Montag, 20. Juli 2009

Mein hübscher Ritter von der traurigen Gestalt

Den einzigen Regenschirm, den ich je wirklich besessen habe, schenkte mir ein Obdachloser.

Es war Winter und ich fuhr mit einem der letzten Züge in der Ringbahn nach Hause. Ein Mann ging durch die Reihen und versuchte die Obdachlosenzeitung zu verkaufen. Er hatte dunkle Locken. Er sah sanft aus und hübsch. Ich kaufte ihm in Exemplar ab.

„Kann er denn nicht von Hartz IV leben?“, fragte neben mir eine pummelige Blondine, „ das gibt es doch für jeden?“ Es klang nicht einmal gehässig, eher nach ehrlichen Interesse. Ich frage mich immer, wie man sich wohl fühlt, wenn man seinen Namen für eine Sozialleistungskürzung hergeben musste, die jeder hasst.

„Die können nicht, die sind am Boden“, versuchte ich Verständnis für die Situation von Obdachlosenzeitungen bei der pummeligen Frau neben mir zu wecken, „krank oder Drogenprobleme.

Mir blieb keine Zeit mehr zu überprüfen, ob ich sie damit überzeugen konnte. Ich war an meiner Haltestelle angekommen und musste aussteigen. Erst als ich auf dem Bahnsteig stand, bemerkte ich, dass der junge Zeitungsverkäufer mit mir ausgestiegen war. Er trat wütend gegen die Tür des abfahrenden Zuges.

„Ihr versteht einfach gar nichts!“, brüllte er.

Dann wandelte er sich schlagartig vom tobenden Obdachlosenzeitungsverkäufer zum vollendeten Gentleman. Es regnete und er bot mir seinen Schirm an. Ich winkte entsetzt ab.

„Ein Mann kann eine Frau einfach nicht im Regen stehen sehen“, behauptete er. Nachdem wir beide weiter ein bisschen auf unserem jeweiligen Standpunkt beharrt hatten und darum herum getanzt waren, nahm ich den Schirm schließlich an. Eine Frau kann einfach keine Ritterlichkeit ausschlagen, die von Herzen kommt, ganz gleich in welcher Verfassung der Ritter daher kommt.

Auf dem Weg aus dem Bahnhof schilderte mir mein Ritter seine Verfassung. Er erzählte vom Tod seiner Frau und wie er dadurch unter die Räder gekommen war: Alkohol, Drogen, keine Arbeit mehr, kein zu Hause. Seine Schwiegereltern kümmerten sich um sein Kind. Er hoffte, bald wieder auf die Beine zu kommen.

Auch als sich unsere Wege trennten, wollte er seinen Schirm nicht wieder annehmen. Ich wünschte ihm Glück. Er lud mich ein, einmal in das Obdachlosencafé bei mir um die Ecke zu kommen, wo er manchmal übernachtete.

Ich habe mich nie dahin getraut. Wie konnte ich wissen, ob ich ihn dort treffen würde? Und die anderen Gäste würden mich bestimmt nicht da haben wollen. Ich, die ich schön im Warmen wohne, mit einem Dach überm Kopf und einer Familie darunter.

Der Schirm ist schon lange kaputt, aber wegwerfen konnte ich ihn nicht. Immer, wenn ich ihn sehe, muß ich an den Ritter denken, der ihn mir überließ. Ein bisschen schlechtes Gewissen bekomme ich davon, und ein bisschen empfinde ich Zärtlichkeit.

Hoffentlich hat er inzwischen ein Dach über dem Kopf, vielleicht ja sogar zusammen mit seinem Sohn.

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