Samstag, 29. Dezember 2007

Paris ist nichts für Pariserinnen

Gestern ist mir schmerzlich klar geworden, dass ich schon zu lange in Paris gelebt habe, um mich noch als Paris-Touristin zu eignen.

Das fängt bei den Schuhen an.

Früher habe ich Witze darüber gemacht, dass Französinnen Angst davor haben, ihre Weiblichkeit zu verlieren, sobald sie bequeme Schuhe tragen. Ich konnte es nicht fassen, dass nur Tschechinnen und anglo-amerikanische Frauen, aber niemals Französinnen zu meinen legendären gemischten Fussballpartien vor dem Hotel des Invalides kamen parce que ce n'est pas pour les filles. Und als Véronique mir beim Sonnenbaden anvertraute, dass sie niemals mit einem Mann, der ihr gefällt, in die Badeanstalt gehen würde, weil sie mit Badekappe einfach nicht gut aussieht, verschlug es mir endgültig die Sprache.

Jedoch kaum nach Berlin zurückgekehrt, war ich so erfreut über die stattliche Durchschnittsgröße der ortsansässigen Männer (und entsetzt über die wettbewerbsfähige Durchschnittsgröße der ortsansässigen Frauen), dass ich mir ein Paar hochhackiger Schuhe nach dem anderen zulegte. Wenn man alles durchkalkuliert, dann bringen hohe Absätze auch dann noch Schwung in die Hüfte und Länge in das Bein, wenn man eine Badekappe auf dem Kopf hat.

Das war Fehler Nummer eins.

Fehler Nummer zwei bestand in meiner überheblichen und herablassenden Haltung gegenüber dem 16. Arrondissement. Auch damit befinde ich mich wenigstens unter Parisern keineswegs in schlechter Gesellschaft. Schon Heinrich Heine verlangte nach langer, schwerer Krankheit im 16. Arrondissement, man möge ihn umgehend wieder in die Stadt bringen. Den Friedhof von Passy stellte er sich sehr langweilig vor, und er wollte dort unter keinen Umständen begraben liegen. Ich habe im 16. Arrondissement gearbeitet und kann es ihm nicht verdenken. Selbst auf den Haupteinkaufsstraßen dieses Bezirks herrscht Friedhofsruhe. Reiche, alte Damen im Pelz, die ihren Schoßhund spazieren führen, reiche alte Damen, die auswärts mit Hut auf dem Kopf Mittag essen, etwas jüngere, reiche Damen mit Sophia-Loren-Sonnenbrille, die in Geländewagen huldvoll mit behandschuhten Händen den Füßgängern, die sie im Begriff sind umzufahren, bedeuten, sich aus ihrer Parklücke zu entfernen. Keine Kinder, keine Araber, keine Mopeds, kein Trubel auf den Straßen. Das geht soweit, dass man ohne den Einsatz ausgefeilter Nahkampftechniken den Bürgersteig benutzen kann, was einmalig sein dürfte in Paris.

Wer sein französisches Blut nicht bis auf die Zeiten vor der Revolution an den Hof verschiedener Ludwigs zurückführen kann, ist Ölscheich, vielleicht noch Au-Pair-Mädchen mit Chambre de Bonne und einem einjährigen Kursus über französische Sprache und Kultur, sonst aber bestimmt Dienstbote. Mein Freund Mosahid hat früher einmal den Fehler gemacht, in das 16. Arrondissement zu ziehen. Als er es wagte mit seiner bengalischen Haut in den Hausflur zu treten, um eine für ihn bestimmte Waschmaschine entgegenzunehmen, wollte ihn die Hausbesitzerin zunächst verscheuchen und als er ihr endlich klargemacht hatte, dass er Mieter und damit zurecht im Haus sei, wies sie ihn schrill an, künftig den Boteneingang zu benutzen und der sei hinten. Wen wundert es, dass Sebastien mich damals daran hinderte ins 16. Arrondissement zu ziehen mit der Begründung, dass ich dort niemals mit Besuchen von Freunden rechnen könnte und selbst mindestens 45 Minuten unterwegs wäre, um in erträgliche Teile dieser Stadt zu gelangen.

Natürlich hat er recht und in den Pariser Osten zu ziehen, war alles andere als ein Fehler. Aber dass ich mir das 16. Arrondissement vor lauter Ärger über die ebenso versnobten wie bepelzten Omas mit Hut nie so richtig angesehen habe, das war ein Fehler. Fehler Nummer zwei, der mir in Verbindung mit Fehler Nummer eins zum Vehängnis werden sollte.

Zum Glück gibt es den Schatz, seine alternativen Reiseführer und seine Schwäche für gescheiterte und geglückte urbane Entwicklungsprojekte. Er zeigte mir das Balzac-Haus mit seiner verborgenen Treppe, über die der große Künstler vor seinen Gläubigern flüchtete, ja er geriet bei jeder verborgenen Treppe des Viertels in Verzückung und bestand darauf, sie zu erklimmen. Er führte mich in das alte Dorfzentrum von Auteuil und setzte dem achtlosen Vorbeigehen an den Jugenstiljuwelen der Avenue Mozart ein lang überfälliges Ende. Er sorgte dafür, dass ich die ebenso märchenhafte wie verrückte Häuserfassade des damals sechsundzwanzigjährigen Guimard endlich ausgiebig würdigte, für die der Künstler damals völlig zurecht den Pariser Fassadenpreis gewonnen hatte. Er machte mich auf die zurückhaltenden und eleganten, aber - wie man aus heutiger Sicht hinzufügen muss - nicht sehr klimafreundlichen Eisenfensterrahmen von Le Corbusier aufmerksam und auf die extravaganten Fassaden von Mallet-Stevens, die angeblich den Überseedampfern seiner Zeit nachempfunden sind.

Vor dem Musée Marmottan, das bedeutende Impressionisten beherbergt, aber weder den von kulturellem Informations-Overflow überwältigten Touristen noch Einheimischen geläufig ist, begrüßte uns ein Bettler mit "bonjour les amoureux". Paris kam mir romantisch, schillernd und voller unermeßlich schöner und wertvoller Schätze und Geheimnisse vor bis in den finstersten Winkel der Friedhofsruhe seines Westens.

Ich verfluchte meinen Hochmut, der mich das 16. Arronissement und seine Wunder bislang hatte links liegen lassen, und meine neue Weiblichkeit, die mich dazu gebracht hatte, unsere letzten vier Tage in Paris, die einem ambitionierten Sightseeing-Programm gewidmet sind, mit drei Paar hochhackigen Schuhen anzutreten.

Vor den iranischen Miniaturmalereien im Louvre verlor ich schließlich die Nerven, die Eitelkeit und die Kraft, um weiter elegant durch die Stadt zu stöckeln. Den Rest des Abends verbrachte ich auf dem Sofa mit meinen Blutblasen in einem Eimer heißen Wasser. Die Sex-and-the-City-DVD, die ich dabei sah, war weit davon entfernt, Wünsche auf Manolo Blahniks in mir zu wecken.

Der heutige Tag begann trotzdem mit Shopping. Blasenpflaster in der Apotheke für sechs Euro und braune Turnschuhe, Berliner Modell: cool, unweiblich und bequem.

Freitag, 28. Dezember 2007

Doch gutes Erbgut

Email aus New York, November 2000

Meine Mutter und ich waren uns am Telefon gerade einig geworden, daß mein Vater ein Phänomen ist. Er hat immer Glück, alle vertrauen ihm und er ist unglaublich beliebt. Während wir anderen alle arbeiten müssen wie die Eichhörnchen in der Trommel, um überhaupt ein paar Bekannte oder gar Freunde zu haben, muss er keinen Finger krumm machen, es rennen ihm sowieso alle die Bude ein, um ihre Freizeit mit ihm verbringen zu dürfen. Ein bisschen frustriert waren wir, als wir aufgelegt haben, aber nicht sehr. Ganz unter uns können wir ihn ziemlich gut leiden und gönnen ihm daher sein Glück.

Nur wenige Stunden später sollte sich herausstellen, dass er mir offenbar doch nicht nur die Neurodermitis, sondern auch eine ordentliche Portion von seinem Glück vererbt hat...

Weil ich den ganzen Sonnabend fleißig war, befand ich, daß ich einen Abend in der Oper mehr als verdient hatte. Gedacht getan, ich machte mich auf zur Met, prallte entsetzt zurück, als mir jemand vor der Oper eine Karte für 115$ anbieten wollte und erstand statt dessen einen Stehplatz fuer 16$ an der Abendkasse. Zugegebenermaßen geschah dies ein wenig in Verkennung der Tatsache, dass Richard Strauß nicht Johann Strauß ist, und daß "Der Rosenkavalier" nicht anderthalb Stunden leichte Operettenmusik im Dreivierteltakt beinhaltet, sondern viereinhalb Stunden Musik - na, sagen wir mal - für Kenner.

Tatsächlich wurde meine Standfestigkeit aber erst gar nicht getestet. Schon nach fünf Minuten kam ein Mann um Mitte vierzig in einem alten Ski-Anorak auf mich zu. Er trug die ältesten Turnschuhe, die ich seit langem gesehen habe, und einen Moment lang überlegte ich mir, ob ich ihm einen Dollar in die Hand drücken sollte. Er fragte mich, ob ich alleine sei. Schon reichlich an die entwaffnende Direktheit der Amerikaner gewöhnt, antwortete ich ebenso knapp wie wahrheitsgemäß mit "ja". Er:" Why don't you come sit with us?". Erst als ich ihm bereits vollkommen überrumpelt zu den Orchestersitzen folgte, wurde mir klar, dass ich wahrscheinlich für die 180$-Karte, die er mir in die Hand gedrückt hatte, den höchsten immateriellen - oder sagen wir nicht-monetären- Preis würde zahlen müssen, den ich je für eine Opernkarte gezahlt habe.

Aber nein: In der neunten Sitzreihe wartete bereits eine charmante junge Dame aus Französich-Guyana auf uns. Mein neuer Freund, der Obdachlose, erklärte mir, daß er ein Oper-Abo besitze. "I keep one seat for a date..." - so hat er sich ausgedrückt, anscheinend bringt er jedesmal eine andere Freundin mit "and one for my office manager." Das erscheint mir persönlich eine sehr eigenwillige Kombination, aber einem geschenkten Barsch guckt man nicht in die Kiemen. Ich habe tüchtig davon profitiert, daß die Büromanagerin an jenem Abend den Weg von New Jersey nach New York nicht gefunden hat.

Zugegeben, den ersten Akt fand ich sterbenslangweilig und zudem entsetzlich inszeniert, mit viel zu viel Pink und Rüsche. Insgeheim wünschte ich mir, daß Richard doch Johann sei,
oder der Rosenkavalier statt dessen eine lustige Witwe. In der Pause Nr. 1 habe ich mich aber dennoch sehr amüsiert, aus dem Programm zu erfahren, dass Richard Strauß damals seine Zeitgenossen mit seinen Anspielungen schockiert hat, " ...that beds are occasionally used for purposes other than sleeping". Und irgendwie bin ich dann doch noch auf den Geschmack gekommen. Als die Marschallin schließlich nach viereinhalb Stunden in einem herzzerreissendem Terzett den Weg frei gab, damit ihr Geliebter, der Rosenkavalier, die wesentlich jüngere und liebreizendere Sophie ehelichen konnte, war ich den Tränen nahe.

Mindestens ebenso interessant fand ich es, diese Oper inmitten der New Yorker Haute Volée zu verfolgen. Die älteren Herren, deren Ehefrauen auf ein Opernabo bestehen, knacken die ganze Zeit, wie überall auf der Welt. Was mich tief beeindruckt hat, sind die höheren Töchter, die nicht nur wahnsinnig reiche Erbinnen, sondern nicht selten auch noch atemberaubend schön sind. Wie machen die das? Lauter Prinzessinen mit wallenden goldenen Haaren schwebten in der Pause von den Orchestersitzen ins Foyer.

Der Sitz vor mit gehörte laut einer Silbergravur übrigens der Fishbach Organisation Inc.. Nur zu gerne hätte ich mir die Rückseite meines eigenen Sitzes angesehen, um zu erfahren, welcher Organisation mein Freund mit der unzuverlässigen Büromanagerin angehörte. Ich habe dann aber doch davon abgesehen, meinen Oberkörper über die Stuhllehne zu klappen, um einen Blick zu erhaschen. Möglicherweise gehört sich das nicht in der New Yorker Society.

Meine Wohltäter flitzten noch vor Beginn des Applauses schnell zu ihrem Auto - Amerikaner verlieren nunmal nicht gerne Zeit - nicht ohne mir ihre tiefste Bewunderung dafür auszudrücken, daß ich bereit gewesen wäre, Richard Strauß im wahrsten Sinne des Wortes durchzustehen. Wie ich bereits erwähnte, ist das nicht ganz richtig. Dennoch fühlte ich mich so, als wenn ich bald im Training sei, Wagner im Handstand zu absolvieren.

Vollkommen beschwingt ging ich danach noch in die Tenth Avenue Lounge, ein Bierchen auf mein Glück zu trinken. Dort lernte ich meine Nachbarn Frank und Arnold kennen. Frank ist Friseur und hat sizilianische Eltern. Arnold ist Lehrer und Schauspieler, und seine Eltern sind Mexikaner. Selbstverständlich wird Frank mir die Haare umsonst schneiden. Und - Ines - wir sind herzlich eingeladen mit den beiden und Arnolds Mutter aus Texas Heiligabend zu verbringen.

" Che culo!" kommentierte Curzio fassungslos am nächsten Morgen, als er von meinem Abenteuer erfuhr. Das ist eine ziemliche ungezogene Art, zum Ausdruck zu bringen, dass ich einen Mörderdusel hatte, den er mir nicht so recht gönnt. Aber wer viel Glück hat, hat eben auch viele Neider...

Sonntag, 16. Dezember 2007

Pizza in New York

Email aus New York, November 2000

Am Sonnabend hatte ich meinen ersten großen Kulturschock, und das ausgerechnet mit einem fiorentinischen Pizzabaecker aus meiner Straße. Curzio, der jeden abend dort seine Pizza holt, hat mir schon alles von ihm erzählt. 23 Jahre alt, hat etwas überstürzt eine amerikanische Studentin, 21, geheiratet, und sitzt nun hier in einem Take-Away-Pizza-Laden mit zwei Plastiktischen, will nicht so recht Englisch lernen und fühlt sich kein bißchen wohl. Wenn er von seinem Schicksal erzählt, will sagen, wenn Curzio das imitiert, klingt das ungefähr so: "Jetzt steeeelll Dir das doch nur mal vor, ich hatte in Florenz eine Bar auf der Piazza dell' Indipendenza und jetzt sitze ich hier in diesem Loch (verzweifelte Handbewegung in alle Richtungen). Hier sind iiiiiimmer alle in Eile. Zu Hause habe ich von eins bis drei Mittagspause gemacht und hatte Angestellte - hier muss ich AAaalles alleine machen. Wir leeeeeben einfach besser!"

Also bin ich Sonnabend in diesen Laden gegangen, allerdings fest entschlossen die Pizza dort an einem der Plastiktische zu essen. Ich habe auch etwas gegen die ganze Hektik hier, und habe deswegen der amerikanischen Unsitte statt Mittagessen - oder in diesem Fall Abendessen - "Sandwiches zu grabschen" den Krieg erklärt. Im Ernst - Hier gehen mittags alle "to grab a sandwich", das sie dann vor dem Computer verschlingen.

Der Pizzabäcker und seine amerikanische Braut warfen mir allerdings eigenartige Blicke zu, als ich eine kleine Pizza "for here" bestellte. Hab' mich extra noch einmal erkundigt, ob man vielleicht nicht "hier" essen dürfe. "Doch, doch, dauert nur ein Viertelstündchen!" In der Zwischenzeit sind wir nett ins Gespräch gekommen und der Pizzabäcker hat mir noch einmal persönlich auseinandergesetzt, daß das hier alles nichts ist. Als ich die Pizza schließlich zu Gesicht bekam, konnte ich mir die schrägen Blicke dann doch erklären: Sie hatte ungefähr einen Meter Durchmesser. Für alle, die es noch nicht wissen: Eine Pizza in den USA kann man bestenfalls zu fünft essen. Einzelpersonen bestellen Pizzastückchen. Wahrscheinlich legen die Amerikaner damit ihre Diätprogramme aufs Kreuz. Pizza einfach zehnmal so groß backen, und sich dann sagen können: "Ich hab' ja nur ein Stückchen gegessen". Ganz alter Trick, wer würde so etwas nicht von seiner Siebziger-Jahre-Mama kennen?

Mein Entsetzensschrei, jedenfalls, lockte sofort die argentinische Küchenhilfe an den Tresen, die mir ihre uneingeschränkte Solidarität bekundete und ausschweifend von IHRER ersten Pizza in Amerika berichtete. Wir haben uns schließlich nach langem Verhandlungen nach der Art türkischer Bazaare auf zwei Stückchen einigen können und konnten so unser gutes nachbarschaftliches Verhältnis retten.

Während ich meine hart erkämpfte Pizza an einem der beiden Plastiktische auf einem Plastikteller und ohne Besteck verzehrte, kam ein weiterer unserer Nachbarn mit einem ausgesprochen kleinen Schoßhündchen herein, um das aber sofort ein Riesenpomp gemacht wurde. Zwar fehlte die rosa Schleife, dafür bekam der Hund Pizza auf einem Plastikbecher zu essen. Irgendwie hatte ich danach das Gefühl, daß meine Mahlzeit dadurch noch mehr entweiht wurde. Der Pizzabäcker erklärte mir später hinter vorgehaltener Hand, daß Hunde in den USA wichtiger sind als Babys, und wenn man den Hund gut behandelt, kommt der Besitzer garantiert wieder.

Die Konversation zwischen Hundebesitzer und Pizzabäcker war in jedem Fall sehenswert.
Pizzabäcker (breitet die Arme aus, als wenn er einen riesigen Blumenstrauß überreichen würde): "Warum waren Sie so lange nicht da, wir haben Sie vermißt!"
Hundebesitzer (etwas nüchterner, jedoch versucht, italienisch zu sprechen): "Mucho trabajo!"
Pizzabäcker (empört): "Moooolto lavooooro!"

Dieses Schauspiel wiederholte sich danach entsprechend mit den verschiedensten spanischen und italienischen Wörtern. Die Empörung des Pizzabäckers war meiner Meinung nach nicht ganz gerechtfertigt, denn er spricht auch einfach immer italienisch, wenn er vorgibt englisch zu reden. Der Hundebesitzer erklärte danach ausschweifend - auf englisch- das Wesen seiner niederdrückenden Arbeitslast. Michael Douglas habe heute ganz geheim geheiratet, und er habe die Blumen bereitstellen müssen.

Etwa an diesem Punkt betrat ein dritter Nachbar die Szene, der wiederum fließend italienisch sprach, denn sein Freund ist aus Sorrent. Leider hatte der gerade Probleme mit seiner Gnocchi-Sauce, weswegen eilig der Pizzabäcker konsultiert werden mußte. Dem gelang es schließlich, das köstliche Mahl noch durch den Verkauf etlicher Saucen und Zutaten zu retten. Der Hundebesitzer und der Freund des sorrentinischen Kochs begrüßten sich überschwenglich, und beantworteten die Frage, ob sie sich kennen würden, mit einem überzeugten :" Oh yes, we're neighbors." Zwar mussten sich die beiden uralten Freunde und Nachbarn doch noch einmal kurz namentlich vorstellen ("what was your name again?"), aber dann war wieder alles cool und easy: "Bye, have a good one, Chris!"

Als ich meine Pizza fertig gegessen hatte, forderte der Hundebesitzer seinen Liebling gerade auf, Herrchens Mahlzeit in einer Tüte im Maul nach Hause zu tragen. Als der Hund sich dazu nach einigem Widerstand schließlich breitschlagen ließ, erbebte die kleine Pizzabude vor tosendem Applaus. Dem Hund gehört die ungeteilte Bewunderung unserer gesamten Nachbarschaft.
Und kann mir jetzt mal einer erklären, warum ich am Wochenende nach SoHo soll?

Sonntag, 9. Dezember 2007

Election Day+9 oder so

Email aus New York, November 2000

Amerika hat immer noch nicht herausgefunden, wer der neue Präsident ist und Nd. kommt jeden Tag gramgebeugter an die Uni: "This has turned into a circus country!" Ich habe ihm vorgeschlagen, dass wir das nächste Mal ein paar internationale Beobachter schicken könnten.

Am Freitag war ich in der hippesten und teuersten Bar von New York. Alex, meine israelische Fotografin, hat dort Geburtstag gefeiert. Warum, ist mir heute noch ein Rätsel. Sie hat keine müde Mark in der Tasche, und als sie einen Tisch bestellen wollte, mußte sie feststellen, daß man nur schlappe 400$ dafür haben wollte. Also ohne Tisch. Dafür kamen wir dort richtig zur Geltung. Während alle anderen Frauen so aussahen, als hätten sie vier bis fünf Stunden gebraucht, um sich zu präparieren, hatte die Mehrzahl von Alex‘ Freundinnen einen flotten Kurzhaarschnitt, war betont ungeschminkt, hatte den Pullover in die Hose gesteckt und konkurrierte energisch den Männern um all die Schönheiten, die sich an der Bar räkelten. Sehr schön! Dazu hatten wir noch ein paar Tunten im Schlepptau und der Rest bestand aus Alex' Kollegen aus dem Fotolabor, die allesamt heimliche Fotografen sind und nur im Labor arbeiten, um billig das Material nutzen zu können. Hab' mich nie so recht getraut zuzugeben, daß ich versuche, Volkswirtin zu sein.

Meine Brooklyn-Safari am Sonntag begann in Park Slope, der Heimat von Paul Auster. Ich habe immer fleißig nach ihm Ausschau gehalten, aber außer daß ich mal in der Villagevoice gelesen hatte, er sei wahnsinnig gutaussehend, war mir nichts Näheres über die Details seines Äußeren bekannt. Also wieder keinen Dichter geangelt. Dafür wußte Jeanette, wo es den besten Flohmarkt gibt. Ich habe jedoch von dem Erwerb von Postkarten mit dem Stempel "Wir sind heim ins Reich gekommen -Schlesien" Abstand genommen.

Die nächste Station führte uns nach Crown Heights, wo die Einwanderer aus den West Indies leben. Die Frauen tragen Turbane auf dem Kopf, das hat mich gefreut, aber es roch dort nicht so gut nach exotischen Früchten, wie ich mir das vorgestellt hatte. Eigentlich hatte wir uns nach kreolischer Küche gesehnt, aber das einzige Restaurant, das wir entdecken konnten hieß zwar "La higienica", sah aber nicht so aus. Deswegen stiegen wir noch einmal in die U-Bahn und fuhren an die russische Ostsee. Die liegt hier in New York ganz am Ende von Brooklyn am Meer. Wenn man aus der U-Bahn steigt, hört man nur noch russisch und sieht kyrillische Schrift, die Strandpromenade ist gesäumt von bobonfarbenen Cafés und Restaurants, alle jungen Frauen sind figurbetont gekleidet und sexy, und alle Frauen mittleren Alters tragen Tigerlook. Und hhhhmmmmm schmecken die Pelmeni lecker!

Der Kellner konnte nicht so recht Englisch, kam aber jedesmal aus der Küche mit einem neuen deutschen Wort zurück. Später machten wir an der Strandpromenade noch die Bekanntschaft eines Polen mit imposantem Cowboyhut und einem Schnauzer der neben den Mundwinkeln bis zum Kinn herunterwuchs. Der konnte auch kein Englisch, brachte es aber trotzdem fertig, uns zu erzählen, daß er am Wochenende gerne mal einen hebt, aber montags immer wieder pünktlich auf dem Bau ist.

Am Ende waren wir so geschafft von all diesen Kulturen, dass wir uns erst einmal bei einem Bier im "Hallo Berlin" davon erholen mussten. Dort stießen wir auf eine Argentinierin, die sich über die französische Küche beschwerte und glücklich war, endlich mal wieder ein Schnitzel essen zu können - wie zu Hause. Sie kellnert in New York, um für die Uni zu sparen. Ich kann mir eigentlich keinen schlechteren Ort zum Sparen vorstellen als New York. Außer vielleicht Buenos Aires - da ist alles genau so teuer, dafür verdient man die Hälfte.

Sandra hat mich am Dienstag zusammen mit ihrem deutsch-jüdischen Freund Dan in eine Charity-Veranstaltung nach Harlem geschleppt. Wir haben Geld für die Reparatur des Kirchturms der St. Martin's Church gesammelt. Diesmal leckeres kreolisches Essen und ich durfte mich ein wenig willkommener fühlen, als damals in der Kirche. Wurde sogar ständig gefragt, ob ich auch in St. Martin's zur Kirche ginge.

Und damit Corinna nun nicht glaubt, dass hier lediglich zwei jämmerliche Gestalten aus Freiburg herumlaufen, sollte ich dazu sagen, dass ich unlängst meinen alten Kollegen und Tennispartner Jörn Paoadopoulos in Erwartung seines zweiten Kindes an der Colombia University ausgegraben habe. Wir treffen uns morgen auf halbem Wege (Westseite, fünfziger) zum "lunch".

Bad Data from Florida

Email aus New York, November 2000

Im Moment dreht sich mein Leben um italienische Industriepaneldaten. Ob ihr es glaubt oder nicht, die Italiener waren die Ersten, die ihre Daten vollständig bei der OECD abgegeben haben. Nd. sagt, er glaubt im Leben nicht, daß die schneller waren als die Deutschen. Er vermutet, sie haben sich Daten einfach ausgedacht. Trotzdem fangen wir jetzt erst einmal mit Italien an - "to check on these guys".

Das Gute an der älteren Generation ist, dass sie als Nebenprodukt ihrer Ablehnung des Computers darüber hinwegsieht, daß Deutschland inzwischen den Anschluss an moderne Technologien verpasst hat. Ab und zu sonne ich mich mal ganz gerne in dem längst vergangenen Ruhm.

Wie ihr alle wißt, tun sich die Amerikaner derzeit schwer damit herauszufinden, wen sie zum Präsidenten gewählt haben. Irgendwie kommt beim Zählen jedesmal etwas anderes heraus und von den Hochrechnungen wollen wir mal gar nicht sprechen. Vielleicht können die mal ein paar italienische Statistiker gebrauchen? In jedem Fall ist eine gewisse Schadenfreude bei den italienischen Staatsbürgern auf meinem Gang nicht zu überhören. Der allgemeine Konsens lautet in etwa: "Na, jetzt wollen wir mal sehen, wie DIE mit politischer Instabilität klarkommen.

Anfangs hat mich solche Erlebnisse hier noch schockiert, aber inzwischen scheint sich mir alles wie ein Mosaik zusammenzufügen: Altertümliche Badewannen auf 30 cm Höhe direkt neben der Spüle, Heizungen ohne Wärmeregulierung, Präsidentschaftswahlen ohne Ergebnisse und Waschmaschinen, in denen die Wäsche nicht sauber wird... Zu alledem schreibe ich Euch gerade aus dem achten Stock eines Gebäudes, dessen fünfter bis siebter Stock gestern wegen einstürzender Decken evakuiert wurde. Als ich meine Eltern telefonisch über dieses Malheur unterrichtete, lautete die - wie mir schien eher ungerührte - Antwort: "Na, dann bist ja aus dem Gröbsten 'raus."

Trotz aller Mißgeschicke ist und bleibt Amerika eine Leistungsgesellschaft. Leider macht sich das ausgerechnet beim Tango bemerkbar. Ach wenn Ihr es nur sehen könntet! Alle Ethnien dieser Welt, Inderinnen, Schwarzamerikaner, Iraner, Afrikanerinnen, wie sie hingebungsvoll aneinander angelehnt in anmutigen, weichen Bewegungen über die Tangotanzflächen dieser Stadt schweben.

So etwas Schönes!

Ich frag mich nur, wo sich die ganzen Anfängerinnen und die "intermediate" Tänzerinnen verstecken. Offensichtlich wagt sich ohne perfekte Tanzausbildung außer mir keine tanguera zu diesen prácticas. Die Männer sind da natürlich wie immer unerschrockener.
Tango besteht - für die, die es noch nicht wissen - zu einem Großteil aus Pausen. Aber die muß man beherrschen! Eine versierte tanguera lehnt sich dabei noch ein bißchen hingebungsvoller an ihren Partner, wiegt sich anmutig hin und her oder streicht mit einem Fuß an ihrem - gelegentlich auch seinem - Standbein entlang. Bei mir hingegen rächt sich in solchen Pausen, daß Antonio freitags immer in Poppenbüttel kellnern und danach allerlei gesellschaftlichen Verpflichtungen am Schulterblatt nachgehen muß. Wenn ich besonders geistesgegenwärtig bin, bemühe ich mich das Spielbein anmutig anzuwinkeln. Aber meistens stehe ich ratlos auf beiden Beinen herum und frage mich, ob ich mich wohl noch mehr als Stümper entlarve, wenn die nächste Figur ein Mühle ist, oder sollte ich kichern müssen, wenn der Tänzer plötzlich aus einer Drehung heraus ganchos tanzt - will sagen wie ein Pferd nach hinten ausschlägt und zwar zwischen meine Beine.

Und weil ich so ziemlich die einzige Dame auf der Tanzfläche bin, die nicht die Perfektion erreicht, ergibt es sich, daß ich mich vor allem bei der älteren Generation größter Beliebtheit erfreue. Nicht daß das grundsätzlich schlimm wäre. Das Schöne am Tango ist, daß der Tanzpartner zwei Köpfe kleiner und vierzig Jahre älter sein kann, wenn er nur gut tanzt, sieht es wunderbar aus. Nein ich spreche von den älteren Herren, die gar nicht tanzen können. Dafür sind sie vom Schlage "oh, how are you supposed to lead someone, if you have to stay so far away from them". Die Startänzer tanzen gelegentlich mit mir, aber nur wenn sie mich noch nicht haben tanzen sehen, und nie länger als zwei Tänze. Deswegen wechsele ich jedesmal den Tangoschuppen, um unerkannt zu bleiben. Und wenn Ihr da wärt, könntet Ihr sehen, wie ich zwischen den Tänzen sternförmig durch den Saal eile, immer auf der Flucht vor den Nichttänzern und in der Hoffnung, einen Startanguero in eine Milonga zu locken, bevor ihm klar wird, worauf er sich da einläßt. Glaubt nur nicht, daß einem hier irgendetwas geschenkt wird...

Aber auch mit den Deutschen ist das Leben nicht immer ein Kinderspiel. Mich haben hier die kultivierten Frauen unter ihre Fittiche genommen und sorgen dafür, daß ich regelmäßig in die Carnegie Hall und in die Metropolitan Opera komme (daher auch meine profunden Kenntnisse darüber, wie der Champagner dort ausgeschenkt wird). Mein kulturelles Sahnehäubchen ist Jeanette, die am Lincoln Center für anderthalb Jahre Geigen baut. Nur sehr widerwillig allerdings, denn ihr Freund - ein armenischer Geiger - ist in Berlin zurückgeblieben. Am Montag haben wir uns die Zauberflöte angesehen. Daß Sarastro ein Desastro war, habe sogar ich gehört. Aber bei der zweiten Arie der Königin der Nacht (ahahahahahaaaaaa...) konnte ich nicht mehr an mich halten und wollte mit Janine teilen, wie schön mir das erschien. "Unsauber" raunt sie streng zurück. Wie ihr seht, habe ich noch viel zu lernen.

Vorgestern abend saß ich doch bei Aggie's mit meiner Tomatensuppe, da steht auf einmal- passenderweise - Klaus Noser vor mir. Wißt Ihr, dieser langmonatige Verehrer und Ballherr unsere alten Freundin Agnes Vogel...Er wußte zu berichten, daß Agnes pünktlich jeden Sonnabend in dem Laden in der Susannenstraße aufkreuzt, wo er Seventies-Klamotten verkauft, und sich über ihre verschiedenen Freunde beklagt. Irgendwo muss die Welt ja normal bleiben und so, wie man sie kennt.

Und so schließe ich heute mit einer kleinen Variation einer alten Lebensweisheit, die seinerzeit unter Passauer Studenten sehr verbreitet war: "Warnung an alle - die Schanze ist überall!"

Sonntag, 2. Dezember 2007

Auf Wiedersehen Indien

Eigentlich ließ sich die Nacht im Großraumschlafwagen von Udaipur nach Jaipur gut an - jedenfalls für mich. Die Pritschen sind nicht ungemütlicher als die in Europa, dafür wackelt und ruckelt der Zug sehr viel gewaltiger. Das muss frühkindliche Erfahrungen in mir wach gerufen haben. Ich konnte schon um acht Uhr meine Augen nicht mehr aufhalten und schlief den Großteil der Nacht wie ein Baby. Nach drei Wochen hartem Training fange ich an, mit strengen Gerüchen, Schnarchen, Schnauben, Würgen und Mantra-artig wiederholten Ansagen auf den Bahnhöfen morgens um drei fast schon spielerisch umzugehen.

Leider waren wir bei unserer Ankunft morgens um sechs offenbar doch zu sehr gerädert, um bei der üblichen Konfrontation mit den Schleppern unsere bewährte Buddha-gleiche Langmut walten zu lassen. Die hatte uns bislang immer vor unerwünschten und überteuerten Rikschafahrten bewahrt und davor, anstatt in dem Hotel unserer Wahl dort zu landen, wo die höchste Kommission auf den Rikschafahrer wartet. Im erfrischten und wachen Geisteszustand wenden M. und ich den Schleppern gegenüber die bewährte Joga-Meditationsmethode "Ausschalten des Unerwünschten" an. Diesmal verloren wir jedoch die Nerven und baten sie - erst höflich, dann harscher - uns in Ruhe zu lassen. Das gefiel ihnen nicht und sie bedienten sich ihrer erstaunlichen Fähigkeit, sich schlagartig zu vermehren, während sie sich an unsere Fersen hefteten, um uns im Chor zu beschimpfen und einzuschüchtern, weil wir ihre Rikschafahrerdienste verschmähten. In letzterMinute gelang es Mellie und mir, uns in eine staatlich kontrollierte Rikscha zu retten, in der es sich nur ein einziger Schlepper gemütlich gemacht hatte. Auch der bezichtigte uns der Lügen, als wir ihm wahrheitsgemäß versicherten, wir hätten die Sehenswürdigkeiten von Jaipur schon alle gesehen. Aber immerhin brachte er uns wie gewünscht in unseren Englischen-Herrenklub-Maharadja-Palast. M. litt den Rest des Tage an einem Indien-Overkill. Am besten ich fahre nächstes Jahr mit ihr an einen einsamen finnischen See.

Leider sind unsere Tage in diesem lauten, dreckigen, brutalen, bunten, exotischen, märchenhaften und sehr freundlichem Land inzwischen schon vorüber. Wir wollen den Tag nicht vor dem Abend loben, aber bislang bewerten wir unsere Bilanz bei der Überwindung der hier lauernden Gefahren positiv. Keine Magenprobleme, meistens sind wir vergleichsweise elegant mit den Schleppern fertig geworden und ich bin nur einmal in Kuhmist getreten. Ich hatte Glück im Unglück, denn sogleich war ein Ladenbesitzer mit einem Eimerchen Wasser zur Stelle. Als ich fragte, ob er einen Mülleimer für mein dreckiges Taschentuch hätte, deutete er auf den Straßenrand: " Lot's of waste basket in the street Ma'am", kommentierte er treuherzig das Offensichtliche, " it's India".

Immerhin bin ich froh, dass mir das Missgeschick nicht am Mittwoch widerfahren ist, denn dann hätte ich womöglich ein Kunstwerk zerstört. Die Hindus huldigten an diesem Tag Krishna und der Kuh, seinem Gefährt, indem sie interessante, blumengeschmückte Kuhfladen-Skulpturen vor ihren Türen modellierten. Abgesehen davon, dass sie als heilig gelten und deswegen nicht überfahren werden, sind die Kühe in Indien allerdings beklagenswerte Geschöpfe. Die meisten können sich kaum auf den Beinen halten und ihre Euter wirken kläglich und verkümmert - Plastik ist nun einmal nicht sehr nahrhaft. Oft bereitet es schlimme Magenschmerzen bis hin zu einem qualvollen Tod. Nur zu verständlich, dass unser Schweizer Schwerthändler große Zweifel hat, ob die Milch in Indien wohl so gut ist wie die zu Hause.

Ungeachtet dieser Beobachtungen scheint das Los der Kühe im Vergleich zu dem der Hunde noch recht erstrebenswert zu sein. Jedenfalls trafen wir neulich einen Hund, der wie eine Kuh muhte. M. vermutet, er strebt in seinem nächsten Leben ein höheres Dasein an. Vielleicht hatte er aber auch einfach nur eine Identitätskrise oder aber er war ein verkleideter Papagei - in Indien weiß man nie so genau.

Nach unserer erfolgreichen Nachtzugfahrt ärgere ich mich fast, dass wir das nicht öfter genutzt haben. Dann hätten wir zumindest noch der märchenhafte Wüstenstadt Jasailmer einen Besuch abstatten und auf Kamelen reiten können. Auf der andere Seite hatte es aber auch sein Gutes, dass wir im Schneckentempo und meditierend durch Rajasthan getingelt sind.

Die ersten zweieinhalb Wochen lernten wir praktisch keine reisende Menschenseele kennen. Die Abwesenheit von Bars erschwert es auf dem Subkontinent erheblich, Gleichgesinnte zu finden. Erst beharrliches Verweilen in Udaipur bescherte uns einige interessante Bekanntschaften im Café Edelweiss, das ein deutscher Studiosus-Reiseleiter dort eröffnet hat. Unter unseren neuen Bekannten sind ein deutscher Aussteiger mit Antibiotika-Allergie und eine Reihe von Weltreisenden, die schon seit mehreren Jahren unterwegs sind und keine Hemmungen haben, in Indien im Thailand-Look aufzutreten. Nein, im Gegenteil, es sei gut, dass es keine Bars in Indien gäbe, belehrte mich Kylie aus Kanada, der es schon seit sieben Jahren nicht mehr nach Hause geschafft hat. Bars würden Indien zerstören. Wahrscheinlich deswegen kam ich mir wie ein Junkie vor, als mir mein Feierabendbier vor dem Tempel in einer blickdichten Teetasse serviert wurde und ich die Flasche unterm Tisch verstecken musste. Die Hindus haben nach den muslimischen Eroberungszügen einige schlechte Gewohnheiten aus der islamischen Welt übernommen. Dazu gehören die Scheu vor öffentlichem Alkoholausschank und die Zenanas in den vornehmen Bürgerhäusern und Maharadja-Palästen, in denen die Frauen versteckt wurden. Immerhin stellten ihnen ihre Männer so eine Art Fernseher zur Verfügung, um ihre Gefangenschaft kurzweiliger zu gestalten. Die Fenster der Paläste von Radjasthan sind so verziert, dass von draußen zwar niemand hineinsehen kann, die Damen aber freien Blick auf das bunte Treiben im Basar hatten, jedenfalls wenn sie sich dafür flach auf den Boden legen. Oder aber sie waren ein gutes Stück kleiner als ich.

Besser als die weltenbummelten Beachboys aus Thailand gefiel mir die Japanerin Shi, die mir im Basar nach dem Besuch des Stadtpalastes von Udaipur zulief. Wegen ihrer vielen Tätowierungen und des ACDC-Shirts musste sie Hokkaido verlassen und ging nach Tokyo, wo die Punk-Szene schon etwas weiter entwickelt ist als auf dem Land. Das teure Leben dort verdient sie sich mit zwei Jobs. Tagsüber gibt sie Daten für einen Sicherheitsdienst in den Computer ein und nachts verprügelt sie brave japanische Familienväter und Beamte - aber mit Respekt, wie sie betonte - oder sie bindet deren Vorliebe, sich als Schulmädchen zu verkleiden, in ein gewaltärmeres Liebesspiel ein. Fetisch ist in Japan ganz groß, erklärte sie mir. Daneben kam mir mein Job etwas farblos vor.

Unser Schweizer Schwert-Antiquitätenhändler fand bei einem Fachgespräch mit Shi über Samurai-Schwerter heraus, dass ihr Großvater einem bekannten japanischen Mafiageschlecht angehörte, den Yakuzis. Nur so kann er sich ihre Tätowierungen erklären. Die Japaner mögen die globalen Trendsetter auf dem Gebiet des Fransenhaarschnitts und der blonden Strähnchen geworden sein. Die Toleranz gegenüber weiblichem Gangsterlook aber hat dort immer noch ihre Grenzen, wenn die betroffene Frau nicht gerade eine Nachkommin landesweit bekannter Verbrecher ist. Gangstererbin und Teilzeitdomina Shi reist durch Indien, um den Geist ihres Ex-Ehemannnes auszutreiben, mit dem sie einmal vier Monate in Goa verbracht hat. Wenn sie sich gerade nicht eine neue Tätowierung machen lässt, frequentiert sie zusammen mit Inderinnen die örtlichen Schönheitssalons, um sich die Haut bleichen zu lassen. Währenddessen quälen M. und ich uns zusammen mit den Israelinnen in der Sonne herum, um braun zu werden. So verrückt ist die Welt!

Der Schweizer wiederum hat auf beide Waden Flügel tätowiert. In Indien hat er sich der Shiva-Sekte angeschlossen. Er kommt seit 21 Jahren nach Udaipur,um mit seinem Guru im Tempel zu kiffen. Neben Shiva steht er auf den Götterboten Merkur - daher die Flügel - und auf das Mittelalter. In Indien lässt er Kostüme für seinen alemannischen Ritterklub daheim anfertigen. Von ihm wissen wir, dass sich die Hindus wegen der verwirrenden Vielzahl von Göttern aus Pragmatismus meistens auf einen Gott konzentrieren, der ihnen besonders sympathisch ist. Wie mir scheint kam dem Schweizer am Shiva-Kult besonders gelegen, dass der eine oder andere Joint dafür unerlässlich ist. Dennoch behauptet er hartnäckig, es ginge ihm inzwischen vor allem um die Inhalte seiner neuen Religion.

Sehr vermissen werden M. und ich die Freundlichkeit der Inder. Am schönsten war unser Spaziergang durch die indigoblauen Häuser der Brahmanen von Jodhpur. Jedenfalls war früher Indigo die Farbe der Brahmanen - der Priesterkaste - der Stadt. Heute ist die indische Gesellschaft geringfügig liberaler geworden und auch niedere Kasten dürfen ihre Häuser in Indigo streichen, zumal das vor Mücken schützen soll. Das erfuhren wir bei der lehrreichen Audioführung in der mächtigen und prachtvollen Festung der Stadt, die der Maharadja von Jodhpur mitsamt dem Anschauungsmaterial etwas besser in Schuss hält als der Maharana von Udaipur seinen verschimmelten Stadtpalast.

Der friedlichen Atmosphäre in Jodhpurs Indigo-Viertel kommt nur die Langmut vernachlässigter heiliger Kühe gleich. Kein Vergleich mit dem wilden Basar der Stadt und seinen engen Gassen voller mordlustiger Rikschafahrer, Eseltreiber und Milchmänner auf Stierkutschen, wo mangels Touristenmassen nur Waren für Einheimische im Angebot sind. Will sagen Gemüse anstatt Toilettenpapier, Saris anstatt Hippie-Röcken, Diwali-Süßigkeiten anstatt Bhang-Lassis und Chinaböller anstatt Mineralwasserflaschen . Im Indigo-Viertel herrschte im Vergleich dazu himmlische Ruhe, die Sonne warf goldenes Licht auf die Häuser, die Kinder reichten uns in der Straße zum Gruß die Hände und die alten Damen, die auf den Mauervorsprüngen vor ihren Häusern liegend das Treiben auf den Straßen an sich vorbeiziehen ließen, riefen freundlich "hello" oder "namasthé".

Inzwischen wieder zu Hause angekommen, stellte ich am Sonnabend auf dem Öko-Spießermarkt am Kollwitzplatz fest, dass die Reise mir außergewöhnliche Fähigkeiten verliehen hat. Inzwischen handele ich auch im Mutterland der Festpreise spielerisch und erfolgreich. Auf dem Markt kaufte Gemüse für 5,30 Euro, musste nach einem Blick in mein Porte-Monnaie jedoch zerknirscht feststellen, dass ich nur noch 4,50 Euro mein Eigen nannte. Ich wollte dem Verkäufer gerade anbieten, die Kiwis wieder zurückzulegen, als er schon mit einer wegwerfenden Handbewegung rief "ok, 4,50 Euro". Seine Gesichtszüge verrieten mir, dass er am ehesten südlich des Mittelmeers geboren wurde. Mir war, als hätte in seiner Stimme so etwas wie freudige Erregung mitgeschwungen. Vermutlich wartet er seit seiner Ankunft in Deutschland darauf, dass er endlich einmal wieder so handeln kann wie zu Hause.

Skandale am Pushkarsee

Der Maharadja von Udaipur ist offensichtlich klamm. Das erkennt man an seinem verfallenen, wenn auch romantischen Palast hoch über dem Picholasee.Wahrscheinlich hat sein Vater zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft die königliche Schatzkammer in teuren Hotels, beim Polospielen und im Kasino durchgebracht, mit der tatkräftigen Unterstützung von Varietétänzerinnen, wie das damals unter indischen Herrschern üblich war. Als Indira Gandhi in den siebziger Jahren den blaublütigen Herrschern endgültig den staatlichen Wechsel strich, hat es den Maharadja von Udaipur vermutlich eiskalt erwischt. Inzwischen hat er sich zu einem modernen Wegelagerer entwickelt. Er nimmt nicht nur horrende Preise für seine in Hotels und Restaurants verwandelten Palastbestandteile auf den Inseln des Sees, sondern verlangt auch Wegezoll von allen, die sein Palastgelände durchqueren müssen, um in die einzige Cocktailbar der Stadt zu kommen oder die Segel zu einer romantischen Schifffahrt auf dem See zu setzen wollen.

Denn romantisch ist Udaipur. Der See mit seinen palastgeschmückten Inseln ist von lieblichen Hügeln umsäumt und am Ufer waschen energische Frauen in bunten Saris Wäsche, indem sie mit Cricketschlägern darauf einschlagen. Wozu das dient, ist M. und mir nicht ganz klar geworden. Vielleicht soll es das Auswringen ersetzen? Auf jeden Fall hat M. die Schläge auf ihrem Sound-of-India-Band aufgenommen und der Nachwelt erläutert, dass sie keinem treulosen Mann, sondern nur der Wäsche gelten.

Etwas argwöhnischer beäugen wir, dass die Inder sich und ihre Wäsche im Picholasee stets mit einer ordentlichen Portion Seife waschen. Das ist bestimmt auch nicht umweltfreundlicher als der Plastikmüll der überall am Straßenrand liegt und heiligen, aber auch hungrigen Kühen als Grasersatz dient. Bablu, der uns für eine Spende an das örtliche Tierkrankenhaus in einem Ashram Joga beibringt, hat uns glaubhaft versichert, dass das den Kühen nicht gut bekommt.

In Indien nähern wir uns mit Siebenmeilenstiefeln dem Diwali-Fest. Damit feiern die Hindus Ramas Rückkehr aus dem Exil nach seinen nervenaufreibenden Kämpfen gegen Dämonen, aus denen zum Glück das Gute in Form von Rama - übrigens wie Krischna eine Inkarnation des Gottes Vischnu -als Sieger hervorging. Leider beschränken sich die Hindus nicht darauf, ihre Städte mindestens ebenso wahnwitzig bunt und blinkend zu schmücken wie die Christen die ihren zu Weihnachten. Ähnlich wie wir haben auch die Hindus den eigentlich Anlass für ihr höchstes religiöses Fest ein wenig aus den Augen verloren und beschäftigen sich hauptsächlich mit Essen, Geschenke einkaufen und Böllern.

Dass ihnen beim Essen die Zwiebelknappheit im Wege steht, die derzeit die Preise in Delhi mit noch größerer Wucht in die Höhe treibt als der Hurrikan Kathrina und die chinesische Nachfrage den Preis für Öl, erwähne ich nur am Rande. M. und mich beschäftigt vor allem das Böllern. Besonders in Pushkar war es ein wenig zu viel für unsere schwachen Nerven, als wir feststellen mussten, dass im Äther bei all den Gesängen von indischen Pilgerern, westlichen Heilsuchenden und Hindi-Popsängern noch Frequenzen für lautes Knallen frei waren. Wir waren einfach noch nicht richtig eingegroovt, meint M. Außerdem hatte unser Joga-Kurs im Aschram hatte noch nicht angefangen und uns fehlte die nötige innere Ruhe.

Während ich im Ashram bereitwillig "Om" summe und mehrere Minuten in der Baum- oder der Kerzenposition verharre, dürfte mein Rendez-vous mit Ayurveda das vorläufig letzte gewesen sein. Die beiden Inderinnen, die in unserem Hotelzimmer aufkreuzten, von uns verlangten, dass wir uns nackt ausziehen, und dann Öl über unseren Kopf gossen, waren mir einfach nicht geheuer. Außerdem erwies ich mich als so kitzelig, dass ich M. mit meinem Gelächter fast daran gehindert hätte, sich zu entspannen und zu konzentrieren. Zum Glück trug nicht nur ich allein dazu bei, auch M.s Masseurin gab Anlass zu klagen, indem sie bei der Arbeit schnaufte wie ein Walross und auf dem Höhepunkt, als sie sich so richtig in Rage massiert hatte, laut rülpste. Mir ist bis heute nicht klar geworden, warum die beiden am Ende den Rest ihres Öls über unsere Haare gossen und daran herumrissen, bis wir drohten einer kahlgeschorenen indischen Witwe zu gleichen.

Ansonsten spielten sich in Pushkar zahlreiche Skandale ab, wie in der Zeitung zu lesen war. Eine Finnin nahm in dem heiligen See nackt ein Bad,was durchaus nicht zu den Gepflogenheiten der Inder zählt. Die beklagten sich außerdem über Orgien unter der Beteiligung von Israelinnen, die in einem Hotelzimmer ihrer heiligen Stadt stattgefunden haben sollen, wobei der Journalist allerdings nicht präzisierte, wie die Bürger von Pushkar von diesem Vorfall Kenntnis genommen hatten. Ob sie durch die Schlüssellöcher der Hotelzimmer spähen, weil die Kamasutrastellungen sie schon alle langweilen und sie mal etwas Neues kennen lernen wollen? Vielleicht sind sie auch einfach prüder geworden als zu Sanskrit-Zeiten. Dafür spricht, dass auch der Kuss eines israelischen Paares am Ufer des Sees nach ihrer Hindu-Hochzeitszeremonie bei den Einheimischen nicht gut ankam.

Recht geben, muss ich den Beschwerdeführern darin, dass sich die Touristen in Pushkar ein wenig auffällig benehmen. Aus irgendeinem Grund haben sich vorwiegend Israelis ausgerechnet einen Ort zum intensivem Drogenkonsum ausgesucht, der den Hindus so heilig ist, dass sie dort noch nicht einmal Eier konsumieren, geschweige denn Fleisch oder Alkohol. Auf M.s und mein Kuchenabenteuer in Pushkar, möchte ich lieber nicht näher eingehen.

Alle, die nach Pushkar kommen, außer uns und den Israelis haben trotz fortgeschrittenen Alters Rastalocken oder Vollbärte und hüllen sich in bizarre Gewänder. Ziemlich bald fingen M. und ich an, nicht mehr barfüßige indische Pilgerer in Gandhi-Hosen und orangefarbenen Turbanen mit unserer Kamera zu jagen, sondern auch die westlichen Heilsuchenden, deren Klamotten in der Heimat schon seit mehr als 30 Jahren aus der Mode gekommen sind. Dafür jagten Mellie und mich jene indischen Pilgerer, die sich noch nicht von allen irdischen Leidenschaften, insbesondere nicht von ihrer Kamera losgesagt haben, bevor sie sich mit einem beherzten Sprung in den Pushkarsee von allem Übel reinigten. Kaum einer unter ihnen, der nicht den Unterschied fotografisch festhalten wollte, der zwischen der Körpergröße ihrer Familienmitglieder und ihnen einerseits und M.s und meiner andererseits klaffte. Während die eine Hälfte von Pushkar also bettelt und im See badet, ist die andere Hälfte damit beschäftigt, sich gegenseitig zu fotografieren. Ihr könnt Euch vorstellen, was für ein lustiges und buntes Treiben das ergibt.

Trotzdem konnten M. uns ich uns irgendwann losreißen, um uns die majestätische Festung von Jodhpur, seinen chaotischen Basar und die indigofarbenen Bramahnenhäuser anzusehen. Aber davon berichte ich nächstes Mal.