Sonntag, 2. Dezember 2007

Auf Wiedersehen Indien

Eigentlich ließ sich die Nacht im Großraumschlafwagen von Udaipur nach Jaipur gut an - jedenfalls für mich. Die Pritschen sind nicht ungemütlicher als die in Europa, dafür wackelt und ruckelt der Zug sehr viel gewaltiger. Das muss frühkindliche Erfahrungen in mir wach gerufen haben. Ich konnte schon um acht Uhr meine Augen nicht mehr aufhalten und schlief den Großteil der Nacht wie ein Baby. Nach drei Wochen hartem Training fange ich an, mit strengen Gerüchen, Schnarchen, Schnauben, Würgen und Mantra-artig wiederholten Ansagen auf den Bahnhöfen morgens um drei fast schon spielerisch umzugehen.

Leider waren wir bei unserer Ankunft morgens um sechs offenbar doch zu sehr gerädert, um bei der üblichen Konfrontation mit den Schleppern unsere bewährte Buddha-gleiche Langmut walten zu lassen. Die hatte uns bislang immer vor unerwünschten und überteuerten Rikschafahrten bewahrt und davor, anstatt in dem Hotel unserer Wahl dort zu landen, wo die höchste Kommission auf den Rikschafahrer wartet. Im erfrischten und wachen Geisteszustand wenden M. und ich den Schleppern gegenüber die bewährte Joga-Meditationsmethode "Ausschalten des Unerwünschten" an. Diesmal verloren wir jedoch die Nerven und baten sie - erst höflich, dann harscher - uns in Ruhe zu lassen. Das gefiel ihnen nicht und sie bedienten sich ihrer erstaunlichen Fähigkeit, sich schlagartig zu vermehren, während sie sich an unsere Fersen hefteten, um uns im Chor zu beschimpfen und einzuschüchtern, weil wir ihre Rikschafahrerdienste verschmähten. In letzterMinute gelang es Mellie und mir, uns in eine staatlich kontrollierte Rikscha zu retten, in der es sich nur ein einziger Schlepper gemütlich gemacht hatte. Auch der bezichtigte uns der Lügen, als wir ihm wahrheitsgemäß versicherten, wir hätten die Sehenswürdigkeiten von Jaipur schon alle gesehen. Aber immerhin brachte er uns wie gewünscht in unseren Englischen-Herrenklub-Maharadja-Palast. M. litt den Rest des Tage an einem Indien-Overkill. Am besten ich fahre nächstes Jahr mit ihr an einen einsamen finnischen See.

Leider sind unsere Tage in diesem lauten, dreckigen, brutalen, bunten, exotischen, märchenhaften und sehr freundlichem Land inzwischen schon vorüber. Wir wollen den Tag nicht vor dem Abend loben, aber bislang bewerten wir unsere Bilanz bei der Überwindung der hier lauernden Gefahren positiv. Keine Magenprobleme, meistens sind wir vergleichsweise elegant mit den Schleppern fertig geworden und ich bin nur einmal in Kuhmist getreten. Ich hatte Glück im Unglück, denn sogleich war ein Ladenbesitzer mit einem Eimerchen Wasser zur Stelle. Als ich fragte, ob er einen Mülleimer für mein dreckiges Taschentuch hätte, deutete er auf den Straßenrand: " Lot's of waste basket in the street Ma'am", kommentierte er treuherzig das Offensichtliche, " it's India".

Immerhin bin ich froh, dass mir das Missgeschick nicht am Mittwoch widerfahren ist, denn dann hätte ich womöglich ein Kunstwerk zerstört. Die Hindus huldigten an diesem Tag Krishna und der Kuh, seinem Gefährt, indem sie interessante, blumengeschmückte Kuhfladen-Skulpturen vor ihren Türen modellierten. Abgesehen davon, dass sie als heilig gelten und deswegen nicht überfahren werden, sind die Kühe in Indien allerdings beklagenswerte Geschöpfe. Die meisten können sich kaum auf den Beinen halten und ihre Euter wirken kläglich und verkümmert - Plastik ist nun einmal nicht sehr nahrhaft. Oft bereitet es schlimme Magenschmerzen bis hin zu einem qualvollen Tod. Nur zu verständlich, dass unser Schweizer Schwerthändler große Zweifel hat, ob die Milch in Indien wohl so gut ist wie die zu Hause.

Ungeachtet dieser Beobachtungen scheint das Los der Kühe im Vergleich zu dem der Hunde noch recht erstrebenswert zu sein. Jedenfalls trafen wir neulich einen Hund, der wie eine Kuh muhte. M. vermutet, er strebt in seinem nächsten Leben ein höheres Dasein an. Vielleicht hatte er aber auch einfach nur eine Identitätskrise oder aber er war ein verkleideter Papagei - in Indien weiß man nie so genau.

Nach unserer erfolgreichen Nachtzugfahrt ärgere ich mich fast, dass wir das nicht öfter genutzt haben. Dann hätten wir zumindest noch der märchenhafte Wüstenstadt Jasailmer einen Besuch abstatten und auf Kamelen reiten können. Auf der andere Seite hatte es aber auch sein Gutes, dass wir im Schneckentempo und meditierend durch Rajasthan getingelt sind.

Die ersten zweieinhalb Wochen lernten wir praktisch keine reisende Menschenseele kennen. Die Abwesenheit von Bars erschwert es auf dem Subkontinent erheblich, Gleichgesinnte zu finden. Erst beharrliches Verweilen in Udaipur bescherte uns einige interessante Bekanntschaften im Café Edelweiss, das ein deutscher Studiosus-Reiseleiter dort eröffnet hat. Unter unseren neuen Bekannten sind ein deutscher Aussteiger mit Antibiotika-Allergie und eine Reihe von Weltreisenden, die schon seit mehreren Jahren unterwegs sind und keine Hemmungen haben, in Indien im Thailand-Look aufzutreten. Nein, im Gegenteil, es sei gut, dass es keine Bars in Indien gäbe, belehrte mich Kylie aus Kanada, der es schon seit sieben Jahren nicht mehr nach Hause geschafft hat. Bars würden Indien zerstören. Wahrscheinlich deswegen kam ich mir wie ein Junkie vor, als mir mein Feierabendbier vor dem Tempel in einer blickdichten Teetasse serviert wurde und ich die Flasche unterm Tisch verstecken musste. Die Hindus haben nach den muslimischen Eroberungszügen einige schlechte Gewohnheiten aus der islamischen Welt übernommen. Dazu gehören die Scheu vor öffentlichem Alkoholausschank und die Zenanas in den vornehmen Bürgerhäusern und Maharadja-Palästen, in denen die Frauen versteckt wurden. Immerhin stellten ihnen ihre Männer so eine Art Fernseher zur Verfügung, um ihre Gefangenschaft kurzweiliger zu gestalten. Die Fenster der Paläste von Radjasthan sind so verziert, dass von draußen zwar niemand hineinsehen kann, die Damen aber freien Blick auf das bunte Treiben im Basar hatten, jedenfalls wenn sie sich dafür flach auf den Boden legen. Oder aber sie waren ein gutes Stück kleiner als ich.

Besser als die weltenbummelten Beachboys aus Thailand gefiel mir die Japanerin Shi, die mir im Basar nach dem Besuch des Stadtpalastes von Udaipur zulief. Wegen ihrer vielen Tätowierungen und des ACDC-Shirts musste sie Hokkaido verlassen und ging nach Tokyo, wo die Punk-Szene schon etwas weiter entwickelt ist als auf dem Land. Das teure Leben dort verdient sie sich mit zwei Jobs. Tagsüber gibt sie Daten für einen Sicherheitsdienst in den Computer ein und nachts verprügelt sie brave japanische Familienväter und Beamte - aber mit Respekt, wie sie betonte - oder sie bindet deren Vorliebe, sich als Schulmädchen zu verkleiden, in ein gewaltärmeres Liebesspiel ein. Fetisch ist in Japan ganz groß, erklärte sie mir. Daneben kam mir mein Job etwas farblos vor.

Unser Schweizer Schwert-Antiquitätenhändler fand bei einem Fachgespräch mit Shi über Samurai-Schwerter heraus, dass ihr Großvater einem bekannten japanischen Mafiageschlecht angehörte, den Yakuzis. Nur so kann er sich ihre Tätowierungen erklären. Die Japaner mögen die globalen Trendsetter auf dem Gebiet des Fransenhaarschnitts und der blonden Strähnchen geworden sein. Die Toleranz gegenüber weiblichem Gangsterlook aber hat dort immer noch ihre Grenzen, wenn die betroffene Frau nicht gerade eine Nachkommin landesweit bekannter Verbrecher ist. Gangstererbin und Teilzeitdomina Shi reist durch Indien, um den Geist ihres Ex-Ehemannnes auszutreiben, mit dem sie einmal vier Monate in Goa verbracht hat. Wenn sie sich gerade nicht eine neue Tätowierung machen lässt, frequentiert sie zusammen mit Inderinnen die örtlichen Schönheitssalons, um sich die Haut bleichen zu lassen. Währenddessen quälen M. und ich uns zusammen mit den Israelinnen in der Sonne herum, um braun zu werden. So verrückt ist die Welt!

Der Schweizer wiederum hat auf beide Waden Flügel tätowiert. In Indien hat er sich der Shiva-Sekte angeschlossen. Er kommt seit 21 Jahren nach Udaipur,um mit seinem Guru im Tempel zu kiffen. Neben Shiva steht er auf den Götterboten Merkur - daher die Flügel - und auf das Mittelalter. In Indien lässt er Kostüme für seinen alemannischen Ritterklub daheim anfertigen. Von ihm wissen wir, dass sich die Hindus wegen der verwirrenden Vielzahl von Göttern aus Pragmatismus meistens auf einen Gott konzentrieren, der ihnen besonders sympathisch ist. Wie mir scheint kam dem Schweizer am Shiva-Kult besonders gelegen, dass der eine oder andere Joint dafür unerlässlich ist. Dennoch behauptet er hartnäckig, es ginge ihm inzwischen vor allem um die Inhalte seiner neuen Religion.

Sehr vermissen werden M. und ich die Freundlichkeit der Inder. Am schönsten war unser Spaziergang durch die indigoblauen Häuser der Brahmanen von Jodhpur. Jedenfalls war früher Indigo die Farbe der Brahmanen - der Priesterkaste - der Stadt. Heute ist die indische Gesellschaft geringfügig liberaler geworden und auch niedere Kasten dürfen ihre Häuser in Indigo streichen, zumal das vor Mücken schützen soll. Das erfuhren wir bei der lehrreichen Audioführung in der mächtigen und prachtvollen Festung der Stadt, die der Maharadja von Jodhpur mitsamt dem Anschauungsmaterial etwas besser in Schuss hält als der Maharana von Udaipur seinen verschimmelten Stadtpalast.

Der friedlichen Atmosphäre in Jodhpurs Indigo-Viertel kommt nur die Langmut vernachlässigter heiliger Kühe gleich. Kein Vergleich mit dem wilden Basar der Stadt und seinen engen Gassen voller mordlustiger Rikschafahrer, Eseltreiber und Milchmänner auf Stierkutschen, wo mangels Touristenmassen nur Waren für Einheimische im Angebot sind. Will sagen Gemüse anstatt Toilettenpapier, Saris anstatt Hippie-Röcken, Diwali-Süßigkeiten anstatt Bhang-Lassis und Chinaböller anstatt Mineralwasserflaschen . Im Indigo-Viertel herrschte im Vergleich dazu himmlische Ruhe, die Sonne warf goldenes Licht auf die Häuser, die Kinder reichten uns in der Straße zum Gruß die Hände und die alten Damen, die auf den Mauervorsprüngen vor ihren Häusern liegend das Treiben auf den Straßen an sich vorbeiziehen ließen, riefen freundlich "hello" oder "namasthé".

Inzwischen wieder zu Hause angekommen, stellte ich am Sonnabend auf dem Öko-Spießermarkt am Kollwitzplatz fest, dass die Reise mir außergewöhnliche Fähigkeiten verliehen hat. Inzwischen handele ich auch im Mutterland der Festpreise spielerisch und erfolgreich. Auf dem Markt kaufte Gemüse für 5,30 Euro, musste nach einem Blick in mein Porte-Monnaie jedoch zerknirscht feststellen, dass ich nur noch 4,50 Euro mein Eigen nannte. Ich wollte dem Verkäufer gerade anbieten, die Kiwis wieder zurückzulegen, als er schon mit einer wegwerfenden Handbewegung rief "ok, 4,50 Euro". Seine Gesichtszüge verrieten mir, dass er am ehesten südlich des Mittelmeers geboren wurde. Mir war, als hätte in seiner Stimme so etwas wie freudige Erregung mitgeschwungen. Vermutlich wartet er seit seiner Ankunft in Deutschland darauf, dass er endlich einmal wieder so handeln kann wie zu Hause.

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