Samstag, 1. Mai 2010

Die Bettlerin von Belleville

In lichten Momenten hat sie Humor. Wenn die Chinesen von Belleville in ihren Gemüseladen oder ihr Restaurant zur Arbeit gehen, wenn die sorgsam gekleideten Büroangestellten auf dem Weg zur Metro sind und junge Araber und Afrikaner sich im Vorbeigehen laut klatschend die Hände reichen, ohne sich dabei in die Augen zu sehen, dann ist für sie die beste Zeit.

Ihr Blick ist ausdruckslos, ihre Haut ist fahl und ihre dünnen, glanzlose Haare sind ungekämmt.

„Hätten Sie eine Münze?“, fragt sie die Passanten mit einer eigentümlichen Sprachmelodie, deren Ton gegen Ende des Satzes immer weiter anzusteigen scheint.

„ Ich werde sie doch nicht gleich um einen Schein bitten“, fügt manchmal fast schon ein bisschen kokett hinzu. Dann lächelt sie und entblößt dabei ihre schwärzlichen Zähne. Das sind die guten Tage.

In schlechteren Momenten entgleitet ihr der Humor ihrer kleinen Kombination. Dann bittet sie die Passanten tonlos und ohne weitere Umschweife um einen Schein, manchmal auch ganz ohne vorher ein wenig bescheidener Münzen ins Spiel gebracht zu haben.

Sie ist der beste Beweis, dass eine Frau immer eine Frau bleibt. Wie hat sie mich aus meinen Tagträumen aufgeschreckt, als sie zum ersten Mal vor mir stand und mit der gleichen Geste wie ich gedankenverloren in den Haaren drehte. Die Bettlerin von Belleville mit den wirr abstehenden Haaren und dem ausdruckslosen Gesicht, mein Spiegelbild. Ich blieb sofort stehen und zückte mein Portemonnaie. Seither habe ich es nie mehr geschafft, einfach an ihr vorbei zu gehen, so groß die Eile auch manchmal war. Und dass bei den vielen Bettlern, die man jeden Tag in Paris ignoriert.

Ein andermal bat sie mich um Zigaretten. Als ich erwiderte, dass ich nicht rauche, fasste sie sich erschrocken ins Gesicht.

„Sieht man stark, dass ich rauche?“, fragte sie offensichtlich bestürzt. Auch bei Frauen, die nicht mehr die Kraft oder die Gelegenheit haben, sich morgens zu kämmen, stirbt die Eitelkeit nie ganz.

Ihre Familie sucht Ärzte aus, die sie krank machen, hat sie mir erzählt. Ihre Mutter will sie verhexen.

Ich frage mich, ob sie eine Wohnung hat, und ob jemals jemand mit ihr spricht außer den flüchtigen Passanten auf der rue de Belleville, die sich ein paar Sekunden Zeit für sie nehmen.