Den
September und Oktober verbrachte ich damit, meine interessanten Ergebnisse zu
Firmengründungen in Europa vor Delegierten in allen möglichen Ausschüssen
und Arbeitskreisen vorzutragen. Hervorzuheben ist, dass ich in Rom weniger
Glück hatte als mein Vater, denn das Portemonnaie, das man mir bei einem kurzen
Spaziergang mit einem amerikanischen Statistiker während der
Konferenzmittagspause aus der Handtasche zog, ist und bleibt spurlos
verschwunden. Darias Oma sagt, das waren „extracommunitari“, also keine
Außerirdischen, sondern Römer ohne EU-Pass. Aber das kann sie ihrer Großmutter
erzählen.
Auch
erwies sich das Schengener Abkommen als wertlos für EU-Bürgerinnen, die in
einem EU-Mitgliedsstaat leben, das nicht ihr Heimatland ist, und von einem
dritten EU-Land aus mit dem Flugzeug nachhause möchten. Die Air France teilte
mir telefonisch mit, dass sie mich - Schengen hin, Schengen her - ohne
Personalausweis nicht würde fliegen lassen, und alles, was Herr Herse aus der
Deutschen Botschaft mir geben konnte, war ein vorläufiger Ausweis zur
Wiedereinreise in die Bundesrepublik. Es bedurfte einiger List und Tücke, um es
rechtzeitig zu Dienstbeginn wieder nach La Défense zu schaffen, ohne über
Berlin zu fahren.
Mein
erster Vortrag fand im September in London bei einer Mikrodatenkonferenz statt.
Dort unterzogen mich die Engländer gleich mehreren Feuerproben. Deren erste
präsentierte sich in Form einer schnurlosen Maus, die man mir in die Hand
drückte, damit ich mich trotz defekter Tastatur des Saalcomputers während
meines Vortrags bequem von Folie zu Folie klicken konnte. Niemand hatte dabei
jedoch bedacht, dass ich bei Vorträgen vor großer Audienz keinesfalls so ruhig
bin, wie ich mich gebe. Es war überhaupt nicht daran zu denken, den Mauszeiger
als modernen Zeigestock zu verwenden, um die Aufmerksamkeit des Publikum auf
besonders aussagekräftige Zahlen zu lenken. Die erratischen Zickzackbewegungen
des Pfeils auf gleich zwei Großbildschirmen im größten Hörsaal der Cass
Business School entzogen sich völlig meiner Kontrolle. Leider fehlte mir im
Unglück die Geistesgegenwart, die Maus in Klickpausen einfach auf den Tisch zu
legen. Während ich verzweifelt versuchte, meinen Arm soweit von mir zu
strecken, dass der rasende Pfeil so weit wie möglich am Bildschirmrand
verschwand, fasste mich Panik, die Zuhörer könnten meinen Vortrag für eine
Foltergymnastikstunde bei Heike halten und versuchen, meine bizarren
Übungen nachzuahmen. Als ich mich nach den zwanzig längsten Minuten meines Lebens
endlich wieder hinsetzen durfte, hätte ich am liebsten meine Nachbarin um deren
Riechfläschchen gebeten.
Wenn ich
geglaubt hatte, dass damit das Schlimmste überstanden sei, so hatte ich mich
jedoch sehr getäuscht. Am Abend wartete auf uns das Konferenzdinner im National
Liberal Club. Eigentlich hatte ich erwartet, dass mir dort ein knorriger
englischer Butler mit dem Hinweis „No dogs, no ladies“ die Tür weisen würde.
Statt dessen saßen auf dem hochherrschaftlichen Steinbalkon des Clubs Inder mit
Turbanen und ihre Frauen im Sari, tranken Portwein und blickten wohlwollend auf
die weiten Parkanlagen zu Füßen des historischen Baus. Dieses Bild führte mir
plastisch vor Augen, dass die Briten in den vergangenen Jahrhunderten einige
Entwicklungen durchgemacht haben und ich mich bei der Formung meines
Englandbildes nicht ausschließlich auf Jane Austen verlassen kann.
Vor
meiner Abfahrt auf die britischen Inseln hatte ich mir noch dicke Rügen von Katia wegen dummer Witze über die englische Küche eingefangen. Schließlich
sei ich es immer, die Zurückhaltung mit stereotypen Vorurteilen über ganze
Länder predige. Jedoch übertraf, was mich nach Besichtigung der imposanten
Bibliothek und des Rauchzimmers im Bankettsaal erwartete, meine schlimmsten
Phantasien. Nach einer Standardvorspeise trugen die vornehmen britischen
Kellner jedem von uns einen Vogel auf, dessen Fleisch an Zähigkeit das Carne do
Sol um Längen übertraf, das Silke und mich auf der Insel Itaparica damals dazu
gezwungen hatte, anschließend vor staunenden Brasilianern Cachaca aus
Wassergläsern zu trinken. Jeder, der mutig genug war, das Tier zu verzehren,
konnte von roh bis mehr als well-done alle Stufen der Garheit bei einem
einzigen Mahl hautnah erfahren. Das Schlimmste jedoch war der Anblick: Jeder
Vogel wurde mit intakten Beinen serviert einschließlich der scharfen Krallen
und einiger Federn, die augenscheinlich der Verzierung dienen sollten. Meine
irische Nachbarin, die in Oxford studiert hat, unterrichtete mich darüber, dass
es sich bei dem Federvieh um schottisches Moorhuhn handelte und sich unsere
Gastgeber mit dieser Menüwahl darum bemüht hätten, ein umfassendes Zeugnis
einer langen und stolzen englischen Jagdtradition abzulegen. Das beeindruckte
mich sehr und ich wäre jederzeit bereit gewesen zu glauben, Prinz Charles hätte
alle servierten Moorhühner persönlich geschossen. Aber obwohl es für mich
nichts Schlimmeres gibt als Deutsche, die auf Mallorca nur Frankfurter
Würstchen essen wollen und Italiener, die überall auf der Welt jammern, dass
die Barilla-Nudeln nicht so schmecken wie zuhause, neige ich seit dieser
Erfahrung doch zu der Auffassung, dass die Offenheit gegenüber fremden Kulturen
und deren Küche ihre Grenzen haben darf.
Zum
Glück war das Wetter strahlend schön und der Ausflug in Schluckis offenem Auto
aufs Land ein großer Spaß. Englische Gartenbaukunst und das Londoner Nachtleben
taten ihr Übriges, um mich mit dem Inselvolk und seinen Gepflogenheiten wieder
zu versöhnen, und das obwohl ich diesmal im 333 in punkto Heiratsanträge
enttäuschend leer ausging. Dafür erwies sich Elisas Verlobter, Stefano, als
sehr nett und vielseitig einsetzbar. Jetzt freue ich mich auf die Hochzeit im
nächsten Jahr in Venedig. Ich frage mich nur, was wir zum Hupen verwenden
können, wenn wir hinter dem Brautpaar in der Gondel herrudern.