von Postkarten mit dem Stempel "Wir sind heim ins Reich gekommen -Schlesien" Abstand genommen.

Die nächste Station führte uns nach Crown Heights, wo die Einwanderer aus den West Indies leben. Die Frauen tragen Turbane auf dem Kopf, das hat mich gefreut, aber es roch dort nicht so gut nach exotischen Früchten, wie ich mir das vorgestellt hatte. Eigentlich hatte wir uns nach kreolischer Küche gesehnt, aber das einzige Restaurant, das wir entdecken konnten hieß zwar "La higienica", sah aber nicht so aus. Deswegen stiegen wir noch einmal in die U-Bahn und fuhren an die russische Ostsee. Die liegt hier in New York ganz am Ende von Brooklyn am Meer. Wenn man aus der U-Bahn steigt, hört man nur noch russisch und sieht kyrillische Schrift, die Strandpromenade ist gesäumt von bobonfarbenen Cafés und Restaurants, alle jungen Frauen sind figurbetont gekleidet und sexy, und alle Frauen mittleren Alters tragen Tigerlook. Und hhhhmmmmm schmecken die Pelmeni lecker!

Der Kellner konnte nicht so recht Englisch, kam aber jedesmal aus der Küche mit einem neuen deutschen Wort zurück. Später machten wir an der Strandpromenade noch die Bekanntschaft eines Polen mit imposantem Cowboyhut und einem Schnauzer der neben den Mundwinkeln bis zum Kinn herunterwuchs. Der konnte auch kein Englisch, brachte es aber trotzdem fertig, uns zu erzählen, daß er am Wochenende gerne mal einen hebt, aber montags immer wieder pünktlich auf dem Bau ist.

Am Ende waren wir so geschafft von all diesen Kulturen, dass wir uns erst einmal bei einem Bier im "Hallo Berlin" davon erholen mussten. Dort stießen wir auf eine Argentinierin, die sich über die französische Küche beschwerte und glücklich war, endlich mal wieder ein Schnitzel essen zu können - wie zu Hause. Sie kellnert in New York, um für die Uni zu sparen. Ich kann mir eigentlich keinen schlechteren Ort zum Sparen vorstellen als New York. Außer vielleicht Buenos Aires - da ist alles genau so teuer, dafür verdient man die Hälfte.

Sandra hat mich am Dienstag zusammen mit ihrem deutsch-jüdischen Freund Dan in eine Charity-Veranstaltung nach Harlem geschleppt. Wir haben Geld für die Reparatur des Kirchturms der St. Martin's Church gesammelt. Diesmal leckeres kreolisches Essen und ich durfte mich ein wenig willkommener fühlen, als damals in der Kirche. Wurde sogar ständig gefragt, ob ich auch in St. Martin's zur Kirche ginge.

Und damit Corinna nun nicht glaubt, dass hier lediglich zwei jämmerliche Gestalten aus Freiburg herumlaufen, sollte ich dazu sagen, dass ich unlängst meinen alten Kollegen und Tennispartner Jörn Paoadopoulos in Erwartung seines zweiten Kindes an der Colombia University ausgegraben habe. Wir treffen uns morgen auf halbem Wege (Westseite, fünfziger) zum "lunch".

Bad Data from Florida

Email aus New York, November 2000

Im Moment dreht sich mein Leben um italienische Industriepaneldaten. Ob ihr es glaubt oder nicht, die Italiener waren die Ersten, die ihre Daten vollständig bei der OECD abgegeben haben. Nd. sagt, er glaubt im Leben nicht, daß die schneller waren als die Deutschen. Er vermutet, sie haben sich Daten einfach ausgedacht. Trotzdem fangen wir jetzt erst einmal mit Italien an - "to check on these guys".

Das Gute an der älteren Generation ist, dass sie als Nebenprodukt ihrer Ablehnung des Computers darüber hinwegsieht, daß Deutschland inzwischen den Anschluss an moderne Technologien verpasst hat. Ab und zu sonne ich mich mal ganz gerne in dem längst vergangenen Ruhm.

Wie ihr alle wißt, tun sich die Amerikaner derzeit schwer damit herauszufinden, wen sie zum Präsidenten gewählt haben. Irgendwie kommt beim Zählen jedesmal etwas anderes heraus und von den Hochrechnungen wollen wir mal gar nicht sprechen. Vielleicht können die mal ein paar italienische Statistiker gebrauchen? In jedem Fall ist eine gewisse Schadenfreude bei den italienischen Staatsbürgern auf meinem Gang nicht zu überhören. Der allgemeine Konsens lautet in etwa: "Na, jetzt wollen wir mal sehen, wie DIE mit politischer Instabilität klarkommen.

Anfangs hat mich solche Erlebnisse hier noch schockiert, aber inzwischen scheint sich mir alles wie ein Mosaik zusammenzufügen: Altertümliche Badewannen auf 30 cm Höhe direkt neben der Spüle, Heizungen ohne Wärmeregulierung, Präsidentschaftswahlen ohne Ergebnisse und Waschmaschinen, in denen die Wäsche nicht sauber wird... Zu alledem schreibe ich Euch gerade aus dem achten Stock eines Gebäudes, dessen fünfter bis siebter Stock gestern wegen einstürzender Decken evakuiert wurde. Als ich meine Eltern telefonisch über dieses Malheur unterrichtete, lautete die - wie mir schien eher ungerührte - Antwort: "Na, dann bist ja aus dem Gröbsten 'raus."

Trotz aller Mißgeschicke ist und bleibt Amerika eine Leistungsgesellschaft. Leider macht sich das ausgerechnet beim Tango bemerkbar. Ach wenn Ihr es nur sehen könntet! Alle Ethnien dieser Welt, Inderinnen, Schwarzamerikaner, Iraner, Afrikanerinnen, wie sie hingebungsvoll aneinander angelehnt in anmutigen, weichen Bewegungen über die Tangotanzflächen dieser Stadt schweben.

So etwas Schönes!

Ich frag mich nur, wo sich die ganzen Anfängerinnen und die "intermediate" Tänzerinnen verstecken. Offensichtlich wagt sich ohne perfekte Tanzausbildung außer mir keine tanguera zu diesen prácticas. Die Männer sind da natürlich wie immer unerschrockener.
Tango besteht - für die, die es noch nicht wissen - zu einem Großteil aus Pausen. Aber die muß man beherrschen! Eine versierte tanguera lehnt sich dabei noch ein bißchen hingebungsvoller an ihren Partner, wiegt sich anmutig hin und her oder streicht mit einem Fuß an ihrem - gelegentlich auch seinem - Standbein entlang. Bei mir hingegen rächt sich in solchen Pausen, daß Antonio freitags immer in Poppenbüttel kellnern und danach allerlei gesellschaftlichen Verpflichtungen am Schulterblatt nachgehen muß. Wenn ich besonders geistesgegenwärtig bin, bemühe ich mich das Spielbein anmutig anzuwinkeln. Aber meistens stehe ich ratlos auf beiden Beinen herum und frage mich, ob ich mich wohl noch mehr als Stümper entlarve, wenn die nächste Figur ein Mühle ist, oder sollte ich kichern müssen, wenn der Tänzer plötzlich aus einer Drehung heraus ganchos tanzt - will sagen wie ein Pferd nach hinten ausschlägt und zwar zwischen meine Beine.

Und weil ich so ziemlich die einzige Dame auf der Tanzfläche bin, die nicht die Perfektion erreicht, ergibt es sich, daß ich mich vor allem bei der älteren Generation größter Beliebtheit erfreue. Nicht daß das grundsätzlich schlimm wäre. Das Schöne am Tango ist, daß der Tanzpartner zwei Köpfe kleiner und vierzig Jahre älter sein kann, wenn er nur gut tanzt, sieht es wunderbar aus. Nein ich spreche von den älteren Herren, die gar nicht tanzen können. Dafür sind sie vom Schlage "oh, how are you supposed to lead someone, if you have to stay so far away from them". Die Startänzer tanzen gelegentlich mit mir, aber nur wenn sie mich noch nicht haben tanzen sehen, und nie länger als zwei Tänze. Deswegen wechsele ich jedesmal den Tangoschuppen, um unerkannt zu bleiben. Und wenn Ihr da wärt, könntet Ihr sehen, wie ich zwischen den Tänzen sternförmig durch den Saal eile, immer auf der Flucht vor den Nichttänzern und in der Hoffnung, einen Startanguero in eine Milonga zu locken, bevor ihm klar wird, worauf er sich da einläßt. Glaubt nur nicht, daß einem hier irgendetwas geschenkt wird...

Aber auch mit den Deutschen ist das Leben nicht immer ein Kinderspiel. Mich haben hier die kultivierten Frauen unter ihre Fittiche genommen und sorgen dafür, daß ich regelmäßig in die Carnegie Hall und in die Metropolitan Opera komme (daher auch meine profunden Kenntnisse darüber, wie der Champagner dort ausgeschenkt wird). Mein kulturelles Sahnehäubchen ist Jeanette, die am Lincoln Center für anderthalb Jahre Geigen baut. Nur sehr widerwillig allerdings, denn ihr Freund - ein armenischer Geiger - ist in Berlin zurückgeblieben. Am Montag haben wir uns die Zauberflöte angesehen. Daß Sarastro ein Desastro war, habe sogar ich gehört. Aber bei der zweiten Arie der Königin der Nacht (ahahahahahaaaaaa...) konnte ich nicht mehr an mich halten und wollte mit Janine teilen, wie schön mir das erschien. "Unsauber" raunt sie streng zurück. Wie ihr seht, habe ich noch viel zu lernen.

Vorgestern abend saß ich doch bei Aggie's mit meiner Tomatensuppe, da steht auf einmal- passenderweise - Klaus Noser vor mir. Wißt Ihr, dieser langmonatige Verehrer und Ballherr unsere alten Freundin Agnes Vogel...Er wußte zu berichten, daß Agnes pünktlich jeden Sonnabend in dem Laden in der Susannenstraße aufkreuzt, wo er Seventies-Klamotten verkauft, und sich über ihre verschiedenen Freunde beklagt. Irgendwo muss die Welt ja normal bleiben und so, wie man sie kennt.

Und so schließe ich heute mit einer kleinen Variation einer alten Lebensweisheit, die seinerzeit unter Passauer Studenten sehr verbreitet war: "Warnung an alle - die Schanze ist überall!"

Sonntag, 2. Dezember 2007

Auf Wiedersehen Indien

Eigentlich ließ sich die Nacht im Großraumschlafwagen von Udaipur nach Jaipur gut an - jedenfalls für mich. Die Pritschen sind nicht ungemütlicher als die in Europa, dafür wackelt und ruckelt der Zug sehr viel gewaltiger. Das muss frühkindliche Erfahrungen in mir wach gerufen haben. Ich konnte schon um acht Uhr meine Augen nicht mehr aufhalten und schlief den Großteil der Nacht wie ein Baby. Nach drei Wochen hartem Training fange ich an, mit strengen Gerüchen, Schnarchen, Schnauben, Würgen und Mantra-artig wiederholten Ansagen auf den Bahnhöfen morgens um drei fast schon spielerisch umzugehen.

Leider waren wir bei unserer Ankunft morgens um sechs offenbar doch zu sehr gerädert, um bei der üblichen Konfrontation mit den Schleppern unsere bewährte Buddha-gleiche Langmut walten zu lassen. Die hatte uns bislang immer vor unerwünschten und überteuerten Rikschafahrten bewahrt und davor, anstatt in dem Hotel unserer Wahl dort zu landen, wo die höchste Kommission auf den Rikschafahrer wartet. Im erfrischten und wachen Geisteszustand wenden M. und ich den Schleppern gegenüber die bewährte Joga-Meditationsmethode "Ausschalten des Unerwünschten" an. Diesmal verloren wir jedoch die Nerven und baten sie - erst höflich, dann harscher - uns in Ruhe zu lassen. Das gefiel ihnen nicht und sie bedienten sich ihrer erstaunlichen Fähigkeit, sich schlagartig zu vermehren, während sie sich an unsere Fersen hefteten, um uns im Chor zu beschimpfen und einzuschüchtern, weil wir ihre Rikschafahrerdienste verschmähten. In letzterMinute gelang es Mellie und mir, uns in eine staatlich kontrollierte Rikscha zu retten, in der es sich nur ein einziger Schlepper gemütlich gemacht hatte. Auch der bezichtigte uns der Lügen, als wir ihm wahrheitsgemäß versicherten, wir hätten die Sehenswürdigkeiten von Jaipur schon alle gesehen. Aber immerhin brachte er uns wie gewünscht in unseren Englischen-Herrenklub-Maharadja-Palast. M. litt den Rest des Tage an einem Indien-Overkill. Am besten ich fahre nächstes Jahr mit ihr an einen einsamen finnischen See.

Leider sind unsere Tage in diesem lauten, dreckigen, brutalen, bunten, exotischen, märchenhaften und sehr freundlichem Land inzwischen schon vorüber. Wir wollen den Tag nicht vor dem Abend loben, aber bislang bewerten wir unsere Bilanz bei der Überwindung der hier lauernden Gefahren positiv. Keine Magenprobleme, meistens sind wir vergleichsweise elegant mit den Schleppern fertig geworden und ich bin nur einmal in Kuhmist getreten. Ich hatte Glück im Unglück, denn sogleich war ein Ladenbesitzer mit einem Eimerchen Wasser zur Stelle. Als ich fragte, ob er einen Mülleimer für mein dreckiges Taschentuch hätte, deutete er auf den Straßenrand: " Lot's of waste basket in the street Ma'am", kommentierte er treuherzig das Offensichtliche, " it's India".

Immerhin bin ich froh, dass mir das Missgeschick nicht am Mittwoch widerfahren ist, denn dann hätte ich womöglich ein Kunstwerk zerstört. Die Hindus huldigten an diesem Tag Krishna und der Kuh, seinem Gefährt, indem sie interessante, blumengeschmückte Kuhfladen-Skulpturen vor ihren Türen modellierten. Abgesehen davon, dass sie als heilig gelten und deswegen nicht überfahren werden, sind die Kühe in Indien allerdings beklagenswerte Geschöpfe. Die meisten können sich kaum auf den Beinen halten und ihre Euter wirken kläglich und verkümmert - Plastik ist nun einmal nicht sehr nahrhaft. Oft bereitet es schlimme Magenschmerzen bis hin zu einem qualvollen Tod. Nur zu verständlich, dass unser Schweizer Schwerthändler große Zweifel hat, ob die Milch in Indien wohl so gut ist wie die zu Hause.

Ungeachtet dieser Beobachtungen scheint das Los der Kühe im Vergleich zu dem der Hunde noch recht erstrebenswert zu sein. Jedenfalls trafen wir neulich einen Hund, der wie eine Kuh muhte. M. vermutet, er strebt in seinem nächsten Leben ein höheres Dasein an. Vielleicht hatte er aber auch einfach nur eine Identitätskrise oder aber er war ein verkleideter Papagei - in Indien weiß man nie so genau.

Nach unserer erfolgreichen Nachtzugfahrt ärgere ich mich fast, dass wir das nicht öfter genutzt haben. Dann hätten wir zumindest noch der märchenhafte Wüstenstadt Jasailmer einen Besuch abstatten und auf Kamelen reiten können. Auf der andere Seite hatte es aber auch sein Gutes, dass wir im Schneckentempo und meditierend durch Rajasthan getingelt sind.

Die ersten zweieinhalb Wochen lernten wir praktisch keine reisende Menschenseele kennen. Die Abwesenheit von Bars erschwert es auf dem Subkontinent erheblich, Gleichgesinnte zu finden. Erst beharrliches Verweilen in Udaipur bescherte uns einige interessante Bekanntschaften im Café Edelweiss, das ein deutscher Studiosus-Reiseleiter dort eröffnet hat. Unter unseren neuen Bekannten sind ein deutscher Aussteiger mit Antibiotika-Allergie und eine Reihe von Weltreisenden, die schon seit mehreren Jahren unterwegs sind und keine Hemmungen haben, in Indien im Thailand-Look aufzutreten. Nein, im Gegenteil, es sei gut, dass es keine Bars in Indien gäbe, belehrte mich Kylie aus Kanada, der es schon seit sieben Jahren nicht mehr nach Hause geschafft hat. Bars würden Indien zerstören. Wahrscheinlich deswegen kam ich mir wie ein Junkie vor, als mir mein Feierabendbier vor dem Tempel in einer blickdichten Teetasse serviert wurde und ich die Flasche unterm Tisch verstecken musste. Die Hindus haben nach den muslimischen Eroberungszügen einige schlechte Gewohnheiten aus der islamischen Welt übernommen. Dazu gehören die Scheu vor öffentlichem Alkoholausschank und die Zenanas in den vornehmen Bürgerhäusern und Maharadja-Palästen, in denen die Frauen versteckt wurden. Immerhin stellten ihnen ihre Männer so eine Art Fernseher zur Verfügung, um ihre Gefangenschaft kurzweiliger zu gestalten. Die Fenster der Paläste von Radjasthan sind so verziert, dass von draußen zwar niemand hineinsehen kann, die Damen aber freien Blick auf das bunte Treiben im Basar hatten, jedenfalls wenn sie sich dafür flach auf den Boden legen. Oder aber sie waren ein gutes Stück kleiner als ich.

Besser als die weltenbummelten Beachboys aus Thailand gefiel mir die Japanerin Shi, die mir im Basar nach dem Besuch des Stadtpalastes von Udaipur zulief. Wegen ihrer vielen Tätowierungen und des ACDC-Shirts musste sie Hokkaido verlassen und ging nach Tokyo, wo die Punk-Szene schon etwas weiter entwickelt ist als auf dem Land. Das teure Leben dort verdient sie sich mit zwei Jobs. Tagsüber gibt sie Daten für einen Sicherheitsdienst in den Computer ein und nachts verprügelt sie brave japanische Familienväter und Beamte - aber mit Respekt, wie sie betonte - oder sie bindet deren Vorliebe, sich als Schulmädchen zu verkleiden, in ein gewaltärmeres Liebesspiel ein. Fetisch ist in Japan ganz groß, erklärte sie mir. Daneben kam mir mein Job etwas farblos vor.

Unser Schweizer Schwert-Antiquitätenhändler fand bei einem Fachgespräch mit Shi über Samurai-Schwerter heraus, dass ihr Großvater einem bekannten japanischen Mafiageschlecht angehörte, den Yakuzis. Nur so kann er sich ihre Tätowierungen erklären. Die Japaner mögen die globalen Trendsetter auf dem Gebiet des Fransenhaarschnitts und der blonden Strähnchen geworden sein. Die Toleranz gegenüber weiblichem Gangsterlook aber hat dort immer noch ihre Grenzen, wenn die betroffene Frau nicht gerade eine Nachkommin landesweit bekannter Verbrecher ist. Gangstererbin und Teilzeitdomina Shi reist durch Indien, um den Geist ihres Ex-Ehemannnes auszutreiben, mit dem sie einmal vier Monate in Goa verbracht hat. Wenn sie sich gerade nicht eine neue Tätowierung machen lässt, frequentiert sie zusammen mit Inderinnen die örtlichen Schönheitssalons, um sich die Haut bleichen zu lassen. Währenddessen quälen M. und ich uns zusammen mit den Israelinnen in der Sonne herum, um braun zu werden. So verrückt ist die Welt!

Der Schweizer wiederum hat auf beide Waden Flügel tätowiert. In Indien hat er sich der Shiva-Sekte angeschlossen. Er kommt seit 21 Jahren nach Udaipur,um mit seinem Guru im Tempel zu kiffen. Neben Shiva steht er auf den Götterboten Merkur - daher die Flügel - und auf das Mittelalter. In Indien lässt er Kostüme für seinen alemannischen Ritterklub daheim anfertigen. Von ihm wissen wir, dass sich die Hindus wegen der verwirrenden Vielzahl von Göttern aus Pragmatismus meistens auf einen Gott konzentrieren, der ihnen besonders sympathisch ist. Wie mir scheint kam dem Schweizer am Shiva-Kult besonders gelegen, dass der eine oder andere Joint dafür unerlässlich ist. Dennoch behauptet er hartnäckig, es ginge ihm inzwischen vor allem um die Inhalte seiner neuen Religion.

Sehr vermissen werden M. und ich die Freundlichkeit der Inder. Am schönsten war unser Spaziergang durch die indigoblauen Häuser der Brahmanen von Jodhpur. Jedenfalls war früher Indigo die Farbe der Brahmanen - der Priesterkaste - der Stadt. Heute ist die indische Gesellschaft geringfügig liberaler geworden und auch niedere Kasten dürfen ihre Häuser in Indigo streichen, zumal das vor Mücken schützen soll. Das erfuhren wir bei der lehrreichen Audioführung in der mächtigen und prachtvollen Festung der Stadt, die der Maharadja von Jodhpur mitsamt dem Anschauungsmaterial etwas besser in Schuss hält als der Maharana von Udaipur seinen verschimmelten Stadtpalast.

Der friedlichen Atmosphäre in Jodhpurs Indigo-Viertel kommt nur die Langmut vernachlässigter heiliger Kühe gleich. Kein Vergleich mit dem wilden Basar der Stadt und seinen engen Gassen voller mordlustiger Rikschafahrer, Eseltreiber und Milchmänner auf Stierkutschen, wo mangels Touristenmassen nur Waren für Einheimische im Angebot sind. Will sagen Gemüse anstatt Toilettenpapier, Saris anstatt Hippie-Röcken, Diwali-Süßigkeiten anstatt Bhang-Lassis und Chinaböller anstatt Mineralwasserflaschen . Im Indigo-Viertel herrschte im Vergleich dazu himmlische Ruhe, die Sonne warf goldenes Licht auf die Häuser, die Kinder reichten uns in der Straße zum Gruß die Hände und die alten Damen, die auf den Mauervorsprüngen vor ihren Häusern liegend das Treiben auf den Straßen an sich vorbeiziehen ließen, riefen freundlich "hello" oder "namasthé".

Inzwischen wieder zu Hause angekommen, stellte ich am Sonnabend auf dem Öko-Spießermarkt am Kollwitzplatz fest, dass die Reise mir außergewöhnliche Fähigkeiten verliehen hat. Inzwischen handele ich auch im Mutterland der Festpreise spielerisch und erfolgreich. Auf dem Markt kaufte Gemüse für 5,30 Euro, musste nach einem Blick in mein Porte-Monnaie jedoch zerknirscht feststellen, dass ich nur noch 4,50 Euro mein Eigen nannte. Ich wollte dem Verkäufer gerade anbieten, die Kiwis wieder zurückzulegen, als er schon mit einer wegwerfenden Handbewegung rief "ok, 4,50 Euro". Seine Gesichtszüge verrieten mir, dass er am ehesten südlich des Mittelmeers geboren wurde. Mir war, als hätte in seiner Stimme so etwas wie freudige Erregung mitgeschwungen. Vermutlich wartet er seit seiner Ankunft in Deutschland darauf, dass er endlich einmal wieder so handeln kann wie zu Hause.

Skandale am Pushkarsee

Der Maharadja von Udaipur ist offensichtlich klamm. Das erkennt man an seinem verfallenen, wenn auch romantischen Palast hoch über dem Picholasee.Wahrscheinlich hat sein Vater zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft die königliche Schatzkammer in teuren Hotels, beim Polospielen und im Kasino durchgebracht, mit der tatkräftigen Unterstützung von Varietétänzerinnen, wie das damals unter indischen Herrschern üblich war. Als Indira Gandhi in den siebziger Jahren den blaublütigen Herrschern endgültig den staatlichen Wechsel strich, hat es den Maharadja von Udaipur vermutlich eiskalt erwischt. Inzwischen hat er sich zu einem modernen Wegelagerer entwickelt. Er nimmt nicht nur horrende Preise für seine in Hotels und Restaurants verwandelten Palastbestandteile auf den Inseln des Sees, sondern verlangt auch Wegezoll von allen, die sein Palastgelände durchqueren müssen, um in die einzige Cocktailbar der Stadt zu kommen oder die Segel zu einer romantischen Schifffahrt auf dem See zu setzen wollen.

Denn romantisch ist Udaipur. Der See mit seinen palastgeschmückten Inseln ist von lieblichen Hügeln umsäumt und am Ufer waschen energische Frauen in bunten Saris Wäsche, indem sie mit Cricketschlägern darauf einschlagen. Wozu das dient, ist M. und mir nicht ganz klar geworden. Vielleicht soll es das Auswringen ersetzen? Auf jeden Fall hat M. die Schläge auf ihrem Sound-of-India-Band aufgenommen und der Nachwelt erläutert, dass sie keinem treulosen Mann, sondern nur der Wäsche gelten.

Etwas argwöhnischer beäugen wir, dass die Inder sich und ihre Wäsche im Picholasee stets mit einer ordentlichen Portion Seife waschen. Das ist bestimmt auch nicht umweltfreundlicher als der Plastikmüll der überall am Straßenrand liegt und heiligen, aber auch hungrigen Kühen als Grasersatz dient. Bablu, der uns für eine Spende an das örtliche Tierkrankenhaus in einem Ashram Joga beibringt, hat uns glaubhaft versichert, dass das den Kühen nicht gut bekommt.

In Indien nähern wir uns mit Siebenmeilenstiefeln dem Diwali-Fest. Damit feiern die Hindus Ramas Rückkehr aus dem Exil nach seinen nervenaufreibenden Kämpfen gegen Dämonen, aus denen zum Glück das Gute in Form von Rama - übrigens wie Krischna eine Inkarnation des Gottes Vischnu -als Sieger hervorging. Leider beschränken sich die Hindus nicht darauf, ihre Städte mindestens ebenso wahnwitzig bunt und blinkend zu schmücken wie die Christen die ihren zu Weihnachten. Ähnlich wie wir haben auch die Hindus den eigentlich Anlass für ihr höchstes religiöses Fest ein wenig aus den Augen verloren und beschäftigen sich hauptsächlich mit Essen, Geschenke einkaufen und Böllern.

Dass ihnen beim Essen die Zwiebelknappheit im Wege steht, die derzeit die Preise in Delhi mit noch größerer Wucht in die Höhe treibt als der Hurrikan Kathrina und die chinesische Nachfrage den Preis für Öl, erwähne ich nur am Rande. M. und mich beschäftigt vor allem das Böllern. Besonders in Pushkar war es ein wenig zu viel für unsere schwachen Nerven, als wir feststellen mussten, dass im Äther bei all den Gesängen von indischen Pilgerern, westlichen Heilsuchenden und Hindi-Popsängern noch Frequenzen für lautes Knallen frei waren. Wir waren einfach noch nicht richtig eingegroovt, meint M. Außerdem hatte unser Joga-Kurs im Aschram hatte noch nicht angefangen und uns fehlte die nötige innere Ruhe.

Während ich im Ashram bereitwillig "Om" summe und mehrere Minuten in der Baum- oder der Kerzenposition verharre, dürfte mein Rendez-vous mit Ayurveda das vorläufig letzte gewesen sein. Die beiden Inderinnen, die in unserem Hotelzimmer aufkreuzten, von uns verlangten, dass wir uns nackt ausziehen, und dann Öl über unseren Kopf gossen, waren mir einfach nicht geheuer. Außerdem erwies ich mich als so kitzelig, dass ich M. mit meinem Gelächter fast daran gehindert hätte, sich zu entspannen und zu konzentrieren. Zum Glück trug nicht nur ich allein dazu bei, auch M.s Masseurin gab Anlass zu klagen, indem sie bei der Arbeit schnaufte wie ein Walross und auf dem Höhepunkt, als sie sich so richtig in Rage massiert hatte, laut rülpste. Mir ist bis heute nicht klar geworden, warum die beiden am Ende den Rest ihres Öls über unsere Haare gossen und daran herumrissen, bis wir drohten einer kahlgeschorenen indischen Witwe zu gleichen.

Ansonsten spielten sich in Pushkar zahlreiche Skandale ab, wie in der Zeitung zu lesen war. Eine Finnin nahm in dem heiligen See nackt ein Bad,was durchaus nicht zu den Gepflogenheiten der Inder zählt. Die beklagten sich außerdem über Orgien unter der Beteiligung von Israelinnen, die in einem Hotelzimmer ihrer heiligen Stadt stattgefunden haben sollen, wobei der Journalist allerdings nicht präzisierte, wie die Bürger von Pushkar von diesem Vorfall Kenntnis genommen hatten. Ob sie durch die Schlüssellöcher der Hotelzimmer spähen, weil die Kamasutrastellungen sie schon alle langweilen und sie mal etwas Neues kennen lernen wollen? Vielleicht sind sie auch einfach prüder geworden als zu Sanskrit-Zeiten. Dafür spricht, dass auch der Kuss eines israelischen Paares am Ufer des Sees nach ihrer Hindu-Hochzeitszeremonie bei den Einheimischen nicht gut ankam.

Recht geben, muss ich den Beschwerdeführern darin, dass sich die Touristen in Pushkar ein wenig auffällig benehmen. Aus irgendeinem Grund haben sich vorwiegend Israelis ausgerechnet einen Ort zum intensivem Drogenkonsum ausgesucht, der den Hindus so heilig ist, dass sie dort noch nicht einmal Eier konsumieren, geschweige denn Fleisch oder Alkohol. Auf M.s und mein Kuchenabenteuer in Pushkar, möchte ich lieber nicht näher eingehen.

Alle, die nach Pushkar kommen, außer uns und den Israelis haben trotz fortgeschrittenen Alters Rastalocken oder Vollbärte und hüllen sich in bizarre Gewänder. Ziemlich bald fingen M. und ich an, nicht mehr barfüßige indische Pilgerer in Gandhi-Hosen und orangefarbenen Turbanen mit unserer Kamera zu jagen, sondern auch die westlichen Heilsuchenden, deren Klamotten in der Heimat schon seit mehr als 30 Jahren aus der Mode gekommen sind. Dafür jagten Mellie und mich jene indischen Pilgerer, die sich noch nicht von allen irdischen Leidenschaften, insbesondere nicht von ihrer Kamera losgesagt haben, bevor sie sich mit einem beherzten Sprung in den Pushkarsee von allem Übel reinigten. Kaum einer unter ihnen, der nicht den Unterschied fotografisch festhalten wollte, der zwischen der Körpergröße ihrer Familienmitglieder und ihnen einerseits und M.s und meiner andererseits klaffte. Während die eine Hälfte von Pushkar also bettelt und im See badet, ist die andere Hälfte damit beschäftigt, sich gegenseitig zu fotografieren. Ihr könnt Euch vorstellen, was für ein lustiges und buntes Treiben das ergibt.

Trotzdem konnten M. uns ich uns irgendwann losreißen, um uns die majestätische Festung von Jodhpur, seinen chaotischen Basar und die indigofarbenen Bramahnenhäuser anzusehen. Aber davon berichte ich nächstes Mal.

Sonntag, 18. November 2007

On strike again

And here we go again: nation-wide public transport strikes are disrupting the holy trinity of Parisian life, métro-boulot-dodo (subway-work-sleep). If you have never lived through this, you have never lived in France.

Personally, I am lucky, because I live and work on line number 1, which runs relatively well. But given that it has to accomodate all the people who ususally take other lines, that still means you have to squeeze in a wagon like cattle on their way to Chicago Market. After I panicked the first night on my way home, as more cattle kept entering the wagon to squeeze me just a little further each time, while Stephen tried to console me by pointing out how much worse it is in Tokio where people go through this every night to the point that some of the smaller folks are lifted from the floor their feet hanging in the air, I got off at Tuileries swearing that I would not set another foot in the metro while the strike was ongoing.

And I haven't. I am an old strike veteran and I know what to do. I borrowed a bike from Stephen the same night. The evening before the strikes resurged I went to Go Sport to buy some utensils that are good to have in Parisian traffic at night, such as light. Only I hadn't factored in how much vélib had changed Parisians' attitude towards bikes. Putting on an expert face people, who just a few weeks ago would not even have dreamt about riding a bike and probably don't know how, were inspecting all the biking accessories you can think of - or at least those that the rest of the locust swarm had forgotten in the shop. Not only lights were in high demand, but also helmets, although not by women with any self-esteem, because generally in France you loose your femininity the minute you start wearing comfortable shoes. Even those luminous shirts that help contruction workers not to get run over by cars while their are working boasted some fans. Luckily, I was swift and expert enough to catch one of the last lights that were any good. I also forgot about self-esteem, after all I am not French, and I went as far as buying a helmet. Like French women I have my aesthetical and practical reasons for not wearing them at home. You risk carrying them around in Berlin's bars and night clubs for the rest of the evening and this may well keep you from becoming that night's queen of the scene, not least because you have no hand free to hug the men whom you are kissing. But then again in Berlin it is the bike that is the king of the road. Here you have to take some precautions, or you may simply not get any chance anymore to kiss anyone at all.

Now I pedal every morning and every evening an hour, or an hour and a half, or so from Bastille to La Défense and back, and while I do, I have to fight my own battles with drivers losing their nerve in traffic jams. So it's not the case that you avoid battling when boycotting crowded metro lines. Nevertheless, I consider myself to be among the more mobile and luckier citizens of this city at the moment.

Sure enough, the strike does make small-talk more interesting, as it moves it a bit from trivial comments on today's weather to more interesting details of some of your latest adventures on your trips through the city or to the more philosophical question as to whether or not the train drivers are right to go on strike. Most of the angry commuters will tell you that they are not and that they themselves dislike becoming "hostages" of people who ask them for solidarity in their fight against a reform of a pension regime that allows its beneficiaries to start taking out a pension between 50 and 55, while the majority of the hostages has to work a little longer. But there are other voices. My friend Josiane thinks that the job situation of the lower and middle classes has not done anything but deteriorate over the last ten or twenty years, and rather than being openly hostile people should applaude those who stand up and fight for their acquired rights, not least because a number of the jobs on special pension regimes are physically harmful. As an example she likes to mention her brother who laquers buses day in and day out and with the laquer threatening to harm his respiratory system she thinks he should not be doing this job beyond age 55. To be sure, while this is probably true for her brother's profession, it is not for most the jobs covered by special pension regimes that have allowed people to retire early ever since the 19th century, when driving a train or burning the coal was indeed both physically demanding and harmful.

The heartthrob has another argument. To fully appreciate it you have to consider that he is a veteran of the young socialists' left wing who rejoiced upon the arrival of the current credit crunch because he believes it to be final stroke that is going to wipe out capitalism. He says, he hasn't understood the railway people to be fighting for an early pension for all those who are doing a physically straining or harmful job today, but he has understood them to be fighting for their own early pension, regardless of how straining their job is.

So maybe some of the people from far-away suburbs, who need to get to a job where they are only paid when they actually perform it, have a point when they say they have trouble feeling solidaric with the railway strikers.

On the other extreme, someone at work sent around a citation from a magazine that considered strikers to be bloody-minded, as they were defending their "excessive privileges". People at my workplace are exempt from paying income tax. They tend to live in rich suburbs and if there is no RER suburban train that brings them to La Défense, the only thing they have to do is pool places in their luxury cars and get up a little earlier to avoid the traffic jams. Considering this background, it does require some chutzpa to comment like that when people who hardly earn more than the minimum wage prefer giving it a try and fight to see whether they can rally some public support for their cause. They probably cannot, anyway. On the other hand, maybe the people at work would be happy to pay income tax without any protest if only they were asked to do so. That's a possibility.

Personally, I take the situation more like my friend Sébastien who says he likes it when things are not going so smoothly all the time. And I am sure that the strikes are good for public health, as people walk and bike more. Except you should not breath while in the streets as pollution has increased tremendously.

Samstag, 17. November 2007

Pariser Streiks 2003

Wie jeder weiß, sind Franzosen spätestens von Mitte fünfzig an vornehmlich mit Boules spielen beschäftigt, und dabei wünschen nicht gestört zu werden. Wenn sie eins nicht leiden können, dann ist es, wenn die Regierung ihnen mit Reformen der Alterssicherung kommt, die nur eins zum Ziel haben: Sie davon abzuhalten. Um ihrem Ärger darüber gebührend Ausdruck zu verleihen, streikten sich die Gewerkschaften und ihre Anhänger den Frühling über immer mehr in Ekstase und legten gelegentlich auch mal Feuer.

Susanne kam zum 1.-Mai-Wochenende eigens aus Kreuzberg zur Schulung angereist. Im nächsten Jahr will sie nun, die nie ein Wort französisch in der Schule gelernt hat, die Maifeierlichkeiten in Berlin mit unserem kämpferischem Retraîte-Lied, der französischen Ruhestandshymne, anheizen.

Mit der Metro kann man nur fahren, wenn man viel Glück und Geduld hat. Deswegen sause ich seit Wochen mit meinem schnellen Stevens-Fahrrad jeden Morgen an zahlreichen Monumenten vorbei einmal quer durch Paris – Place des Vosges, Hotel de Ville, Louvre, Place de la Concorde, ein schneller Blick auf den Eiffelturm umwölkt von frühmorgendlichen Nebelschwaden und dann ab durch die Mitte zur OECD am Bois de Boulogne. Dabei biete ich den brutalen Pariser Autofahrern die Stirn, wenn auch von unerschrocken keine Rede sein kann. Am schlimmsten sind die reichen, jungen Frauen aus dem 16. Arrondissement mit ihren deutschen Luxuswagen. Gerne überholen sie auf engen Kreuzungen von rechts oder schießen aus Garageneinfahrten heraus und schneiden den Radfahrerinnen aus Deutschland den Weg ab, nur um ihnen danach auch noch einen Vogel zu zeigen. Dem gehen gelegentlich wütende Gesten und zahlreiche Unflätigkeiten in deutscher Sprache voraus. Ich weiß nicht, wie gut diese Damen Deutsch sprechen, aber anscheinend verstehen sie ganz gut, was ich ihnen zu sagen haben.

Mein persönlichen Streikhöhepunkt erlebte ich am Mittwoch, als ich eine ganze Gruppe von Freunden in mein Arrondissement gelockt hatte, um ein Theaterstück anlässlich des Festivals "Onze Bouge" (Das Elfte in Bewegung) anzusehen. Nachdem wir alle völlig abgehetzt, Madame Corbeau noch im Büroanzug, in freudiger Erwartung Platz genommen hatten, präsentierte sich das Ensemble kostümlos und ungeschminkt auf der Bühne und verkündete feierlich, sie hätten nach langen Diskussionen die ÄUßerst schwierige Entscheidung getroffen, aus Solidarität zu streiken. Die Diskussionen dieser Künstler stelle ich mir so ähnlich vor wie die meiner Pädagogen von "Educación para todos", die auch schon mal zu dem Schluss kamen, es sei eurozentrisch und repressiv, von lateinamerikanischen Kindern zu verlangen, sich zu waschen.

Da meine analytisch veranlagte Cousine von der Firma Siemens nach meiner letzten email diagnostizierte, ich hätte sieben achtel von der Freizeit gesprochen und ein achtel vom Beruf – und im geheimen zog sie daraus wohl alle möglichen unzulässigen Schlüsse – will ich mich diesmal ein wenig auf die Arbeit konzentrieren. Genauer auf das Alora-Interdirektorats-Fußballturnier, bei dem ich mich zu einer Organisations-weit bekannten Mittelstürmerin und Spitzentorjägerin meiner Mannschaft gemausert habe. Das zahlt sich auch im engeren Sinne beruflich aus. Denn nachdem es mir im allerletzten Spiel mit einem spektakulären Treffer aus dem vollen Lauf gelang, der Mannschaft von Wissenschaft und Technologie doch noch einen Sieg zu bescheren, so dass wir Dritter und damit Pokalträger anstatt Vierter und Letzter wurden, verlangte Martin Schaaper von meinem Abteilungsleiter, er solle dafür Sorge tragen, dass ich bliebe. Martin Schaaper ist jener Holländer, der genetisch bedingt alle Deutschen hasst, aber offenbar doch nur dann, wenn sie Tore gegen Holland anstatt für sein Direktorat zu schießen.
Die Trainer des siegreichen Teams von Arbeitsmarkt und Soziales offenbarten mir beim OECD-Sommerfest, daß sie eigens eine Strategie entwickelt hätten, wie man mich stoppen könnte, und ein besorgter Unbekannter schenkte mir vorgestern Knieschützer. Die lagen auf meinem Schreibtisch, als ich von einer Besprechung wiederkam.

Meine Nachbarn sind weiterhin die besten Nachbarn der Welt. Sonnabends gehen wir entweder alle zusammen zum Markt oder wir gehen im Bois de Vincennes joggen. Mindestens zweimal die Woche finde ich eine Nachricht an der Tür, ich solle auf ihren Balkon kommen, sie würden grillen, ich bräuchte mich um nichts zu kümmern, und wenn mein Fahrrad kaputt ist, reparieren sie es mir. Bei der "Fête de la Musique" habe ich den gesamten Rest der Nachbarn kennen gelernt, weil alle Tische und Stühle in die Passage stellten und bis morgens um vier zusammen scherzten, lachten und die Laute schlugen. Jetzt ruft Thierry immer aus dem Fenster, wenn ich vorbeilaufe, und erklärt mir, Karine habe gerade vom Schwimmbad aus angerufen, die Kinder hätten Hunger, und ob ich mich meinte, er solle Melone in den Salat tun.

Von einem mir namentlich nicht bekannten Nachbarn, oder einem der sich in unserem Stadtviertel verlaufen hatte und wohl unter Drogensucht leidet, bin ich vor einigen Wochen nachts vor meiner Haustür ausgeraubt worden. Abgesehen davon, dass es sich um einen Räuber handelte, war er jedoch fast genauso höflich wie die anderen Nachbarn, nur etwas nervöser. Er siezte mich ordnungsgemäß, und gab mir sogar mein Handy zurück, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ich ihm streng nach Lonely-Planet-Vorschriften für den Umgang mit bewaffneten Überfällen in Entwicklungsländern widerstandslos mein gesamtes Bargeld gegeben. Weil das oft gefragt wird, sollte ich hinzufügen, dass ich nicht zu sagen vermag, ob der Mann bewaffnet war. Er war muskulös genug, dass ich es auf einen Zweikampf auch ohne Waffen nicht ankommen lassen wollte. Aber ich muss jetzt dringend einen Brief an Lonely-Planet schreiben, dass mir die Brasilianer aus den Elendsvierteln von Rio de Janeiro, die Streetgangs aus den Bronx , die kolumbianischen Guerilleros und die mexikanischen Drogenbarone nie auch nur ein Haar gekrümmt haben. Jedoch ist mein Vater mal am hellichten Tage am Maschsee ausgeraubt worden und ich in Paris. Wirklich gefährlich ist es nur in der Europäischen Union.

Der Neffe von meinem marokkanischen Tante-Emma-Laden an der Ecke, der manchmal dort aushilft, promoviert in Anthropologie, wie sich herausstellte. Jetzt verstehe ich auch, warum er sofort mit Kennermiene ausrief "Ah, sie sind Deutsche", als ich mit meine Jutesack aufschlug. Mit seinem Onkel besprach ich unlängst die Wahlen für die Vertreter im Zentralrat der französischen Muslime, die zum Entsetzen des Imam von Paris und aller nicht-muslimischen Franzosen in den meisten Départements die Islamisten gewannen. Jetzt will Sarkozy, der gemäßigte Innenminister, der auch gerne im Land der Liebe die Prostitution abschaffen würde, dass der Imam von Paris den Zentralrat leitet. Aber der ist nicht gewählt worden, und das ist keine Demokratie, findet mein marokkanischer Tante-Emma-Ladenbesitzer. Er selbst hat allerdings nicht mitgewählt. Politik interessiert ihn nicht, sagt er, und religiös ist er auch nicht. Das einzige, was wirklich zählt im Leben ist seiner Meinung nach das Geld.

Meine Abteilung zieht dieses Wochenende nach La Défense in ein Hochhaus um, wo ich mit Mosahid, einem britischen Statistiker bengalischer Herkunft ein Büro teile. Er hat mich beim Abschiedsumtrunk darauf vorbereitet, dass es noch nie eine Kollegin von ihm länger als drei Wochen mit ihm in einem Büro aus gehalten hätte. Ich weiß nicht so genau, was er tut, vielleicht verlangt er, dass ich in Burka zur Arbeit komme, oder er betet fünfmal am Tag in Richtung Mekka. Die Tatsache, dass er wie alle anderen Moslems natürlich auch, ein Terrorist ist, hätte den Vorteil, dass ich wisse, worauf ich mich einzustellen hätte, wenn er mit Fallschirm zur Arbeit kommt, führte er mir vor Augen. Er ist sich natürlich nicht über meinen kulturellen Hintergrund im Klaren und weiß nicht, dass ich den Fallschirm eher besorgt so interpretieren würde, er wolle bei den nächsten Delegiertenwahlen für den Zentralrat der Muslime 18 Prozent erreichen und sei außerdem suizidgefährdet. Aber wir werden uns schon aufeinander einstellen.

Dienstag, 6. November 2007

Le charmeur de la ligne une

Le métro commence à se remplir à Chatelet. Avec ma voisine on se lève, comme il faut, de nos sièges pliables, à la même seconde, comme si on avait passé notre enfance à nous entraîner ensemble en natation synchronisée. Et ça pour une première action dans la journée, avec une femme parfaitement inconnue, c'est pas mal. Je suis très satisfaite. La petite performance n' est pas passée inaperçue auprès du monsieur arabo-français pour lequel on a crée de la place. Il s'incline légèrement, la main sur le coeur, et il nous dit avec un fin sourire: "Merci, mesdames, mais il ne fallait pas."

Interaction, reconnaissance, humour, moquerie. Qu' est-ce qu' on peut attendre de plus d' un matin parisien dans le métro?

Samstag, 3. November 2007

Berliner Trunkenbolde

Wie saßen friedlich und zufrieden mit dem Leben in der Berliner Herbstsonne, als ein älterer Mann aus der Kneipe kam und krachend zu Boden ging , während er mit seinen Krücken hilflos in der Luft fuchtelte. Zusammen mit einer anderen Frau, die sich auch für alles persönlich verantwortlich fühlt, lief ich sofort zu ihm, um ihm wieder auf die Beine zu helfen.

" Dit war nur dit olle Stolpern", erläuterte er überzeugend und strahlte uns vom Boden aus gewinnend an.

Nach zwei gescheiterten Versuchen, dem Mann wieder auf Beine und Krücken zu helfen, bestätigte er mir und der anderen Helfersyndrom-Frau mit der gleichen wegwerfenden Handbewegung von eben die banale Ursache seines Falls, wahrscheinlich um uns zu beruhigen. Er forderte uns auf, uns in Geduld zu üben. Da würden gleich starke Männer kommen, die die Last schon zu tragen wüßten.

In der Tat, es dauerte nicht lange und zwei weitere Trunkenbolde kamen lärmend aus der Kneipe. Sie begrüßten unseren am Boden liegenden Helden mit einem gut gelaunten " Ach, Paule biste schon wieder hinjefallen. Denn komm' mal her!" Zwar schwankten auch diese Männer bedenklich, aber sie hatten genug Übung, um Paule aufzurichten und samt Krücken über die Straße zu lotsen. Und das obwohl er nicht nur sturzbetrunken war sondern auch schwer gelähmt, wie mir bewußt wurde, als ich seine Gehversuche beobachtete.

Zum Abschied winkte er uns, schenkte uns ein drittes gewinnendes Lächeln und bedankte sich formvollendet für unseren Einsatz. Mir war fast, als hätte es sich kaum merklich, doch sehr elegant verbeugt, während er wie ein nasser Sack über den Schultern seiner Saufkumpanen hing.

Schnauze hin, Schnauze her, die Berliner haben viel Charme, wenn sie wollen, auch wenn sie ihre Beine nicht mehr bewegen können und schon längst am Boden liegen. Oder vielleicht gerade dann.

Harlem für Ignoranten

Email vom 27. Oktober 2000:

Mein "Ethnic New York" Buch ist ein Juwel. Es hat mich nach "Little Odessa" in Brooklyn geführt, wo ich Borscht essen und mich in Russland wähnen durfte (weil ich es nicht von der Ukraine unterscheiden kann) und es hat mich alles gelehrt, was ich über deutsche Einwanderer in New York und über die jüdische Bevölkerung von der Lower East Side weiß. Na klar fühlte ich mich wunderbar beraten, als ich mich am Sonntag einem Hinweis dieses Buches folgend nach Harlem aufmachte, um einer Gospel-Messe in der New Canaan Baptist Church beizuwohnen!

Wer außer mir kommt schon auf solch eine exotische Idee? Alle! Und der nette Türsteher vor der New Canaan Baptist Church, gab uns deutlich zu verstehen, dass Kirchgänger in Harlem nicht viel von Besuchern halten, die südlich der 110ten Strasse - womöglich noch in einem Hotel - leben.

Trotzdem waren wir so leichtsinnig, uns in die Nachbarkirche lotsen zu lassen, wo sie doch tatsächlich eine Galerie für Menschen wie mich haben - die Gemeinde sitzt unten. Was soll ich sagen - ich habe mich schon lange nicht mehr so geschämt! Die Leute sind aufgestanden, haben laut geredet, gut die Hälfte hat die Kollekte ignoriert, einer hat fotografiert (!) und alle sind früher gegangen...

Nun, inzwischen bin ich zu der schlauen Erkenntnis gekommen, daß es vielleicht nicht so eine gute Idee ist, in anderer Leute Gottesdienst zu gehen, "weil man es gerne mal sehen möchte". Aber soll ich ehrlich sein? Ich bin doch froh, daß ich einmal gedankenlos genug war, es doch zu tun. Der Priester war ein Bild von einem Zwei-Meter-Mann und hat bei seiner Predigt, die auch nicht die Spur an irgendein Evangelium angelehnt war, Witze gemacht, gelacht, und sich manchmal richtig in Rage geredet. Die Gemeinde antwortet "yeah", "that's right" und klatscht, und natürlich sind Gesang und Instrumentalmusik unschlagbar.

Wenn Pastor Gildemeister nur ein bißchen mehr so gepredigt und womöglich dadurch die alten Damen vom Ebersberg zu frenetischem Klatschen und "Ja, das ist richtig"-Rufen animiert hätte, dann wären wir auch nach unserer Konfirmation noch das eine oder andere Mal in der Kirche aufgelaufen, anstatt immer im TV Springe herumzulungern...

Wie auch immer, das Soul-Food bei Sylvia's hinterher war lecker. Nachdem wir Curzio auf unergründete Weise im Central Park verloren hatten, fingen Sybille und ich - aus Frust - an, uns die Westseite von Manhattan herunterzutrinken. Ich bin nur froh, dass wir zwischen der 50ten und der 14ten Strasse doch auch mal in eine U-Bahn geklettert sind. Bei einem "Dirty Martini" (70te Strasse) stellte sich heraus, dass sie zwar mit 23 BWL-Examen hatte, mit 26 Steuerberaterexamen und mit 29 Prokura bei der KPMG, aber mit 30 immer noch keine Zigarette in der Hand. Bei Rotwein, Margaritha und Corona hat sie gelernt, wie man so geschickt pafft wie ich. Jetzt sind wir alle beide cool und haben nie Kopfschmerzen.

Besonders gefällt die New Yorker Institution des spontanen Passanten-Komplimentes! Am häufigsten hoere ich "ooooh, coooooool". Damit die Ladykiller aus dem 439 nun nicht um ihre Position fürchten müssen, sollte ich dazu sagen, dass sich dieser Ausruf nicht auf mich als Person, sondern auf meine Jeans mit dem irren Muster am Aufschlag bezieht (danke, Mama!). Neulich wäre ich fast nicht mehr zu Hause angekommen, weil ein Passant anfing, seine eher allgemeine Bemerkung über mein angenehmes Äusseres mit blumigsten Beschreibungen zu präzisieren. Ich wäre ihm soooo gerne gefolgt, um noch ein bißchen zuzuhören... Meine Lieblingsgeschichte handelt allerdings von dem jungen Mann, der mich erst mit einem Plastikbecher in der Hand anbettelte, und mir, als ich abwinkte und eilig weiterging, hinterherrief: "I like the way you walk!" Können sie so etwas nicht auch auf der Osterstrasse einführen?

A propos Plastikbecher, ob Ihr es glaubt oder nicht, in der Metropolitan Opera perlt die Witwe Cliquot nicht im Glase, sondern - im Plastikbecher. Da haben wir es mal wieder, die Amerikaner und die Kultur.

Die Subway Series haben wir gestern auch hinter uns gebracht. Aus irgendeinem Grund haben die Mets und die Yankees (erinnert Ihr Euch?) vergangene Woche JEDEN EINZELNEN Abend gegeneinander Baseball gespielt. Da lob ich mir doch den Fußball, da ist der Ball rund und man kann sich sicher sein, daß das Spiel nach 90 Minuten vorbei ist...

Alles über Baseball

Email vom 18. Oktober 2000:

Vergeßt die Presidential Debate (wie war's?) - hier in New York haben wir uns gestern nur für die Yankees interessiert.

Dem Bummel durch unsere Puschenkneipen haben Curzio und ich es zu verdanken, daß wir jetzt große Baseballexperten sind. Woody Allen hat uns die Regeln erklärt. Woody Allen heißt eigentlich John und wohnt in Brooklyn. Er begleitet seine Mitbewohnerin Susan ab und zu in unser Viertel - sie hat früher mit ihrem Mann in unserer Straße gewohnt.

Eigentlich wollte Susan mir Baseball erklären . Wie es sich mit den Mets und den Yankees verhält, habe ich auch sofort verstanden. Die Yankees sind erfolgreicher, aber die Mets sind das Working Class Team und jeder ECHTE New Yorker ist Mets Fan. Das ist einfach, wie beim HSV und St. Pauli eben...Danach war Susan jedoch zu sehr damit beschäftigt, Witze mit sexueller Konnotation in Überzimmerlautstärke zu erzählen und dabei ihren Rock hochzureißen, um dem Barkeeper ihre halterlosen Strümpfe zu zeigen. Woody Allen, alias John, vornehm und ein wenig verklemmt, wie er nun einmal ist, war das alles sichtlich peinlich, besonders als sie mit schriller Stimme die übrigen Gäste wissen ließ, daß sie ihre Sexualpartner nicht mit nach Hause bringen dürfe. "Please don't talk for me...", bat er sie gequält.

Ergebnis der ganzen Affäre war, daß ich bis zu diesem Punkt noch nicht mehr über Baseball wußte, als was es bedeutet, wenn ein Mann bei einer Frau "first base toucht" (er darf ihre Brust berühren). Second base - unbestimmte Handbewegung in Richtung Schoß - third base haben wir aus irgendeinem Grund übersprungen und homerun - "oh, you know, he got there all the way...". Einer Rückfrage meinerseits konnte John schließlich entnehmen, dass ich nach einer halben Stunde die Grundprinzipien des Baseballs noch nicht kannte. Schließlich übernahm er den Unterricht mit rührender Geduld. Susan führte meine Verständnisschwierigkeiten übrigens darauf zurück, daß ich nicht middle-aged und desperate sei, so wie sie. Aber seit John mich instruiert hat, weiß ich bestens Bescheid: two outs and one inning, to steal a base, baseball is game of threes etc. pp. Wenn ich das nächste Mal in diese Kneipe gehe, werde ich John die Abseitsfalle erklären.

Daß die Yankees gewonnen haben - Einzug in die Final Division zum ersten mal seit Eisenhowers Präsidentschaft - weiß ich deswegen, weil Curzio heute morgen, als er aufgewacht ist, unsere Nachbarn imitiert hat: Yeahhh, we got it, yeaaah, yeaaaahh. Offenbar hat der Ärmste nicht so gut geschlafen.

Wenn Curzio die Nachrichten einschaltet, brüllt er immer laut "CNN breaking news". Dann steht er vorm Fernseher, fuchtelt wild mit den Armen und ruft „okay, okay“. Er sagt, er muß Englisch üben.

Seit wir über das entsetzliche Sprachchaos, das wir anfänglich verbreiteten, beide drohten die Kenntnis unserer Muttersprache zu verlieren, haben wir einen strengen Plan: montags, mittwochs und freitags Italienisch und dienstags, donnerstags und sonnabends Deutsch. Was wir mit dem Sonntag machen wissen wir noch nicht so genau. Wir haben erst einen zusammen erlebt, und da waren Jenny und Rodrigo zu Besuch, und sind mit uns durch den Central Park gehetzt, als würden die Russen kommen oder als müßten sie zur Arbeit. Jenny mußte sich alle fünf Minuten hinsetzen, weil sie nicht mehr konnte. Langsamer gehen wollte sie aber auch nicht: "Oh nooo, that way I won't burn any fat..." Für mich hat das vor allem zur Folge, daß Curzio jetzt immer "fat burn, fat burn" ruft, wenn er spazieren geht.

Übrigens wohnen Curzio und ich in Hell's Kitchen, haben wir herausgefunden. Kennt einer diesen Film mit den vier Jugendlichen, die irgendein Bagatell-Delikt begehen und dafür ins Jugendgefängnis kommen, wo sie jahrelang sexuell missbraucht werden - Robert de Niro (Robert de Niro?) spielt den Priester? Das ist bei uns.

Ich bin inzwischen dick befreundet mit dem albanischen Türsteher eines italienischen Restaurants in unserer Strasse. Er hat lange Zeit in Düsseldorf gearbeitet, und seit er weiß, daß ich Deutsche bin, wedelt er immer aufgeregt mit seinen deutschen Fußballmagazinen ("Otto Rehhagel - Pro und Kontra") , die er gerne liest, wenn gerade nicht so viel Kundenverkehr ist. Er wohnt in den Bronx und fühlt sich da sehr wohl. Hell’s Kitchen findet er überteuert. Da ist allerdings etwas dran...

New York ist ein Dorf

Email vom 11. Oktober 2000:

Inzwischen hat es hier einen mächtigen Temperatursturz gegeben. Mit Fahrenheit kenne ich mich nicht so recht aus, aber ich tippe Temperaturen nahe null Grad Celsius. Letzte Woche bin ich noch im T-Shirt herumgelaufen. An der NYU wird noch nicht geheizt, dafür kann man in unserer Wohnung die Heizung nicht herunterschalten. Nd. und Ayda springen den ganzen Tag um mich herum und haben Angst, daß ich krank werde, nötigen mir die einzigen elektrischen Heizkörper des Instituts auf etc. etc. Genaugenommen ist Nd. selbst schon erkältet. Hat es sich aber trotzdem nicht nehmen lassen von seinem Krankenlager aus im Büro anzurufen, um sich nach MEINEM Wohlbefinden zu erkundigen.

Wenn Ayda (unsere armenisch-türkische Sekretärin) gerade mal nicht mit einem Heizkörper hinter mir herläuft, zieht sie kämpferische Parolen skandierend durch New York. Zunächst dachte ich, dass sie sich NUR für das Recht der Studenten einsetzt, Gewerkschaften zu bilden - offenbar wehrt sich die NYU mit Händen, Füßen und teuersten Anwälten dagegen. Inzwischen habe ich mitbekommen, daß sie auch für Palästinenser und dergleichen auf die Strasse geht. Wenn Nd. sie ins Wochenende verabschiedet, trägt er ihr immer noch auf, sich zu melden, wenn sie verhaftet wird. Übermorgen gehen Ayda und ich afghanisch essen. Nd. soll das Restaurant empfehlen, denn der ist ja Afghane.

Wer sagt, daß man nur in Freiburg Leute trifft, die man nicht treffen will? Den ganzen Sonntag über habe ich mich bei herrlichstem Sonnenschein im Central-Park über das Schnippchen gefreut, das Sybille und ich am Vorabend so einem Händler von der Warenbörse geschlagen hatten, der uns im Eastvillage aufgegabelt hat: Erst die ganze Nacht von In-Kneipe zu In-Kneipe führen lassen - mächtig Spaß gehabt- und am Ende die Telefonnummer nicht herausrücken. Hat zwar gestimmt, daß ich sie nicht erinnern konnte, aber geglaubt hat der das nicht.

Und was passiert, als ich am nächsten Tag behende zum Pier 16 am East-River zum Open-Air-Tango eile, um Corinna nicht länger zu enttäuschen? Sobald ich aus der U-Bahn steige, stolpere ich über den Händler, der sich hocherfreut zeigt, auf einen Drink mit Blick auf Sonnenuntergang über Brooklyn besteht und darauf, beim Tango zugucken zu dürfen. Habt Ihr dafür noch Töne? Damit aber nicht genug, er hat mich auch noch in der gesamten New Yorker Tangoszene unmöglich gemacht, indem ER einen Mann für mich aufgefordert hat (kolumbianische Eltern, ihr wißt schon...). Mein verdutzter Tanzpartner - will sagen, so verdutzt wie ich - hatte gerade noch die Kraft mich sichtlich gequält zu fragen, ob ich meinen "husband into tango" kriegen wollte. Der Händler hat hinterher versucht mich mit Bier und Bratwürstchen im "Hallo Berlin" (echte Zille-Litographien an den Wänden) wieder milde zu stimmen.

Eine noch weniger gute Figur machte ich vergangenen Mittwoch, als ich mich nach der Arbeit von einem Kamerateam von Channel 66 zu einem Witz habe nötigen ließ. Vor lauter Schreck fiel mir nur ein schmutziger Witz ein ("warum können Frauen nicht einparken.."). Die Amerikaner hatten nichts davon, weil sie sich mit dem metrischen System nicht auskennen ("...weil Männer immer sagen, daß das 30 cm sind..."), und ich hatte nichts davon, weil mir danach einfiel, daß das eine oder andere Mitglied des economics departments vielleicht doch etwas davon versteht UND einen Fernseher zu Hause hat. Wenn Nad. es gesehen hat, hat er sich jedenfalls nichts anmerken lassen.

Ansonsten forsche ich wie ein Stier und versuche bibtex in mein Leben einzufuehren. Davon kann die eine oder andere von Euch bereits ein Lied singen. Heute abend versuche ich es noch einmal mit Tango. So klein Manhattan ist, dieser verfluchte Händler kann ja schließlich nicht überall sein...

Hell's Kitchen

Email vom 30 September 2000:

Inzwischen bin eine echte Manhattanite und eile morgens mit meinem Computer durch Midtown West anstatt durch die Grand Central Station. Das ist sehr angenehm, denn auf der Westseite sind die Menschen ein bißchen weniger hektisch als die Pendler im Osten.

Meine Wohnung ist in einer dieser Strassen wie man Sie aus dem Fernsehen kennt: Gußeiserne Treppen vor dem Eingang und Bäume (!) am Straßenrand. Von innen, wie gesagt, ein bißchen weniger Komfort. Beeindruckend ist vor allem die Statik: Es ist einfach alles schief - von den Schubladen, über den Herd bis hin zu den Türrahmen. Wird wohl nichts mit Türen aufhängen.

Jochen sagt, die Wohnung erinnert ihn an das Kabinett des Doktor Caligari. Wegen der Dusche in der Küche soll ich mich nicht so anstellen, meint er. Als er in Paris studiert hat, war sogar die Toilette in der Küche. Na, dagegen lebe ich ja in Saus und Braus!

Wahrscheinlich läuft Jochen gerade wie ein Zombie durch die Uni Hamburg und tritt Türen ein wie kurz vor seiner Abreise nach Berkeley. Seine Nerven sind bekanntlich etwas schwach, und er hatte einen schlechten Tag: Meinen Haustürschlüssel konnte er nicht verabredungsgemäß in den Briefkasten werfen, denn der hat gar keinen Schlitz (erster Kulturschock). Also hat er den Schlüssel dem Briefträger gegeben und ist mit einem schlechten Gewissen nach Deutschland geflogen, nur um festzustellen, dass er 1. seinen Schlüssel für die Wohnung in Berkeley bei mir vergessen hat, 2. sein Gepäck mit seinen Unterlagen für den Vortrag in Koblenz und seinem Anzug verloren gegangen ist. Wenn Ihr ihn trefft, könnt Ihr ihm sagen, daß ich immerhin den Schlüssel gefunden habe, und daß der Briefträger ein ehrlicher Mann ist.

Curzio kommt am 11. Oktober, und Hartmut hat angeordnet, dass ich VORHER zu Ikea fahre, um Vorhänge zu kaufen. Wir wollen bescheiden leben, aber nicht wie in Sodom und Gomorrha.
Da mir niemand von Euch Tips geben konnte, habe ich die nette israelische Fotografin einfach so auf die Piste gelockt wie ich es auch mit einer deutschen Frau gemacht hätte. Hat geklappt! Eigentlich ist sie Künstlerin, aber ihren Lebensunterhalt muß sie sich mit einer Arbeit im Fotolabor und wedding shootings am Wochenende verdienen. Demnächst hat sie eine Ausstellung in einem Friseursalon, und ich habe ihr fest versprochen zu kommen.

Beeindruckt bin ich von den Forschungsseminaren an der NYU. Es kommen immer ganz bekannte Leute und alle kennen sich und nennen sich gegenseitig Ned, Chad usw.. Die jungen Assistenzprofessoren beißen hier um sich wie die Schäferhunde, wenn sie Gelegenheit dazu haben. Scheint ein rauher Wind zu sein, der hier weht...

Deswegen, zurück zur Forschung...

Erste Schritte in NYC

Email vom 26. September 2000:

Nach 28 Jahren hat sich die Hartnäckigkeit einer Springer Standesbeamten ausgezahlt: Aus Sorge um mein Fortkommen und meine persönliche Entwicklung bestand sie neben N. auf einem echten Frauennamen. In einem Computer-Administrator jenseits des Atlantischen Ozeans hat sie jetzt einen einsamen Anhänger gefunden. Für den kam nur mein bislang nie gebrauchter Zweitname als email-Adresse in Frage.

Ich bin nicht nur endlich wieder im Netz, was immer das wichtigste ist, sondern darf mich vom 1. Oktober auch stolze Untermieterin eine 1 1/2- Zimmer-Wohnung nennen. Ich möchte die wunderbare Lage in Fußnähe zum Times Square unterstreichen - sicher bin ich bald ein Broadway-Star! Von innen ist sie allerdings nichts für schwache Nerven. An Fenstern und Licht wurde ein wenig gespart, dafür wird meine WG mit meinem Gerzenseekollegen dadurch umso offener und freundlicher, daß auch keine Türen vorhanden sind, wenn man von Eingangs- und Toilettentür einmal absieht. Curzio sagt, das ist nicht weiter schlimm. Ich soll ihm Bescheid sagen, wenn ich einen Mann nach Hause bringe, dann kommt er etwas später. Noch wohne ich bei meiner Freundin Jenny in Stamford, Connecticut. 50 Minuten Zugfahrt zur Grand Central Station - das ist ein Kinderspiel für jeden amerikanischen Pendler. Morgens komme ich mir immer mächtig wichtig vor, wenn ich mit meinem kleinen Labtop-Köfferchen den Zug besteige. Abends bringe mich meine Business-Kollegen aus dem Financial District im Zug jedoch mit hastigem Popcorn-Verzehr zur Weißglut.Mein verzweifelter Gesichtsausdruck während der dreitägigen Wohnungssuche hat immerhin dazu geführt, daß ich eine israelische Photographin aus Queens kennengelernt habe, die mich tatkräftig unterstützte. Weiß einer, wie man Israelinnen ins Kino oder in eine Bierkneipe ködert?

Meine Ruderfreundin Anke, die einen L.L.M-Grad an der NYU anstrebt, ist bereits perfekt integriert. Sie hat eine ziemlich nette dänische Mitbewohnerin, wohnt mitten in Greenwich Village und geht in Chinatown Gemüse einkaufen. Am Sonnabend hat sich mich auf eine Party in den Washington Heights mitgenommen. Ich fand, daß die nächtliche U-Bahn-Fahrt durch Harlem auch nichts für schwache Nerven war, aber meine Frauen blieben zu jedem Zeitpunkt locker und haben sich nichts anmerken lassen. Bloß als uns ein sehr freundlicher Senegalese, der des Deutschen immerhin soweit mächtig war, daß er "ich liebe dich" sagen konnte, auf dem Rückweg auf ein Bier nach Harlem einladen wollte, zeigten sie sich unwillig seine Kenntnisse angemessen zu würdigen. Entlohnt wurde der Abenteuertrip durch eine Party mit lauter Angestellten der Federal Reserve Bank of New York. Leider untere Chargen, sonst könnte ich daraus vielleicht Profit schlagen, wenn es mit der Broadway-Karriere doch nichts wird.

Mit Nd. bin ich bereits in Medias Res gegangen. Gestern große Lagebesprechung "to gain some speed". Er ist Araber oder vielleicht ein sephardischer Jude (das kommt von Jenny - ich dachte immer, die kommen aus Portugal und Spanien), die Sekretärin ist Politik-Studentin und Armenierin aus der Türkei und die beiden Assistenten sind Koreaner. Vielleicht will ja einer von denen mit mir Tango tanzen? Auf dem Gang sind auch viele Lateinamerikaner unterwegs, aber zumindestens die Männer gucken mich streng an, wenn ich grüße. Ob sich das für Frauen nicht schickt?

Diwali bleibt

Wegen der vielen besorgten Nachfragen (danke!) sollte ich vorausschicken, dass M. und ich weder Terroristen noch einem Zugunglück zum Opfer gefallen sind. Heike schrieb, in Delhi seien die Diwali-Feierlichkeiten wegen der Terroranschläge abgeblasen worden. Hier in Udaipur sind wir weit davon entfernt. Wir böllern uns langsam aber sicher auf den Höhepunkt zu. Genau genommen sitzen M. und ich in dem kleinen Internet-Shop neben unserem Hotel fest und haben keine Ahnung, wie wir ohne weißes Taschentuch an den Chinaböllern vorbei heil nach Hause gelangen sollen.Was die Terroristen angeht, sagen wir uns, dass wir immerhin mit dem Diwali-Fest den Sieg von Gut über Böse feiern. Wir wissen nicht genau, ob wir die Chinaböller überleben. Aber die Terroristen haben in diesem gewaltätigen Handgemenge allemal schlechte Karten.

Vorgestern kam die Göttin Lakschmi zu den Hindus nach Hause. Den Rest des Jahres sind die indischen Häuser so verstaubt wie sonst nur meine Reisehose. Aber wenn Lakschmi kommt, putzen die Inder ihre Häuser blitzeblank. Fast könnten sie es mit Oma und Frau Tessma aufnehmen. Schliesslich ist Lakschmi die Göttin des Reichtums und man weiss nie, was sie so hinterlässt, wenn ihr Besuch ein gutes Erlebnis war. Bablu hat uns erklärt, dass die Inder früher neues Geschirr kauften, um Lakschmi standesgemäß bewirten zu können. Heute ziehen sie Fernseher und Waschmaschinen vor. Auch der Geschmack der Hindu-Götter, so vermuten ihre Gefolgsleute, hat sich an die neuen Zeiten angepasst.

Besser als die Böllerei gefallen M. und mir die Öllampen, die die Inder überall aufstellen, und die Sterne, die sie vor ihre Türen auf die Straße malen.

Lakschmis Besuch fiel außerdem mit einem nationalen Diskoabend zusammen. Wir wurden von allen Dachterassen der Stadt mit Hindi-Pop und Punjabi-Rock beschallt. Da wollten M. und ich natürlich nicht fehlen und kletterten voll freudiger Erwartungen auf die nächstgelegene Terrasse. Dort tanzte eine wildgewordene Horde junger Inder, die allesamt ihre Frauen zu Hause vergessen hatten. Kommen später, erklärte mir mein erster Tanzpartner. Der zweite, der zum Auffordern galant auf die Knie gesunken war, vertraute mir an, dass sie zwar alle Hausfrauen zu Hause hätten, aber immer mal wieder gerne eine kleine Affäre dazwischen schöben. M. und mir ist ein Rätsel, wo sie die kennenlernen. Vielleicht brechen sie in die Häuser anderer wildender Familienväter ein und rauben deren Frauen und Töchter?

Bald begannen wir uns außerdem zu fragen, ob die Inder uns Drogen in das Bier mischen würden, um uns ungestört, unsere Schreie mit ohrenbetäubenden Punjabi-Rock übertönend, vergewaltigen zu können. Der Moment schien uns gekommen, den geordneten Rückzug anzutreten. In Ländern, in denen die Frauen zurückgezogen in hermetisch abgeriegelten Häusern leben, haben die jungen Männer derart dicke Eier, dass man stets fürchten muss, sie platzten im nächsten Moment mit der Wucht eines Chinaböllers. Aber für diese Malaise fühlen M. und ich uns nicht verantwortlich.

Gestern haben wir uns endlich einmal wieder der höheren Kultur zugewendet und in Ranakpur einen atemberaubenden Jain-Tempel auf 1444 Marmorsäulen angesehen, von denen keine der anderen gleicht. Die lebende Kreatur ist den Jains so wichtig, dass sie Mundschutz tragen, um nicht versehentlich Insekten zu ermorden. Ihre Mönche ziehen nackt durch die Lande, betteln und nennen lediglich eine Bürste ihr Eigen, mit der sie die Strasse vor sich fegen, um nicht versehentlich auf ein Lebewesen zu treten. Entsprechend friedlich und idyllisch ist auch die Atmosphäre in ihrem Tempel in einem üppig mit Palmen und bunten Blumen bewachsenen Tal.

Auf dem Weg nach Ranakpur konnten M. und ich uns einmal mehr davon überzeugen, dass in der Gegend zwischen Jodphur und Udaipur unter Schäfern derzeit neonfarbene Turbane in Mode sind. Vermutlich hat das praktische Gründe. Sie wollen schon von weitem Fahrer auf sich aufmerksam machen. Die bremsen, wie wir bereits gelernt haben, nur im Notfall ab, zum Beispiel wenn ihnen Kühe, Kamele oder Schafsherden in den Weg kommen, die nach jahrelangem, knallharten Training im indischen Straßenverkehr Philosophen geworden sind, zumindest aber taub für jedes Hupen.

Abends kamen M. und ich nicht umhin, uns auf Udaipurs romantischen Dachterassen “Octopussy” anzusehen, einen James Bond aus den siebzigerJahren, der zur Hälfte in Udaipur spielt. Wie wir feststellten, hat sich seitdem nicht viel verändert. Insbesondere können 007-Verfolgungsjagden nur solche Zuschauer beeindrucken, die nicht schon einige wilde indische Rikschafahrten hinter sich haben.

Heute haben M. und ich eine japanische Domina kennen gelernt und einen Schweizer Antiquitätenhändler, der sich der Shiva-Sekte angeschlossen hat und in seiner Freizeit für seine Kumpels mittelalterliche Ritterkostüme in Indien anfertigen lässt. Weil der uns aus Anlass des Diwali-Finales ein paar Biere ausgegeben hat, fühle ich mich außer Stande, Euch heute bereits jetzt alle Details zu berichten. Wir sprechen uns morgen.

Montag, 22. Oktober 2007

Die Ökospießer vom Kollwitzplatz

Es ist ein herrlich sonniger Oktobernachmittag am Kollwitzplatz. Unter den herbstlich verfärbten Bäumen bieten Gemüse-, Fisch und Fleischhändler schweigend ihre Waren an. Weil man damit allein hier niemanden mehr dazu bringen kann, den eifersüchtig gehüteten Sparstrumpf anzutasten, verkaufen außerdem Buchbinder ihre handgefertigte Ware zu Schleuderpreisen, Esoteriker bieten Drähte an, mit denen man sich selbst den Kopf kraulen kann, und der Falafelverkäufer macht sogar ein bißchen Stimmung auf arabische Art. Ein ganz besonders großer Witzbold versucht, sich von dem sinnenfeindlichen Zeitgeist loszusagen und gleichzeitig eine Tugend daraus zu machen, indem er voll feiner Ironie zu Currywurst Champagner anbietet.

Vor mir am Gemüsestand steht eine Frau, die danach aussieht, als hätte sie noch nie in ihrem Leben einen Lippenstift in die Hand genommen.

"Bela, haben wir noch Karotten?", ruft sie einem Mann mit Kinderwagen zu. Ich suche nach einem unterwürfigen Unterton, der meiner Meinung nach zu der schmucklosen Frau und ihrem streng dreinblickenden Mann passen würde. Aber wenn ich ehrlich bin, kann ich ihn nicht entdecken.

Bela ist groß, trägt weite, labbrige Leinenhosen und eine Frisur, die man in den achtziger Jahren als Pottschnitt bezeichnet hat.

"Ich will nicht, daß wir wieder den gleichen Fehler wie jedesmal machen und lauter Sachen einkaufen, die wir dann nicht kochen," antwortet er spitz. "Ich will erstmal zuhause in den Kühlschrank sehen.

Ich frage mich, warum er das nicht längst getan hat.

Die gleiche Konversation wiederholt sich in kaum abgewandelter Form für Äpfel, Zwiebel, Eier und Petersilie. Am Ende hat Belas Frau nichts gekauft und wir beschließen, daß dieser Ort eigentlich völlig tabu sein müßte, wenn es nicht überall sonst in Berlin noch viel schwieriger wäre, Nahrungsmittel von annehmbarer Qualität zu finden.

Wir kaufen Lammkeule mit ganz viel Gemüse für den Schmortopf, Bohnen, Pfifferlinge und Unmengen Käse. Wir müssen schließlich das Leben genießen, bis die Chinesen auch uns eingeholt haben und es endgültig vorbei ist mit dem Wohlstand. Dann ruft Heike an und schlägt uns vor, abends in die Oper zu gehen. Macht gar nichts, beschließen wir. Wir essen die Keule einfach morgen Abend um sechs nach einem verkürzten Arbeitstag kurz bevor ich abreise.

Die Lammkeule ißt der Schatz allein, oder das, was er schafft. Von den Bohnen bleibt fast nichts übrig, aber die Pfifferlinge muß er ungewaschen bei den Nachbarn abliefern, zusammen mit dem Käse.

Es wäre wahrscheinlich besser, wenn einer von uns mit Bela zusammenlebte.

Dienstag, 9. Oktober 2007

Die Kunst und ihr Publikum - Louvre

Früher ging ich mit Madame Corbeau ins Louvre, abends nach der Arbeit in die nocturne. Wir sahen uns in aller Ruhe einen Saal an, sammelten bei dem hübschen Garderobenmann ein paar Komplimente ein und kamen uns très culturelles vor. Danach glaubten wir, uns unseren Wein redlich verdient zu haben.

Neulich bin ich wieder hingegangen. Aber die Welt hat sich verändert. Vielleicht habe auch nur ich mich verändert. Fest steht: Das Louvre ist nicht mehr das, was es mal war.

Inzwischen haben die Touristen die nocturne entdeckt. Sie ziehen nun auch abends in wild lärmenden Horden durch die Säle und suchen zielstrebig nach der Mona Lisa. Dort haben sie inzwischen Bänder für die Warteschleife aufgestellt wie in Disneyland. Ordner mit Walkie-Talkie - alles Zweimetermänner - beherrschen die Szene und gebärden sich, als würden sie den CSU-Parteitag in Wildbad Kreuth bewachen oder in einer New Yorker Edeldisko den weniger Schönen und Reichen den Eintritt verwehren. Als ich vorsichtig meinen Kopf in die Saal steckte, wiesen sie gerade eine Gruppe von Rollstuhlfahrern ein. Jeder durfte einmal mit quietschenden Reifen auf das große Kunstwerk zufahren und kurz ein Foto machen, aber ohne Zögern, schließlich will jeder mal an der Reihe sein.

Nebenan ging eine Museumswärterin mit einem irren Lachen im Saal auf und ab und führte Selbstgespräche. Vielleicht hatte sie auch einen unsichtbaren Knopf im Ohr und kommunizierte mit den Walkie-Talkie-Männern. Trotzdem wurde mir mulmig zumute und ich eilte schnell weiter zur spanischen Renaissance. Dort fand ich mich allein neben einem Mann mit wild flackerndem Blick vor einem El Greco wieder, der in sein Handy brüllte als sei er mit dem Trading Floor der New Yorker Börse verbunden und wollte schleunigst alle seine Aktien von Unternehmen abstoßen, die sich mit US-Hypothekenkrediten von zweifelhafter Qualität verspekuliert hatten.

Bei mir wollte einfach nicht die für Kunst notwendige Muße aufkommen. Ich stürzte die nächst gelegene Treppe hinunter, nur um festzustellen, dass die Hälfte aller Ausgänge bereits geschlossen war. Nach einem nervenaufreibenden Galopp, treppauf, treppab und durch lange gewundene Gänge landete ich schließlich bei der Kunst aus Afrika und Polynesien. Zunächst atmete ich auf: Was für eine himmlische Ruhe! Und wie unglaublich, dass das Louvre auch noch ein reiche Sammlung afrikanischer Kunst im Keller versteckt! Aber dann mußte ich wieder an die irre Wärterin mit Knopf im Ohr denken und an den Aktienhändler mit dem flackernden Blick. Ich bekam Visionen, wie ich vor der Skulptur eines afrikanischen Fruchtbarkeitsgottes in einer vergessenen Sammlung im Keller des Louvre vergewaltigt werde und rettete mich in Panik zu dem letzten noch geöffneten Ausgang.

Das Louvre ohne Madame Corbeau ist so nervenaufraubend und gefährlich wie es einsam und freudlos ist.

Sonntag, 7. Oktober 2007

Velib

Die Stadt Paris setzt dieses Jahr all ihre Hoffnung in die Fahrradfahrer: Sie sollen die Autos von den Straßen verdrängen, die Lärmbelästigung verringern, die Luftqualität verbessern und aus den Parisern freundliche und rücksichtsvolle Bürger machen. Wahrscheinlich erhofft sich die Stadtverwaltung davon, dass Paris auf der Liste der lebenswertesten Städte der Erde von Platz vier noch weiter hochschnellt.

Damit die Radfahrern diesen Hoffnung gerecht werden können, hat sich die Stadtverwaltung mit der Privatwirtschaft zusammengetan und den Hit des Sommers kreiert: Vélib. Wer eine Jahresmetrofahrkarte hat oder genug Ausdauer, um an einem Fahrradkartenautomaten fünf Minuten lang verschiedene Nummern einzugeben, nur um dann festzustellen, dass der Automat kaputt ist oder alle funktionsfähigen Fahrräder unterwegs, der kann sich überall in der Stadt an irgendeiner Station ein Rad ausleihen und es später an einer beliebigen anderen Station wieder abgeben. Und wenn man nicht länger als eine halbe Stunden fährt, braucht man keinen Pfennig dazu zu zahlen. Es sei denn, man vesteht wie mein Freund Dave nicht, wie man das Fahrrad richtig in der Station wieder einklinkt. Solche Leute zahlen im Extremfall 150 Euro.

Stationen gibt es im Prinzip alle fünfhundert Meter. Allerdings sind die auf Hügeln meistens leer und die in den ebenen Straßen davor sind überfüllt. Die Stadtverwaltung hat nicht mit dem Sportsgeist der Pariser gerechnet. Angeblich hat sie vierhundert Leuten einstellen müssen, die die Fahrräder immer wieder gleichmäßig auf die Stationen verteilen.

Das Vélib ist wie gesagt der Sommerhit schlechthin, bis tief in den Herbst hinein, und jeder muss mitmachen. Natürlich sind wir auch mit von der Partie. Nachdem wir ein paar Sonntage damit verbracht haben, Nummern einzugeben und von Station zu Station zu laufen, um jedes Mal wieder mit neuen Problemen zu kämpfen, sind wir inzwischen schon ganz fixe Vélibentleiher geworden.

Nur an den Pariser Verkehr können wir uns nicht gewöhnen. Es gibt Leute, die behaupten, die vielen Radfahrer hätten das Bewusstsein der Pariser Autofahrer geschärft und sie führen jetzt viel vorsichtiger. Das kann ich nicht bestätigen. Besonders Rechtsabbieger sind und bleiben skrupellose Killer. Neben ihnen stehende Fahrradfahrer, die geradeaus fahren möchten, fahren sie um, dazu kennen sie keine Alternative. Der Schatz verdankt sein Leben nur meinem lautstarken Kopiloteneinsatz, bei dem ich auch in Kauf nahm, dass ältere Passanten sich durch meine Rufe in die Besatzungszeit zurückversetzt fühlten. Gestählt von diesen Begegnungen pfiff ich den nächsten Rechtsabbieger, der mir zuvorkommen wollte, mit noch viel energischeren Flüchen im Besatzungsmachtstakkato zurück. Und um ihm zu zeigen, wie ein deutscher Verkehrsteilnehmer auf sein Recht beharrt, stürzte ich mich mit meinem Fahrrad auf den Zebrastreifen für Fußgänger. Damit gelang es mir, doch noch vor ihm die Straße zu überqueren und ihn zum Warten zu zwingen. Bevor ich mich triumphierend zu dem Fahrer umblickte, konnte ich noch kurz auf der anderen Kreuzungsseite beobachten, wie der Schatz nach wilden Beleidigungen auf Deutsch gen Rechtsabbieger mit Schaum vor dem Mund "ja, Du" brüllte und seine wüsten Beschimpfungen mit obzsönen Gesten untermalte.

Als ich sah, wie perplex und verletzt der Rechtsabbieger uns beide ansah, kam mir der Gedanke, dass französische Rechtsabbieger womöglich gar nicht wissen, dass sie geradeaus fahrende Fahrräder nicht umfahren dürfen. Vielleicht ist die französische Straßenverkehrsordnung einfach nicht mit unserer vergleichbar. Wer weiß? Irgend so ein Gesetzeslücke, die in Brüssel noch niemandem aufgefallen ist.

Vielleicht sollten wir uns doch lieber darauf beschränken, in Paris unterirdisch am Straßenverkehr teilzunehmen.

Samstag, 6. Oktober 2007

Indien und Spiritualität

Der See in Pushkar - so will es die Legende - ist entstanden, als Brahma eine Lotusblume fallen ließ. Brahma ist der Chef des Hindu-Olymps. Vielleicht ist er sogar der einzige Hindu-Gott und alle weiteren Götter, die uns hier verwirren, sind lediglich andere Erscheinungsformen von ihm. Ich muss noch ein bisschen studieren, bis mir das ganz klar wird. In jedem Fall ist Pushkar wegen der Lotusblüte und des Sees ein heiliger Ort. In dem See können Hindus heilige Bäder nehmen und ausnahmsweise verbieten sie uns Touristen dort das Fotografieren.

Der Heiligkeit von Pushkar ist es geschuldet, dass es hier weder Fleisch noch Alkohol gibt. Es könnte sein, dass M. und ich es hier nicht allzu lange aushalten, obwohl es ausnahmsweise in den Straßen des Basars weder Autos noch Rikshas gibt und uns lediglich Motorräder und Kühe nach dem Leben trachten.

Von himmlischer Ruhe kann trotzdem nicht die Rede sein. Aus den Tempeln
rund um den See von Pushkar dröhnen Hare-Krishna-Gesänge im Multistereosound und mit ihren grell-bunt blinkenden Lichtern erinnern sie mich ein wenig an die Diskos, die ich in den achtziger Jahren regelmäßig besuchte.

Mehr noch als die gläubigen Hindus zieht die Spiritualität von Pushkar alle möglichen Weißen an, die mit langen Bärten undwallenden bunten Röcken auf der Suche nach Seelenheil und Drogen sind.Es mag zwar hier kein Bier geben, dafür schenken die Wirte in den verfallenen Baracken des Basars Bhang Lassi aus, ein indisches Joghurtgetränk, das jedem Berliner geläufig ist. Nur wird hier noch ein wenig Marihuana beigemischt wird. Auch an Yoga-Kursen, Ayurveda-Massagen, Reiki und Shiatsu fehlt es hier nicht.

In Pushkar habe ich manchmal das Gefühl, dass wir uns dem Greisenalter nähern. Wir erinnern mich erschreckend an meine Oma und ihre Putzfrau, Frau Tessma, die auf ihre alten Tage in identischen Kitteln mindestens drei Mal die Woche mit unbeschreiblichem Eifer, ja ich möchte fast sagen mit einem gewissen Fanatismus ein enwandfrei sauberes und nur von einer einzigen Person bewohntes Haus steril reinigten. Meiner Oma war es sehr wichtig, sich dafür rühmen zu können, dass man bei ihr ohne Bedenken vom Fußboden essen konnte. Leider sind die Leute im Calenberger Land in der Regel steif und interessieren sich nicht für ein Abendbot im Schneidersitz. Ich könnte heulen, wenn ich daran denke, was für eine tolle Inderin an meiner Oma verloren gegangen ist.

Um also auf die Paralellen zwischen Oma und Frau Tessma einerseits und M. und mir andererseits zurückzukommen: Während die Zwanzigjährigen Israelis hier unbekümmert in jede Basar-Baracke einkehren und sich an Bhang-Lassis und anderen lokalen Köstlichkeiten laben, betrachten wir mit Argusaugen und kaum verhohlenem Ekel die heilige Kuh, die über die Zutaten sabbert oder den Kellner, der in unseren von Raju - wie das Eingangsschild verheißt - mit Liebe zubereiteten Daal hustet. Dabei denken wir insgeheim mit Abscheu darüber nach, wie verfallen und heruntergekommen die Baracken aussehen, in denen die wahren Indienreisenden meditieren und konsumieren. Dann führen wir längere Diskussionen über Magenleiden, Typhus, Hepatitis A und Meningokokken-Meningitis. Demnächst fange wir an, uns gegenseitig aufzuzählen, wer von unseren Freunden noch alles am Leben ist.

Aber wir machen auch Fortschritte: Inzwischen springen wir schon ganz unbekümmert und behende über Kuhfladen- das ist schließlich auch nichts anderes als der Hundedreck in Paris. Man muss lediglich wegen der Größe zu einem noch etwas beherzteren Sprung ansetzen. Die Hamburger Kreischziegen werden sich noch mehr dafür interessieren, dass ich inzwischen auch an den heiligen Kühen nahezu unerschrocken vorbeiflaniere, die mangels Gras auf den Basaren gerne im Plastikabfall grasen. Diesen Mut kann nur würdigen, wer weiß, mit welcher Panik ich mich früher über saftig Wiesen mit friedlich grasenden Schweizer oder Schwarzwaldkühen gestürzt habe und welchen Schrecken mir die Enten an der Alster einjagten, wenn sie mit weit aufgerissenem Schnabel, wild zischend auf mich zustürmten.

Mal sehen, ob Yoga mir heute die Erfrischung schenkt, die die Nachtruhe mir nicht geben konnte. Schlafen kann bei diesen dröhnenden Hare-Krishna-Gesängen wohl nur, wer im Hinduismus sein Seelenheil gefunden hat. Zum Glück hat mir der Schatz versprochen, dass er mich mit geeigneten Gegendrogen aus Pushkar herausholt, sollte ich in drei Wochen hier immer noch im Lotussitz sitzen und nur aufstehen, um in den Basarbaracken Bhang-Lassi zu trinken.