Sonntag, 23. November 2008

Letzte Tage in New York

Email aus New York, März 2001

Meine Tage in New York sind gezählt, und ich arbeite wie ein Eichhörnchen in der Trommel, um mein Wirken in dieser Stadt fachlich wie persönlich der Vollendung nahezubringen.

Letzten Sonnabend erwiesen wir meinen Polen in Williamsburg kulinarisch Reverenz, indem wir bei ihnen Pierogi essen gingen. Jeanette hatte ein paar fesche Geigenbauerinnen dabei, einen Münchner Geigenhändler und ihren armenisch-russischen Teufelsgeiger, und ich stellte aus meinem unerschöplichen Fundus ein paar von den Amerikanern bereit, die ich im Laufe der Zeit in Hell's Kitchens Bars aufgelesen habe. Jeanette war begeistert von dem echt polnischen Mangel an Service-Kultur in dem Restaurant. Der Chef sah uns an, als wollte er uns umbringen, als wir seine Gaststätte betraten - wir waren die einzigen, die ihm das zumuten wollten. Die Kellnerin war selbstverständlich eine atemberaubende 1,80 m große osteuropäische Schönheit mit hohen Wangenknochen und Gesundheitsschuhen, die den vernichtenden kommunistischen Dienstleitungsblick bis zur Perfektion beherrschte. Endlich mal kein: "Hiiiiiiii, I am Angela, what can I do for you?" Das Wesentliche jedenfalls stimmte. Das sahen wir gleich, als die Omi kurz aus der Küche blickte. Es hat einen Grund, daß ihre Familie sie dort versteckt, denn sie kann einfach nicht verbergen, mit wieviel Liebe sie kocht. Das darf der Kunde natürlich auf keinen Fall mitbekommen.

Bei unserer anschließenden Williamsburgtour hat sich herausgestellt, dass Jeanette und ich das allerbeste Tanzpaar von allen waren. Jeanette ist ganz klein und schmächtig. Nur noch mit Philipp kann ich solche drops und Würfe tanzen, wie Jeanette und ich sie im Black Betty hinlegten, aber mit Philipp liege ich öfter auf dem Boden. Na ja, ich bin eben einfach nicht klein und schmächtig...

Der Wir-lieben-unsere-Kinder-über-alles-Wettbewerb zwischen meiner Mutter und Lucas' Vater erreichte am Rosenmontag einen neuen Höhepunkt. Vorher hatte sich meine Mutter mehrfach dadurch positiv hervorgetan, daß sie in allen möglichen - vornehmlich romanischen - Sprachen "Ich liebe Dich" und "besame mucho" auf das Band gesäuselt hatte. Lucas verstieg sich sogar zu der Behauptung, sie sei latinischer als Jennifer Lopez. Am Montagnachmittag rief er mich dann völlig verstört in der Uni an, und meinte, ich solle lieber jetzt schon nachhause fahren und dafür sorgen, daß meine Eltern beide in Gewahrsam genommen werden, aber getrennt. Sie seien "re-locos" und würden sich zudem noch gegenseitig hochschaukeln.

Wie sich herausstellte, hatte meine Mutter zwei Nachrichten hinterlassen - natürlich während Lucas schlief. Nach anfänglichem Säuseln, fing sie an Karnevalslieder zu singen, "mit alle Mann am Ballerman" und dergleichen, das ganze untermalt von meinem Vater, der im Hintergrund "te quiero mucho" rief. In der zweiten Nachricht sangen die beiden ein Duett. Nach meinem Dafürhalten haben meine Eltern jetzt einen uneinholbaren Vorsprung aufgebaut, aber Lucas will das auf keinen Fall auf sich sitzen lassen. Das sei wie die Weltmeisterschaft von 1990, sagt er, und außerdem glaubt er insgeheim, daß Mama gegen das Anti-Doping-Gesetz verstoßen hat. Na ja, es war Rosenmontag, da mag wohl etwas dran sein.

Über Tim Nellon kann ich nichts Schlechtes sagen, weil er auf dem Verteiler ist. Aber wie sich am Donnerstag herausgestellt hat, tanzt er argentischen Tango wie ein junger Gott, also könnte ich mich auch dann nicht beklagen, wenn er nicht auf dem Verteiler wäre. Wir waren in dem urigsten Tangoschuppen der Stadt, "La Nacional", und ich konnte mich davon überzeugen, daß die Tangoszene in Hamburg mindestens die Dimensionen derer in New York besitzt. Ich kannte jeden einzelnen Tanguero noch von meinen Tango-Safaris im letzten Herbst. Ich kenne mich jetzt ja schwer aus, deswegen weiß ich, daß der Dueno ein getürkter Argentinier ist, obwohl er das nicht zugibt und Reisen nach Buenos Aires organisiert. Aber er singt nicht, wenn er spricht, und er sagt nicht "vos" anstatt "tú". Haha, ich bin mit allen Wassern gewaschen, mich täuscht man nicht. Dafür machte er sich bei mir beliebt, als er mir sagte, daß Deutschland das führende Tangoland außerhalb von Argentinien ist.

Gestern abend war ich mit Kerry im Metropolitan Museum of Art. Kerry ist einer von fünf Söhnen irischer Einwanderer aus Queens. Er steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden und anders als die Künstler in Williamburg bekleckert er sie auch nicht extra mit Farbe. Dennoch studiert er Malerei. Wir hatten am vorhergehenden Sonnabend einige haarsträubende Bildungslücken in meiner kunsthistorischen Ausbildung entdeckt (kennt ihr alle Caravaggio?), die er sich anbot zu stopfen. Jetzt weiß ich alles über chiaro-oscuro - und er weiß endlich, wie man das ausspricht - und über das Scharmützel zwischen der venezianischen und der fiorentinischen Schule. Bei Renaissance und Barock verstanden wir uns noch ganz gut, aber in der modernen Kunstabteilung bekam er das eine oder andere Mal Herzkrämpfe, wenn ich an besonders beachtenswerten Meisterwerken achtlos vorbeiging und statt dessen stehen blieb, wenn mir eigentlich sämtliche Haare hätten zu Berge stehen sollen.

Danach wollte Kerry eigentlich schnell schlafen gehen, aber wir schleppten ihn mit Jeanette und Chavi in die Lenox Lounge nach Harlem zum Jazz. Hat der es gut, daß endlich die Deutschen gekommen sind, um ihm New York zu zeigen. Er war noch nie in Harlem.

Harlem wird in regelmäßigen Abständen in der deutschen Presse ein Renaissance prophezeit. Die New York Times und Yvonne's Freundin Jill, die in der Lenox Avenue wohnt, sagen, das habe schon längst stattgefunden. Bill Clinton ist offensichtlich mit ihnen einer Meinung. Als ich Anfang der neunziger Jahre in New York war, hätte ich mich mit meiner Barbara niemals dorthin getraut. Aber jetzt wächst, blüht und gedeiht alles, ganze Straßenzüge von verlassenen Townhäusern werden renoviert und die Immobilienpreise sind inzwischen fast auf Downtown-Niveau.

Am schönsten finde ich das Nachtleben. Die Lenox Lounge ist vorne eine moderne Bar mit der Vorhut der schwarzamerikanischen Nachtschwärmer am Tresen, und hinten im Jazz-Keller ein Stück Cotton Club im Zebra-Streifen-Look.

Die Sängerin verfügte über einen imposanten Klangkörper und sang genauso, wie sich das die ungeübte Laiin von einer schwarzen Sängerin erhofft. Außerdem war sie witzig und charmant und besuchte in der Pause jeden einzelnen ihrer Gäste am Tisch, um mit uns zum Beispiel über ihre zahllosen Freunde in Berlin zu plaudern. Der Bassist war weiß und sah Chatschik zufolge aus wie Lenin. Soweit ich das beurteilen kann spielte jener auf jeden Fall mindestens so gut Bass, wie dieser die Massen mobilisieren konnte.

Es wird Zeit, daß ich Williamsburg verlasse. Nicht nur, daß ich von einigen Polen am Sonnabendmorgen schon mit Handschlag auf der Bedford Avenue begrüßt werde, ich werde auch abgefangen und in Bars gelockt, wenn ich abends mit dem festen Vorsatz nachhause komme, schlafen zu gehen. Heute lernte ich Hernan, einen 1,90 großen Puerto Ricaner in der U-Bahn kennen, mit dem ich mir über die hervorragende Stimmqualität des mexikanischen Straßensängers sofort einig war. Nächsten Sonnabend will Hernan mich um 10:15 wieder an der Haltestelle treffen.

Wenn Nina und Philipp nicht in Eimsbüttel wären, müßte ich mir jetzt ernsthaft überlegen, nach Hamburg-Wilhelmsburg zu ziehen...

New York Abenteuer fast komplett

Email aus New York, März 2001

Lucas ist ein Engel. Sein einziger Fehler besteht darin, daß er gelegentlich das Geschirr länger in der Spüle stehen läßt. So etwas darf man natürlich in einem Entwicklungsland nie tun. Das lockt alles möglich Ungeziefer an. Heute morgen hat er die Quittung dafür bekommen. Der arme Kerl tut mir immer noch ganz leid.

Ich bin zur Zeit ein bißchen angespannt, habe viel zu tun, und deswegen bin ich früh aufgewacht und habe mich schnell fertiggemacht, um sogleich behende an die Uni zu eilen. Als ich mich in bester Laune der vollgestellten Spüle näherte, peste eine Kakerlake ungefähr in der Größe der Hell's-Kitchen-Maus durch das Waschbecken, die ich dereinst ohne mit der Wimper zu zucken ins Jenseits befördert hatte. Aber morgens habe ich immer schwache Nerven und in der ersten Schrecksekunde stieß ich einen derart gellenden Entsetzensschrei aus, daß der arme Lucas sofort senkrecht im Bett stand und mitschrie. Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt hatte, daß zwar zwischen seinem und meinem Zimmer eine Tür ist, nicht aber zwischen seinem Zimmer und der Küche. Türen sind eben ein knappes Gut in Amerika. Im "Galapagos" in Williamsburg haben sie sich sogar darauf beschränkt, bunte Tücher vor die Toilettentüren zu hängen, und das will etwas heißen bei den prüden Amerikanern, die ja schon immer einen Herzinfarkt bekommen, wenn man im Zweiteiler ins öffentliche Schwimmbad möchte.

Aber das gehört nicht zum Thema. Was ich sagen wollte, ist, daß ich in meinem ganzen Leben nicht diesen angstverzerrten Gesichtsausdruck von Lucas vergessen werde, als er in mein Schreien einstimmte. Ich wundere mich wirklich, daß der Wasserkäfer nicht gleich vor Schreck gestorben ist. Wie auch immer Lucas und ich brauchten etwa zehn Minuten, um uns zu erholen, dann dauerte es weitere zehn Minuten, bis ich ihm erklärt hatte, was Sache war. Schockzustände sind meinem Spanisch nicht sehr zuträglich, aber cucarracha ist mir dann irgendwie doch noch eingefallen.

Völlig verängstigt fragte mich Lucas schließlich, ob ich wohl den Mut hätte, das Tier zu erlegen (er weiß alles über die Maus), sonst würde er es tun. Mir war klar, daß der Kleine um Jahrzehnte gealtert wäre, hätte ich dazu gezwungen, zum Mörder zu werden. Also befleckte ich wieder selbst meine Hände mit Blut und untermauerte meinen Ruf als Killerlady, nicht ohne laut auf Deutsch zu schreien "hau ab, geh weg, du widerliches Vieh". Für Lucas war ich in dem Moment bestimmt die Inkarnation eines dieser garstigen Nazis, die mit ihrem "Achchchchtung, machchchchch schnell" in keinem Hollywood-Film fehlen dürfen. Danach legte ich mich völlig erschöpft auf den Küchenboden und war fertig mit der Welt. Lucas meinte zufrieden, daß sei nurmehr eine weitere New York Erfahrung für mich, jetzt würde nur noch die Ratte fehlen. Sprach's und schlief auf der Stelle wieder ein.

Wie immer, wenn man irgendwo weg muß, ist es jetzt am schönsten. Alle Italiener sind aus ihren Löchern gekommen, gehen mit mir ins Kino, in die Disco, laden mich zum Brunch ein und jammern, ich solle den New-York-Aufenthalt doch noch verlängern, sie würden Luckus einen Brief schreiben. Aber als ich mich damals im Blauen Barhaus von meinem Hamburgern verabschiedete, mußte ich Christoph Gaggeleier hoch und heilig versprechen, zurückzukommen und nicht einfach wieder abzuhauen, wie damals aus Freiburg. Also wird nichts daraus, ich komme zurück. Außerdem sind sie Italiener hier entzückend, aber irgendwie auch Mutanten. Gingen wir doch neulich um halb neun Uhr abends von der Uni aus etwas essen, um zehn (!) fragte ich, ob wir noch ein Bierchen trinken gehen. Da antwortete Paolo doch nein, er müsse zurück an die Uni. Schließlich ging ich alleine mit Mike ein Bier trinken, dem einzigen Amerikaner im Ph.D. Programm. Er beklagte sich bitter bei mir, denn er sitzt mit drei Italienern in einem Büro. Wenn er morgens kommt, sitzen die schon dort und lernen, und wenn er abends geht, lernen sie immer noch, und was ist überhaupt aus „Dolce Vita“ und „Dolce Farniente“ geworden. Das frage ich mich auch. Vor lauter Verzweifelung tranken wir gleich drei Biere.
Salsa tanzen wir weiterhin, ich jedoch am liebsten mit meinem Russen. Neulich brachte Claudio mich allerdings ein bißchen in Verlegenheit. Ich saß gerade bei N. im Büro, um meine Arbeit zu besprechen, da kommt er herein, um irgendetwas zu fragen. Als N. uns vorstellen möchte und zu diesem Zwecke fragt, ob wir uns denn kennen, meint Claudio: "Ja, aber wir haben noch nicht zusammen Salsa getanzt." N. trug es mit Fassung, und ich versuchte, es ihm gleichzutun.

Letzten Sonntag gaben wir uns endlich auch mal dem Dolce Farniente hin, frühstückten mit Anna, zwei Lucas, Paolo und Giovanna in der Bedford Avenue bei den Polen und unternahmen dann eine Weltreise. Erst die Straße hinunter nach Puerto Rico, da war gerade Siestazeit und nicht viel los, und dann weiter die Straße herunter nach Israel, zu den chassidischen Juden. Lucas kam zwei Stunden später dazu, als er aufgewacht war, genaugenommen hatte ich ihn telefonisch geweckt. In Puerto Rico war gerade Sperrmüll, und jedesmal wenn Lucas ein Sofa sah, wollte er sich drauflegen und Siesta halten. Das beschleunigte den Spaziergang nicht gerade, er machte sich bei uns Ökonomen jedoch damit sehr beliebt, daß er das Schlachtlied seiner Fußballmannschaft sang. Wenn er und seine kongenialen Fans ihren ärgsten Rivalen, das erfolgreichste Team in Argentinien, demoralisieren wollen, singen das ganze Stadion: "Boca wird Meister, wenn die Kühe fliegen und Argentinien die Inflation unter Kontrolle hat." Davon waren wir so selbst beflügelt - denn Lucas meint, das mit den Kühen passiert eher - daß wir zu Fuß die Williamsburg Bridge überquerten, bei herrlichstem Sonnenschein und mit Blick auf ganz Manhattan. Manchmal ist das Leben einfach eben so richtig gut.

Waschen in Williamsburg

Email aus New York, Februar 2001

Ich komme gerade schweissüberströmt aus dem Waschsalon in der Bedford Avenue, wo sich am Sonnabendmorgen halb polnisch Amerika ein Stelldichein gibt. Dabei habe ich gelernt, daß in Williamsburg beim Waschen nichts schief gehen darf, wenn man der polnischen Sprache nicht mächtig ist. Man braucht nicht darauf zu vertrauen, daß man mit dem Capo auf englisch verhandeln könnte. Und ohne allerbilligste Clichés bedienen zu wollen, habe ich feststellen müssen, daß die Polen sich bestens darauf verstehen, einem auch solche Sachen vor der Nase wegzuschnappen, die ich ganz persönlich immer für niet- und nagelfest gehalten hatte - wie zum Beispiel Waschmaschinen.

Nach mehreren Stunden erbitterten Kampfes habe ich es dann aber doch geschafft, meine Kleider zu reinigen, soweit das in Amerika eben möglich ist. Wenn ich an Deutschland denken freue ich mich am allermeisten auf den Kochwaschgang...

Die jüngeren Polen sprechen Englisch und auf die Art und Weise konnte ich mich heute morgen selbst davon überzeugen, daß Ostalgie auch in Polen eine weit verbreitete Krankheit ist. Wahrscheinlich in gewisser Hinsicht gar nicht immer zu Unrecht, aber der junge Mann, mit dem ich mich unterhielt, verstieg sich sogar zu der Behauptung, daß man die Präsenz der Russen zu Kommunismuszeiten kaum wahrgenommen hätte. Ach das bißchen Kriegsrecht, ich solle mich mal nicht so anstellen!

Der Valentinstag hat mich - wie sollte es anders sein - einmal mehr in eine äußerst verzwickte Situation gebracht. Der Doorman der NYU, ein gestandenes Familienoberhaupt aus den Bronx im Alter meines nur dem Anschein nach jugendlichen Vaters, hatte es sich nicht nehmen lassen, mir Pralinen in einer Schachtel in Form eines rot flammenden Herzens zu schenken. Das interpretierte ich noch als rührende Geste, die darauf abzielte, kein Heimweh bei mir aufkommen zu lassen, natürlich in Verkennung der Tatsache, daß die Deutschen in der Liebe mit einem geringen Bruchteil der Rituale auskommen, die die Amerikaner dafür benötigen. Verdächtig kam es mir dann allerdings vor, als er sich am nächsten Tag danach erkundigte, ob er mir denn wohl auch Blumen schicken dürfe. Ich weiß nicht mehr, was ich daraufhin stammelte, auf jeden Fall fuhr ich schnell in mein Büro hoch, und schrieb einen Emil an meine Kulturgrabenberaterin Helen, die sich in der amerikanischen wie auch in der taiwanesischen und deutschen Kultur auskennt wie in ihrer Westentasche, Solange es sich um nicht-rote Nicht-Rosen handele, solle ich die Nerven behalten, meinte sie, ansonsten können es sich aber durchaus um einen "dirty old man" handeln. Ich solle die Blumen auf jeden Fall annehmen, wenn sie kämen, mich aber gleichzeitig angelegentlich danach erkundigen, wie er denn den Valentinstag mit seiner Frau verbracht habe. Indem ich eine offene, positive und fokussierte Anerkennung seiner Frau und seiner Kinder zeigte, könnte ich unserem Verhältnis gewisse Grenzen auferlegen. Wer von Euch stimmt nicht mit darüber überein, daß die Frau in den diplomatischen Dienst gehört?

Wenn ein Mensch auf dieser Welt eine argentinische Seele hat, dann ist es Lucas' Vater. Am liebsten würde ich alle seine Nachrichten auf unserem Anrufbeantworter aufbewahren. Corinna würden die auch gefallen: Ein Tango könnte nicht besser sein. "Te quiero muuuucho, te quiero muuuuuucho, cuidate cuiuiuiuiuidate!" Ich habe ein bißchen Angst, die Argentinier könnten glauben, meine Eltern liebten mich nicht, deswegen forderte ich zuhause ähnliche Nachrichten ein. Aber ihr wißt ja, wie das in Norddeutschland ist. Die Männer gehen mit der Keule auf die Jagd, und wenn überhaupt jemand für Gefühle verantwortlich ist, dann sind das die Frauen, und die zeigen sie indem sie Unmengen kochen oder einem sündhaft teure grüne Lederjacken kaufen. Aber wie soll Lucas das merken?

Wenn mein Vater alle drei Jahre mal auf einen Anrufbeantworter spricht, dann diktiert er in aller Regel Satzzeichen - alte Berufskrankheit - und da ich mich dann sofort hinsetze und mitstenographiere, bin ich ganz froh, daß er keine Nachrichten hinterläßt. Lucas hält mich mit meiner Mülltrennung schon für verrückt genug. Meine Mutter hat die Angewohnheit, auf den Anrufbeantworter zu brüllen: " Niciiiiiiii, wo treibst Du Dich schon wieder 'rum?" Das ist ein bißchen zu schwer für Lucas, aber ihr "Halloooooo, Niciiiiiiiii" macht er schon so gut nach, daß ich dauernd das Gefühl habe, ich säße in Springe im Wohnzimmer oder besäße einen Papagei. Gestern hat sie jedoch auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin auf das heftigste gesäuselt, darunter auch eigenhändig kreiertes Spanisch: "Te amo, te amo, te queme , te queme" oder so ähnlich. Ich war jedenfalls begeistert. Ich hoffe auch Lucas wird beeindruckt sein, wenn er nachher um fünf mal aufwacht.

Gestern blamierte ich mich ein bißchen beim Kochen, weil ich den Spinat nicht richtig geputzt hatte. Dabei hat mir Cathrin noch zu Studienzeiten mit großer Liebe zum Detail beigebracht, wie man den Feldsalat richtig putzt - eigentlich hätte ich es wissen müssen. Gott sei Dank hat Arnold eine Spinatallergie und Frank hat aß mit Todesverachtung, wenn auch unfreiwillig zähneknirschend. Die Ente in Orangensoße war dafür lecker.

Letzten Sonntag brunchte ich mit der größten jüdischen Großfamilie im Staate Michigan. Ich habe noch mehr Williamsburger (sprich Franzosen und Israelis) in den Kneipen kennengelernt, und weiß jetzt, daß man in Williamsburg sich einer Frau nicht einfach nähert, indem man scheinheilig fragt: " Kennen wir uns nicht von irgendwoher?", sondern wenigstens: " You look familiar, are you an artist?" Vielleicht mache ich es bald so wie mein indischer Freund Rohit, bei dem ich mich unlängst beklagte, was für ein hartes Los es sei, auf einer Künstlerparty in Williamsburg zugeben zu müssen, daß man Volkswirtin ist. " I describe myself as an mathematical artist", sagt er, mit seinem unvergleichlichem, unbezahlbarem indischem Akzent.

Gepriesen...

Email aus New York, Februar 2001

... sei der Tag, an dem der Vermieter in Hell's Kitchen auf die Idee kam, Vladi, Curzio und mich aus der Wohnung zu schmeißen - Williamsburg ist wunderbar! Es vereint alles in sich, was schön ist. An einem Sonnabendmorgen ist die Bedford Avenue wie die Osterstraße. Alle Einwohner, die nicht Künstler sind - also die Polen und ich - laufen eilig von Geschäft zu Geschäft und erledigen ihre Einkäufe oder halten an der Ecke noch einen kleinen Schnack. Das Schöne daran ist, daß man nicht bis ins Schanzenviertel radeln muß, um in ein hippes Kaffee zu gehen oder Second-Hand-Klamotten einzukaufen, denn die sind auch alle in der Bedford Avenue. Des nachts ist Williamsburg wie Ostberlin. Die Gebäude sind ein bisschen heruntergekommen, aber überall schießen kleine Bars, Clubs und Kaffees wie Pilze aus dem Boden. Wenn ich mich nur genug von den Outfits inspirieren lassen, die nach zwölf Uhr im L-Zug von Manhattan in die Bedford Avenue getragen werden, dann habe ich demnächst in der Hamburger Szene die Nase ganz vorne.

Wenn man von mir zu Hause aus ein bißchen in den Süden läuft, landet man in Mexiko und Puerto Rico. Aus allen Läden schallt laute Salsa-Musik und Spanisch ist die Landessprache. Dorthin unternahm ich heute morgen einen kleinen Ausflug, nur um hinterher beim Kaffeetrinken im "Time Out" zu lesen, es sei in der Gegend vor zehn Jahren noch so gefährlich gewesen, daß sich die Künstler immer ganz fest beieinander eingehakten, um sich gegenseitig nachhause zu bringen, wenn sie ihr Atelier verließen. Die Vorstellung hat mir im Nachhinein doch noch einen kleinen Schreck versetzt, zumal ich mir Sorgen um den letzten Künstler mache, den niemand mehr nachhause bringen konnte.

Aufgeheitert in meinen trüben Gedanken wurde ich von einer netten israelischen Künstlerin, die als Kind einen Schüleraustausch nach Hannover gemacht hatte. Meine weitschweifigen Entschuldigungen dafür, daß Hannover nicht das Schönste ist, was unser Land zu bieten hat (wie gut, dass meine Eltern das nicht hören konnten), wies sie empört zurück. Hannover sei beautiful, so schön grün und neighbourhoody. Ha! Was für ein guter Tag!

Hochmotiviert davon lief ich ein paar Straßenzüge in den Norden und fand mich tiefsten Polen wieder. Solche Fleischereien, wie man sie auf der Manhattan Avenue findet, habe ich seit meiner Radtour durch Ostpommern nicht mehr gesehen. Anstatt Telefonkarten kauft man dort kartyie telefonczkie, man ist im restauranczkaia polskaia, und wenn man sich amüsieren möchte, geht man in den club nocznyi.

Eigentlich hatte ich in die hippen Klamotten-Läden gehen wollen, die es in bei uns um die Ecke zu Hauf gibt. Bloß hatte ich nicht mit den Künstlern gerechnet, von denen natürlich niemand vor ein Uhr aufsteht. Da neun- bis zehntausend davon in Williamsburg leben, sind auch die Öffnungszeiten dementsprechend. Lucas weiß schon, warum er mich immer auslacht, wenn ich während der Woche schon um zwölf oder ein Uhr ins Bett gehe. Ich habe mich des amerikanischen Traums bedient, um ihm mein auffälliges Verhalten zu erklären. Ich müsse gut arbeiten, damit es meine Kinder einmal besser haben könnten als ich. Das hat ihn wenig beeindruckt. So wie ich arbeitete, meinte er, würden sie bis hin zu meinen Urenkeln ein besseres Leben haben.

Aber selbst die Einführung der Mülltrennung in unserer WG konnte unser herzliches Verhältnis nicht ernsthaft trüben. Ich wählte einen Kompromiss, und trenne nur Flaschen, Papier und den Rest. Irgendwie hörte ich zu häufig das Wort "loco" aus Lucas' Telefongesprächen mit Argentinien heraust, als wir noch eine Extratüte für Plastik hatten.

Übrigens kann ich jetzt endlich von mir behaupten, ich hätte Placido Domingo in der Met gesehen. Nur unter uns Pastorentöchtern gebe ich zu, daß er dirigiert hat, anstatt zu singen (der Torfkopf!). Ansonsten hätte ich wohl aber auch keine Karten bekommen.

Am Donnerstag habe ich zusammen mit meiner Kollegin Anna zwei PhD-Studenten aus dem ersten Jahr von ihren Ökonometrie-Aufgaben aufgescheucht, um mit ihnen Salsa tanzen zu gehen, oder genauer Son Cubano. Mein russischer Tanzpartner hatte erstens noch nie Salsa getanzt und sah zweitens aus wie ein typischer russischer Intellektueller: groß, dünn und ein bißchen linkisch. So nett er ist, machte ich mir keinesfalls größte Hoffnungen, was das Tanzen anging. Jedoch weit gefehlt! Die russische Seele verschafft einem offensichtlich auch das richtige Gefühl für Rhythmus. Nach einer halben Stunde flogen unsere Hüften nur so, bis Giovanni beeindruckt meinte, noch eine Stunden bei dieser Lehrerin, und Artem und ich würden in Kuba eingebürgert.

Und Washington habe ich ganz vergessen! Ich hatte eigentlich zumindestens so etwas wie Chicago erwartet. Aber obwohl es sehr schnuckelige Ecken und schöne Museen gibt, ist es alles in allem wie Bonn ohne Rheinländer. Dennoch haben Moni und ich uns ordentlich in den Museen gebildet und alles losgemacht, was sich irgendwie losmachen ließ. Sie hatte dort ein gute Zeit, wurde von allen geliebt und auf Händen getragen - wen wundert's? Jetzt sitzt sie für vier Monate in College Station, Texas, und gruselt sich ein bisschen. Sollte sie nicht, sie macht alles richtig. Schließlich werden wir alle von Amerika aus regiert. Und so schön und spannend New York ist, dass Leute wie George W. Bush hier Präsident werden, wird nicht in New York entschieden, sondern in Kalamazoo, Michigan, und College Station, Texas. Wer dort nie gewesen ist, kann die Welt nicht wirklich verstehen.