Mittwoch, 30. Juli 2008

Die ersten Wochen in Paris

Email aus Springe, Dezember 2002


Eigentlich steckt der Brasilienreisebericht an allererster Stelle in der Pipeline und harrt verdrängt durch Wohnungssuchhektik und Eingewöhnung in Paris seit Wochen vergeblich seiner Bearbeitung. Das soll nicht ewig währen. Da dieser Bericht jedoch aufgrund zahlreicher, haarsträubender Abenteuer ein größeres Unterfangen darstellt, will ich mich an dieser Stelle auf das wichtigste Ereignis der Reise beschränken, und danach dem neuesten Stand der Dinge in Paris den Vorrang geben.

Zwar sah es bei unserem Piranha-Fangwettbewerb im Amazonas einen quälend langen und zudem brütend heißen Tag lang so aus, als würde Susi mit einer beeindruckenden Bilanz von 13 zu einem Piranha als strahlende Siegerin daraus hervorgehen, doch konnte ich bei Sonnenuntergang das Ruder mit einem Überraschungscoup in letzter Sekunde noch einmal herumreißen. Ich fing mit einem von Susis mickrigen Piranhas eine riesige Meerkatze, und entlarvte dadurch ihren mit immer deutlicher artikuliertem Triumph aus dem Amazonas gezogene Beute als schlichtes Vorleistungsgut. Ich will nicht näher darauf eingehen, daß Sami, unser Indio-Führer, meinen Fang durch das Erhaschen eines Babyalligators mit bloßen Händen noch am selben Abend etwas relativieren sollte. Das eine oder andere Urlaubserlebnis stellt sich sehr unterschiedlich dar, je nachdem ob Susi es schildert oder ich.

Abgesehen jedoch von kleinen Rivalitäten, waren wir beim Erklimmen des Zuckerhutes wie beim Sambatanzen in den Straßen von Bahia, beim Sonnenbaden an den Traumstränden der Insel Itaparica wie beim Bewundern von Schmetterlingen an den Wasserfällen von Foz do Iguazu, ein Herz und eine Seele. Und das obwohl
es mir in alter portugiesischer Tradition gelungen ist, Susi erneut hinterlistig in die Stockfischfalle zu locken, und ich zudem heimlich schicke Schläppchen im Gepäck hatte, während Susi sich darauf verließ, dass
meine Parole gelte, wir wollten uns auf die bequemen aber unschön anzusehenden Touristensandalen beschränken.

Einmal nach Deutschland zurückgekehrt, musste ich mich umgehend in den schwierigen Pariser Wohnungsmarkt stürzen. Gestählt von meinen Abenteuern mit portugiesischen Herzensbrechern im Großstadtdschungel von Rio de Janeiro und Vogelspinnen im Regenwald gelang mir dies mit derart großer Unerschrockenheit, dass sich auch gestandene Franzosen schwer beeindruckt von meiner zupackenden Art und meinem Durchsetzungsvermögen zeigten. Nun gut, die konnten natürlich auch nicht wissen, dass mich die ukrainischen Onkel durchtriebener georgischer Medizinstudentinnen, die Mäuse und die brutalen Hausmeister von Hell’s Kitchen, wie auch die Wasserkäfer von Williamsburg für alle Zeiten abgehärtet haben. Wer über den Pariser Wohnungsmarkt klagt,
dessen Preise kaum ein Drittel von denen in Manhattan erreichen, und wo niemand auf die Idee käme, eine Einzimmerwohnung mit der Hilfe von Vorhängen in eine gemütliche Vierer-WG zu verwandeln, für den habe ich nur ein müdes Lächeln übrig.

Jedenfalls habe ich mit meiner erfolgreichen Wohnungssuche in nur zwei Wochen sämtliche Kusinen meiner französischen Bekannten ausgestochen, die drei Monate suchen mussten. Außerdem bin ich nach dem
Notieren von etwa 300 Telefon- und Hausnummern wieder richtig stark im Kopfrechnen. Für alte Lateiner, die Franzosen sagen aus nicht nachvollziehbaren Gründen vier mal zwanzig plus siebzehn, wenn sie 97
meinen.

Als eher nachteilig erwies sich, dass das französische Mietrecht - kaum zu glauben aber wahr - noch mieterfreundlicher ist als das deutsche. Genauer ist es ein Paradefall für ein Regelwerk, das im Bemühen um Schutz für den vermeintlich Schwächeren genau das Gegenteil erreicht. Ein wahrer Leckerbissen für die ehemaligen Kollegen vom Recht und Ökonomik Kolleg in Hamburg. Um einen zahlungsunwilligen oder -fähigen Mieter aus der Wohnung zu entfernen braucht man in Frankreich im Schnitt sage und schreibe zweieinhalb Jahre.
Dies führt dazu, dass ein nicht unerheblicher Teil der Pariser Wohnungen unvermietet leer stehen. Der wagemutigere Teil der Pariser Wohnungseigentümer verlangt von seiner Vermietern, auch solchen, die stolzere Summen steuerfreien Lohneinkommens nachweisen können, absurd anmutende Sicherheiten, wie etwa eine Bankbürgschaft über eine Jahresmiete oder einen Elternteil als Bürgen, der seine Zahlungsfähigkeit wahlweise mit
Gehaltsabrechnungen oder mit Einkommenssteuererklärungen zu dokumentieren hat.

Dieses Ansinnen führte zu äußerst unschönen Szenen mit meinem Vater, dem sein Steuergeheimnis so heilig ist wie den Mitgliedern der National Rifle Association das amerikanische Grundrecht auf den Besitz und Gebrauch von Schusswaffen. Seinen vorläufigen Höhepunkt fand diese Affäre in einem heimlichen Anruf meiner Mutter, die mir beteuerte, von ihr könnte ich die Einkommenssteuererklärung haben, wenn nur der Vater nichts davon erführe. Der finale Höhepunkt bestand in einer kaum verhohlenen Kriegsandrohung an
Frankreich, die ich an dieser Stelle nicht im Wortlaut wiedergeben möchte. Im Ergebnis konnte ich mir jedoch die Bürgschaft mitsamt Einkommenssteuerklärung und damit auch eine vor langer Zeit etwas gewagt gestrichene Wohnung im Pariser Szene-Viertel Bastille ertrotzen. Besonders in dem türkischen Haushaltsgeräte-Basar um die Ecke erfreue ich mich als entfernte Kusine größter Beliebtheit und werde bei jedem Besuch zu einem Kaffee genötigt, damit mir der Händler und seine Freunde in aller Ruhe erzählen können, wo überall in Deutschland ihre Verwandten zu Hause sind.

Die ebenso finsteren wie einmütigen Kassandrarufe von franzosenhassenden Amerikanern und Italienern in New York und von in Paris lebenden Ausländern, dass Franzosen arrogante, unhöfliche und verschlossene Leute seien, mit denen man unmöglich Freundschaft schließen könne, sollten sich als ebenso haltlos erweisen wie im Ausland weitverbreitete Vorurteile gegenüber Deutschen. Gewiss geben einem Franzosen, mit denen man sich beiläufig an der Bushaltestelle oder in einer Bar unterhält, nicht gleich ihre Telefonnummer. Noch gewichtiger ist, man lernt sie schlicht nicht so schnell kennen, wie die wesentlich leutseligeren Angelsachsen. Aber das sind wir schließlich von zu Hause gewöhnt. Und das Schöne an ihnen ist, dass sich ihre Kommunikationscodes so ähnlich lesen wie unsere. Will sagen, wenn sie einem doch ihre Telefonnummer geben, dann möchten sie tatsächlich, dass man sich wiedertrifft.

Außerdem sind sie ein anderes, jedoch freundlicheres Vorurteil bestätigend unheimlich culturel. Mit Elise war ich in einer Ausstellung über tschechische Technologiekunst, nachdem wir uns den neuesten Kaurismäki-Film angesehen hatten. Sonntag waren wir mit ihren Freundinnen in einer Ausstellung von einem verrückt gewordenem amerikanischen Künstler, der Skulpturen aus gefrorener Vaseline bastelt, Kartoffeln auf dem Fußboden
verteilt und ein weißgetünchtes Monster mit blutiger Schnauze dabei filmt, wie es eine Prinzessin mit entblößtem Po jagt, deren Unterschenkel aus Glas sind. Das Schöne an solcherart moderner Kunst ist, dass es stets starke
Reaktionen bei Teilen des Publikums hervorruft. Man kann sich darauf verlassen, auf einen empörten Ehemann zu stoßen, der seine Frau wütend anpfeift, dass ihm dies alles rein gar nichts sagen würde und er nicht
wisse, warum er hier seine kostbare Zeit verschwenden solle, während sie ihn anfleht, die Stimme zu senken, weil das alles doch nun wirklich nur eine Frage der Ästhetik sei.

Danach lernten wir im Museumscafé zwei russische Maler kennen, die sich als sehr tolerant erweisen sollten. Meine wahrheitsgemäße Antwort auf ihre Frage nach meinem Beruf - dies nachdem sich alle anderen Frauen als
Buchbinderinnen, Grafikerinnen und Genetikerinnen vorgestellt hatten - taten sie mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Das sei nicht weiter schlimm, das käme in den vornehmsten Familien vor.

Französischen Männern darf man nur grundsätzlich dann trauen, wenn sie in Kultur machen wollen. Also ging ich statt dessen lieber mit Régis in die Max-Beckmann-Ausstellung im Centre Pompidou. Statt Alkoholkonsums schlug er mir danach "Paris by Night" vor. Dieser außergewöhnliche Programmpunkt bestand daraus, dass er mich mit seinem Auto zu den schönsten Plätzen von Paris kutschierte und mir erklärte, dass auf dem Dach der Pariser Oper Bienenstöcke zu Hause sind. Außerdem besuchten wir das Pariser Ritz und eine weiteres Edelhotel, dessen Name mir entfallen ist. Schicke Hotels zu besuchen ist Régis‘ Leidenschaft. Wenn man so gute Nerven hat wie er und herannahenden Kellnern im Livrée lässig bedeutet, man habe sich noch nicht entschieden, während man auf Polstermöbeln aus der Zeit von Ludwig dem Vierzehnten thront und dabei Einbände aus der hoteleigenen Bibliothek durchblättert, dann ist das tatsächlich auch ein großer Spaß.

Im allgemeinen scheint mir das Bemühen um Bekanntschaft mit dem anderen Geschlecht ein nationaler Sport zu sein. Um dies zu erreichen, scheuen die Franzosen keine Mühen und kein Ort ist ihnen heilig. Mein bislang
spektakulärstes Erlebnis auf diesem Gebiet war der hühnenhafte Südfranzose, der mir im Louvre ins Ohr hauchte: „ C‘est magnifique, Botticelli!“. So geschickt er beim ersten Schritt war, so ungelenk zeigte er sich jedoch bei
der weiteren Verfolgung seines Annäherungsversuches. Anstatt eine gekonnte Mischung aus Abstand und Beharrlichkeit zu zeigen, stellte er sich penetrant bei jedem Bild direkt hinter mich, und offenbarte mir intime Details ausseinem Leben. Und so sah ich mich trotz seines angenehmen Äußeren gezwungen, durch geschicktes und unerwartetes Hakenschlagen in den Saal mit der sienesischen Schule, unserer Beziehung bereits nach fünf Minuten ein jähes Ende zu setzen. Jetzt warte ich als nächstes darauf, beim Gottesdienst angegraben werde, während ich gerade das Vaterunser bete.

Mein holländischer Chef hat trotz Vorweihnachtsstress und seines aufwendigen, mehrtätigen Treffens mit Vertretern der statistischen Ämter der Mitgliedsländer einen aufwendigen Plan ausgearbeitet, wie ich mich in den
kommenden Monaten auf Längsschnittfirmendaten stürzen soll, um Firmengründungen, Firmenwachstum und Firmensterben näher zu ergründen. Irgendwann habe ich den Fehler gemacht, dieses Forschungsgebiet als
„business dynamics“ zu bezeichnen, und jetzt bekomme ich regelmäßig Anrufe aus Springe, was es denn nun noch einmal mit dieser dynamischen Geschäftigkeit auf sich habe, mit der ich mich da beschäftigte. Die Nachbarn wollten wissen, was ich da denn nun genau mache in Paris.

Jedenfalls kann ich mir sicher sein, dass ich von meinem Chef fortan mit Samthandschuhen angefasst werde, nachdem sein Landsmann Mortein Schluppen bei einem unserer zahlreichen Weihnachtsessen nach
umfangreichen Konsum französischen Rotweins mit sonorer Stimme verkündete, dass sein Deutschenhass genetisch bedingt sei. Dieser Ausfall war meinem Chef so peinlich, dass er danach in mein Büro kam, um sich wortreich bei mir zu entschuldigen, und das obwohl er ansonsten ein wortkarger friesischer Bär ist, der höchstens mal den Kopf zur Tür hereinsteckt, um zu fragen „so far, so good?“. Aber ich fand, ich hätte mich selbst ganz gut verteidigt, indem ich den Holländer fragte, wie es den Holländern denn eigentlich bei der letzten Weltmeisterschaft ergangen sei, ich könnte mich gar nicht mehr an ihr Abschneiden erinnern.

Dem Engländer, der den 1. September 2001 als den schönsten Tag in seinem Leben bezeichnete, bestätigte ich, dass es gut tun müsse, alle dreißig Jahre mal ein Spiel gegen die Deutschen zu gewinnen. Nur schade, dass dies bei wichtigen Spielen meist auf Fehlentscheidungen der Schiedsrichter beruhe, und echte Triumphe sich nur bei unbedeutenden Qualifikationsspielen einstellen wollen, während man hinterher dann anders als die Deutschen das Endspiel nicht erreicht. Das Fliegen von Fäusten konnte ich dann doch noch einmal verhindern, indem ich davon Abstand nahm, an verschiedene Elfmeterduelle zu erinnern, und statt dessen auf den Sonntagsmarkt am Place de la Bastille zu sprechen kam. Beim Sinnieren über die ideale Zubereitung einer Rascasse konnten Corey und ich dann wieder zueinander finden. Fußballrivalitäten sind im Prinzip sehr gesund, aber man darf es nicht zu weit treiben.


Alles in Butter

Email aus New York, Januar 2001

Seit ich Lulis Schlüssel habe, ist wieder ein bißchen Ruhe an der Wohnungsfront eingekehrt, und ich kann mich mit verstärkter Kraft der Forschung und meinem straffen Kulturprogramm widmen. Am Donnerstag besuchte ich ein Theaterstück in jiddischer Sprache. Während der ersten 15 Minuten fragte ich mich immer verzweifelt, warum Yvonne so blöd lacht - ich verstand kein Wort. Aber nachdem ich mich ein bißchen eingewöhnt hatte, fiel mir auf, daß Schweizerdeutsch wesentlich schwieriger zu verstehen ist, und mittlerweile fühle ich mich so, als spräche ich die Sprache selbst.

Vladis Scheck war wider Erwarten gedeckt, und Curzio und ich wollen auf diesen Schreck demnächst eine Riesenparty schmeißen. Ganz im Unterschied zu mir, die ich wie ein Eichhörnchen in der Trommel gearbeitet habe, um eine neue Wohnung zu finden, ist Curzio bereits umgezogen. Eine nette, junge Japanerin hat sich seiner angenommen und ihm innerhalb von einem Tag ein Zimmer in einem Künstlerloft am Southstreet Seaport mit vier Japanern zusammen besorgt. Ich werde das Gefühl nicht los, daß die, die sich nie um irgendetwas kümmern, immer besser dabei wegkommen. Er beharrt auch darauf, daß dieser Freundschaftsdienst umsonst war.

Hell's Kitchen muß ich zum Glück nicht ganz aufgeben, da ich mich in letzter Sekunde noch mit Sean und Theo angefreundet habe, die in meiner alten Heimat wohnen. Sean ist Designer, Theo ist IT-Mann und kennengelernt haben sich die beiden beim Malunterricht. Sie gehören zu dieser Gruppe von Bohemien-Ostküstenamerikanern, die alle mindestens schon mal zwei Jahre lang in Prag gelebt haben und in jedem zweiten europäischen Land mit einer Frau liiert waren. Von den beiden habe ich bereits eine Menge über deutsche Kunst gelernt.


Trotzdem war ich froh, daß sie bei meinem Abschiedsspätzleessen verhindert waren - mir ist der Albtraum einer jeden Hausfrau widerfahren: Sechs hungrige Münder diskutierten im Wohnzimmer Rassismus, und ich war nicht in der Lage, den Teig so anzurühren, daß auch nur ein einziges Spätzle entstand. Nur Hartmuts geduldiger Assistenz habe ich es zu verdanken, daß ich meine Gäste noch mit einem Plan B Abendessen notdürftig satt bekam.

Conrad Filippi will mich allerdings nun nicht mehr heiraten, seit er dieses Trauerspiel gesehen hat. Ich hoffe, ich habe heute abend ein glücklicheres Händchen. Zu Federico soll jeder ein Gericht aus der Heimat mitbringen. Mit einer Roten Grütze will ich nun versuchen, energisch gegen italienische Pasta-Gerichte und mexikanische Vorspeisen anzukämpfen.

N. ordnete übrigens neulich beim Mittagessen an, daß die Deutschen sich endlich mal von ihren Zweite-Weltkriegsschuldkomplexen freimachen, die Franzosen in Schach halten, die Russen wachküssen und so eine ernstzunehmende Konkurrenz für die USA werden sollen. Na dann mal los! Mein täglicher Blick in die deutsche Online-Presse sagt mir, daß wir uns von dieser Aufgabe vor allem durch die verschiedenen Vaterschaften eines bekannten deutschen Tennisspielers ablenken lassen...


Dienstag, 8. Juli 2008

Super-Geschäftsfrauen

Email aus New York, Januar 2001

Heute ist Martin Luther King Day und somit ist es nicht ganz politically correct zu arbeiten, aber ich habe mich trotzdem heimlich ins Büro geschlichen. Ich übernachte zur Zeit bei einer Freundin, die fünf Minuten von der Uni entfernt wohnt. Auf die Art und Weise vermag ich mich der magischen Anziehungskraft meines Schreibtisches nicht zu entziehen.
Die Wohnung haben wir an Onkel Vladimir übergeben, und neben dem Scheck über den Großteil der letzten Monatsmiete, den ich mir mit gepfefferte Emails erkämpft hatte, fingen wir uns zusätzlich noch Küsse, Umarmungen und Unschuldsbeteuerungen von Vladi und Marina ein.
Das vorletzte Wochenende war noch sehr interessant. Am Sonnabend kochten Helena und Hans Kartoffelauflauf für mich, um mich über meine brenzlige Situation hinwegzutrösten, was ich gleich zum Anlaß nahm, ihren Freund Jonathan die halbe Nacht quer durchs East Village zu schleppen, um eine meiner berühmt-berüchtigten Geburtstagsfeiern mit den lesbischen Damen aus Israel zu feiern. Das ganze geschah etwas in Verkennung der Tatsache, daß Jonathan die Nacht zuvor bis sechs Uhr gearbeitet hatte und auch den nächsten Tag im Büro verbringen mußte. Aber was uns nicht tötet, macht hart. Jedenfalls war ich die Heldin des Abends mit meiner kombinierten Mäuse-und-Wohnungs-Geschichte und in meinem ganzen Elend habe ich das doch sehr genossen. Sonntags leitete ich dann einen Telefonmarathon ein und lernte dabei allerhand interessante Menschen kennen.
Zuerst war ich bei Amanda im East-Village. Sie lebt in einer Drei-Zimmerwohnung mit einer beeindruckenden Ansammlung an Kitsch. Ein Zimmer hatte sie bereits an einen jungen Studenten vermietet. Mich wollte sie in ihrem Schlafzimmer unterbringen, um dann selbst im Wohnzimmer auf der Couch zu schlafen. Davon wußte der junge Mann zwar nichts, aber es sei ja ihre Wohnung meinte sie. Das ganze sollte dann auch nur 1000$ im Monat kosten.
Als wir uns mit den Terminen (und im übrigen auch sonst) nicht einigen konnten, rief sie ihren Freund Gianni an. Der ist ein italienischer Filmproduzent und lebt in der Upper East Side. Zur Zeit scheinen seine Geschäfte nicht so gut zu laufen. Er wollte mir ebenfalls sein Schlafzimmer für 1000$ vermieten und sich selbst auf eine Luftmatratze in den Gang legen. Ein zweites Zimmer hat er nicht, und einen Herd schon gar nicht. Amanda hatte mich noch eindringlich gewarnt, mich nicht in ihn zu verlieben. Er sei "extremely good-looking" und ein wahrer "womanizer". Auch diesbezüglich fand ich ihn jedoch eher enttäuschend.
Abends gelang es mir endlich Luli zu erreichen, die in Williamsburg, Brooklyn's neuem Künstlerviertel, ein WG-Zimmer vermietet, während sie für zwei Monate in ihre Heimat fährt. Sowohl das äußere Erscheinungsbild der Wohnung als auch das ihres Mitbewohners und Schulfreundes, Lucas, veranlaßten mich dazu, bei dieser Wohnung sofort zuzuschlagen. Moni, Daniela und Tim wird freuen zu hören, daß die Wohnung DIREKT neben dem "Fernicola" ist, wo wir Sylvester gefeiert haben. Mit anderen Worten, ich habe von meinem Schlafzimmer aus einen Blick auf die Skyline von Manhattan und kann jeden Abend Hummer und Austern essen.
Luli ist aus Buenos Aires, und lernt in New York Singen und Hip-Hop-Tanzen, denn sie möchte ein Popstar werden. Das will ihrer Mutter nicht so recht passen, denn sie hat eine Damenbekleidungskette in Argentinien, und möchte daß Luli so wie ihre Schwester mit in dem mütterlichen Unternehmen arbeitet. Das will Luli wiederum nicht, denn sie macht nicht gerne Geschäfte.
Wir verstehen uns wunderbar. Besonders als wir uns das zweite Mal trafen, um einen kleinen Untermietvertrag aufzusetzen, arbeiteten wir sämtliche Details unseres Lebens gemeinsam auf. Diese ganze Untermietsvertragssache und die Anzahlung meinerseits war eine Idee von Lucas, damit die beiden sichergehen können, daß ich auch wirklich bei ihnen einziehe. Luli zeigte mir beim Hereinkommen den handschriftlichen Mietvertrag, ich war sofort einverstanden, dann haben wir uns ein bis zwei Stunden zum Quasseln hingesetzt, und waren uns einig, daß wir ganz großes Glück hatten, uns gefunden zu haben. Am Ende schrieb ich ihr ein Scheck und sie mir eine Quittung, auf der allerdings nicht steht, wofür ich ihr 200$ gezahlt habe. Luli war dann mächtig stolz, meinte, sie fühlte sich jetzt wie eine wahre Geschäftsfrau und müsse das sofort ihrer Mama erzählen.
Ich hoffe sie hat damit noch ein bißchen gewartet, denn auf dem Weg zur U-Bahn fiel mir auf, daß keine von uns den Vertrag unterschrieben hatte. Wie auch immer, wenn dennoch alles gut geht, und ich am 24. nach Brooklyn ziehe, ist meine Miete gesunken, die Qualität meiner Wohnung ERHEBlich gestiegen und mein Mitbewohner noch schöner geworden.
Curzio rührt wie immer keinen Finger, ist jetzt aber erst einmal bei seiner Tessin-Mafia eingezogen, und weckt allerorten Mutterinstinkte. Am Sonnabend traf ich ihn zufällig am Southstreet Seaport, im Schlepptau einer netten Japanerin, die ihm augenscheinlich die Wohnungssuche organisiert. Es tut uns beiden sehr leid, Hell's Kitchen zu verlassen, aber wir haben uns geschworen, regelmäßig bei Salvatore Pizza zu essen und bei Rudy's Bier zu trinken.
Das größte Opfer unseres Umzugs wäre beinahe unser alter Freund und Gerzenseekollege Conrad Filippi geworden, der ausgerechnet am Wochenende unserer Expulsion Vorstellungsgespräche in New York hatte, und eigentlich am Sonnabend gerne vom Marriott zu uns umgezogen wäre. Nachdem wir Freitag die ganze Nacht Swing getanzt hatten, ordnete ich an, daß er uns am Sonnabend um halb eins in der Wohnung anrufen sollte, um die Nummer von Jeanette zu erfahren. Leider hatte ich halb zwei gemeint, und als er um halb eins anrief, war natürlich keiner von uns da. Ich meinte schon, ihn nie wiederzusehen, aber Manhattan ist ja klein, und so traf ich ihn dann abends doch noch per Zufall wieder, als er seine Koffer im Hotel abholen wollte, so daß wir noch den einen oder anderen Drink im East Village zu uns nehmen konnten.
Wenn das alles kein Glück im Unglück ist...